Das Unheil von Ljowicha

Die Geschichte eines schrecklichen Fundes

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PHOTOGRAPHIE Stanislav Krupař

 

Auf nackter Erde liegen die Kinder, nicht geboren und nicht begraben. Sie haben die Hände über die Augen geschoben, als blende sie das Licht. Die Fingernägel, dünn wie Seidenpapier. Ihre Beine haben sie angezogen, die Knie ganz bis zum Bauch. Durch die Wipfel des Birkenwaldes fällt die Sonne auf viele Dutzende von ihnen. Die Kleineren liegen zwischen den Größeren, ihre Körper sind ineinander verhakt. Es ist der 23. Juli 2012, früher Morgen, Provinz Swerdlowsk in Zentralrussland. Die sanften Höhen des Ural. An diesemTag fahren zwei junge Männer aus dem Nachbardorf an der Lichtung vorbei. Sie sind im Wald auf ihren Mofas unterwegs, wollen fischen, in den Bächen, illegal, nicht mit der Angelrute, sondern mit dem Netz. Als sie auf der Lichtung vier blaue Plastikfässer sehen, öffnen sie eines, um es mit gefangenen Hechten zu füllen.

Im Dorf Ljowicha, sieben Kilometer entfernt, 3102 Einwohner, eine Arbeitersiedlung auf einer Anhöhe im Wald, trauen sich die Jungs nicht von ihrer Entdeckung zu erzählen. Ihre engsten Freunde beugen sich über die Bilder ihrer Handykameras. Sie sind einiges gewöhnt in Ljowicha, aber so etwas haben sie noch nie gesehen. Sie vermuten ein entsetzliches Verbrechen. „Wir dachten, da hat jemand Säuglinge umgebracht“, sagt Sergej Tweretinow, 20. Die Freunde zögern. Jeder hat seine Gründe, die Polizei zu meiden. Die beiden Entdecker haben gewildert, und Tweretinow versteckt sich im Dorf seit zwei Jahren vor dem Militärdienst. Doch er ist es dann, der einen Tag später die Behörden in der Kreisstadt Newjansk anruft. So nimmt einer der seltsamsten Skandale der neueren russischen Geschichte seinen Anfang.

248 Föten zählen die Forensiker der Kriminalpolizei in den nächsten Stunden auf der Waldlichtung. Männer in Uniform greifen mit Gummihandschuhen ins Gras, sie haben Pappkartons mitgebracht, die sie mit weißem Papier auslegen. Es stellt sich rasch heraus, dass die meisten Föten nach der zwölften Schwangerschaftswoche abgetrieben worden waren. Das ist in Russland die Grenze für legale Abtreibungen. Die mit Kindern gefüllten Kartons stellen die Polizisten an den Wegesrand, für den Abtransport. Aus dem ganzen Land eilen Journalisten und Kamerateams an den Fundort. Erst die Medien aus der Provinzhauptstadt Jekaterinburg, dann auch aus Moskau. In der Duma, dem russischen Parlament, debattieren Abgeordnete über den Fund von Ljowicha. Der Patriarch der orthodoxen Kirche beklagt die „Degenerierung der Gesellschaft“. Das kleine Dorf trifft die große Nation an einem empfindlichen Punkt.

Der Ermittler, der rasch Erklärungen für das Grauen finden soll, ist Major Rustam Galjamnurowitsch Sinurow, 41. „Ich weiß mir nicht mehr zu helfen“, sagt er am Ende diesen Sommers. Er sitzt hinter seinem Schreibtisch und schüttelt den Kopf, ein freundlicher Mann, Kastenbrille und kantige Schultern. Die Staatsanwaltschaft in der Provinzhauptstadt Jekaterinburg hat ihn vor wenigen Tagen öffentlich gemaßregelt. „Sie sagen, sie seien unzufrieden mit dem Tempo der Ermittlungen.“ Die Suche des Majors ist nichts Geringeres als der Versuch, dem Land seine Selbstachtung zurückzugeben. Die Polizei soll den Menschen den Ekel vor sich selbst nehmen. Sinurow, der weiß, wie unmöglich seine Aufgabe ist, lächelt müde. Er ist ein bewährter Polizeikommissar, war in Tschetschenien im Einsatz, hat gegen die Mafia in den 90er Jahren gekämpft. Er trägt selten Uniform und meistens Zivil. Vor ihm liegt jetzt die Akte des Ermittlungsverfahrens mit der fortlaufenden Nummer 122 038 350. „Was soll ich denn noch mehr tun?“

Die Angst verfolgt das Land seit dem Ende der UdSSR. Russland löst sich auf. Es schwindet an den Rändern, im Westen, wo 1991 halb Osteuropa von ihm abgefallen ist. Im Süden musste die Grenze um tausend Kilometer zurückgenommen werden. Und Russland schrumpft im Innern. Seine Bevölkerung nimmt so schnell ab wie in kaum einem anderen Land der Welt. Seit 1996 ist sie um sieben Millionen gesunken, das ist die Einwohnerzahl der Schweiz. Den Prognosen zufolge wird sie von heute 142 Millionen bis zum Jahr 2050 auf 100 Millionen zurückgehen. 2080 werden es nur noch 52 Millionen Bürger sein, warnt der frühere Vorsitzende des Förderationsrates, Sergei Mironow. „Ein so großes Territorium kann man mit so einer Bevölkerung nicht halten. Das bedeutet das Auseinanderfallen des Staates.“ Westliche Hedgefonds warnen, weil Russlands Binnenkaufkraft schwinde. Es gibt viele Gründe für den Rückgang, der Alkoholismus, die sinkende Lebenserwartung, eine der wichtigsten aber ist die Zahl der Abtreibungen. Knapp eine Million Schwangerschaftsabbrüche zählten die Behörden fürs vergangene Jahr und 1.8 Millionen Geburten. Es ist, als sei diesem Land ein großes Mahlwerk eingebaut, das es von innen heraus zerstört.

Es führen Reifenspuren zu der Lichtung im Birkenwald, aber es sind zu viele, sie führen die Ermittler ins Nichts. Die Monate Juli und August sind Saison für Pilzsammler, auf den Waldwegen herrscht reger Verkehr. Die einzigen Anwohner, die 200 Meter entfernt vom Fundort wohnen, erklären den Polizisten, sie haben nichts gesehen. Sinurows Beamte entdecken, dass einzelne Föten winzige Papierzettel an Armen und Beinen tragen. In unterschiedlichen Handschriften sind darauf Familiennamen und einstellige Nummern vermerkt. Sinurow bildet eine Sonderkommission aus 25 Männern. In den nächsten zwei Wochen überprüfen sie sämtliche Krankenhäuser und Kliniken im Umkreis von 100 Kilometern. Sie werden nicht fündig, alle Hospitäler bestreiten, etwas mit den Leichen im Wald zu tun zu haben. Die Föten stammten nicht von ihnen.

Im Dorf riecht die Luft mittlerweile nach Schnee. Die letzten frostfreien Tage. Es sind drei Monate seit der Entdeckung der toten Kinder vergangen. „Die armen Kleinen“, seufzt die zweifache Mutter Alla Usacheva, 28, die in ihrer Küche den Abwasch erledigt. „Weiß man schon, was ihnen angetan wurde?“ Am Esstisch sitzt Kolja, ihr Mann und der einzige Dorfpolizist von Ljowicha. Um nach dem Skandal zu zeigen, dass der Staat etwas tut, hat ihn Sinurow auf diesen unbeliebten Posten versetzt. Er war jahrelang vakant. Kolja, bisher bei der Verkehrspolizei, schien eine gute Wahl. Er wohnt seit Geburt in Ljowicha. „Sinurow kommt nicht weiter“, sagt Kolja zu seiner Frau. „Ich habe gehört, er hat einen Verweis bekommen.“ Er löffelt seine Suppe. „Unser Dorf kriegt den ganzen Müll ab“, ruft Alla, mit beiden Händen im Spülbecken. „Diese Babys. Die Alkoholiker. Die ermordeten Huren. Den ganzen Dreck der Stadt.“

Es ist ja erst vier Jahre her, da stieß die Polizei in der Nähe von Ljowicha auf ein anderes Massengrab.

Nur drei Kilometer von der Stelle entfernt, wo die Föten im Wald gefunden wurden, lagen damals 15 tote Mädchen in einer Grube. Einer aus dem Dorf, „Edik“, der mit Kolja zur Schule gegangen war, hatte minderjährige Mädchen entführt, sie zur Prostitution gezwungen und schließlich am Rande des Dorfes im Wald verscharrt. Die Jüngste war erst vier Jahre und seine eigene Tochter. Edik hatte sie missbraucht, an Pädophile vermietet und später ermordet. Zur Erinnerung daran ist am Straßenrand ein vier Meter hohes Kreuz aufgestellt worden.

Das Dorf Ljowicha befindet sich im Zentrum der schlimmsten Verbrechen der letzten Jahre, das ist einerseits Zufall und andererseits auch nicht. Alla ist eine von zwei Frauen in Ljowicha, die in diesen Tagen erfahren, dass sie schwanger sind. Die November-Nachmittage verbringt sie über Möbelkatalogen. Sie sucht nach einem neuen Kinderbett. Es ist ein Wunschkind.

Die zweite Schwangere ist Swetlana, 20, auch sie ist im ersten Monat, nur weiß es noch niemand. Ein Unfall. Sie studiert Sozialpädagogik an einer Eliteuniversität in der Provinzhauptstadt Jekaterinburg. Jeden Freitag setzt sie sich in den Bus, versunken in Lehrbüchern, und besucht Mutter und Freund im Dorf. Klein und zierlich, große Augen und Sommersprossen. „Ich liebe Kinder“, sagt sie. „Aber meine Mutter wird es nicht akzeptieren.“

„Swetlana“, habe die Mutter sie zu Beginn des Studiums ermahnt. „Es gibt nur eine Regel: Werde nicht schwanger!“ Die Mutter, 39, will, dass es die Tochter einmal besser hat. Swetlana nicht die gleichen Fehler macht, die sie einst begangen hatte. „Meine Mutter glaubt, sie hat mich zu früh bekommen“, weiß Swetlana. Die Schwangerschaft hatte ihre Mutter mit 19 Jahren aus dem Studium gerissen, der heute wie damals einzigen Chance, dem Dorf zu entfliehen. Nie sollte sie aus Ljowicha herauskommen. Bloß Buchhalterin ist sie geworden, obwohl sie es viel weiter hatte bringen wollen. Die Beziehung zu Swetlanas Vater zerbrach an ihrer Bitterkeit. Sie spart sich alles von ihrem Buchhaltergehalt ab, nur um ihrer Tochter das Studium zu finanzieren, die Uni und das Zimmer. Die Karriere des Kindes ist ihr später Triumph. An diesem Wochenende will Swetlana nach Ljowicha fahren und es ihr beichten. Dass sie ihre Hoffnungen enttäuscht hat. Dass sie schwanger ist und das Baby will.

„Es ist da ja schon Leben in meinem Bauch, ich fühle es. Vielleicht kann es sogar schon denken?“ Irgendwie wird sie es schaffen, die Mutter zu überzeugen.

Nur weiß sie noch nicht wie.

Im Russischen tragen Orte wie Ljowicha einen besonderen Namen. Sie heißen „monogorod“, Mono-Städte. Es gibt in der Föderation über 900 größere von ihnen, darüber hinaus viele kleinere, Heimat eines Sechstels der Bevölkerung. Ihre Existenz hat eine einzige Ursache, ein Hüttenwerk, eine Maschinenfabrik. In Ljowicha war es die Kupfermine. Der ganze Grund ihres Seins. Die Erbauer des Ortes haben in den 40er Jahren großzügige Straßenachsen über die Anhöhe gezogen, diese mit stattlichen Wohnhäusern versehen und das Zentrum mit einen prächtigen Kulturpalast geschmückt. Unterirdisch umfangen die Stollen den Ort von allen Seiten. Sie nährten Ljowicha, wie Wurzeln einen Baum nähren. Im März 2003 wurde das Bergwerk geschlossen, aus mangelnder Rentabilität, wie die meisten Minen in der Gegend. Im Oktober 2003 hat das Elektrizitätswerk den Strom für die Pumpen abgeschaltet. Ljowicha konnte seit Längerem die Rechnungen nicht mehr begleichen. Das Grundwasser zerstörte in wenigen Wochen, was vier Generationen in 70 Jahren aufgebaut hatten. Bis zum Schachtrand lief die Mine voll. Ljowicha hat in den letzten 20 Jahren mehr als 14 000 Einwohner verloren. Heute leben hier noch 3102 Menschen. Die Bezirksbehörde beschloss den Ort herabzustufen, von Stadt, die er einst war, zur Siedlung.

Kolja, der werdende Vater, fährt mit seinem Privatwagen auf Patrouille durch die Gemeinde. Die Polizei kann ihm aus Kostengründen keinen Dienstwagen stellen. In vier Wochen bat Kolja schon zweimal um seine Versetzung. Aus mangelnder Eignung. Sinurow lehnte jedes Mal ab. Heute haben ihn Anwohner zu einem verfallenen Haus am Ortsrand gerufen. Da soll ein obdachloser Säufer wohnen. Die Nachbarn haben Angst, dass er im Suff ein Feuer auslöst. Kolja steigt aus den Wagen, umrundet das Blockhaus, damit der Obdachlose nicht aufschreckt. Das Dach ist eingestürzt, Gras wächst aus dem Boden. Hinter der Bania-Hütte, der Sauna, sieht er einen Haufen leerer Schnapsflaschen. Er klopft an die Tür.

„Was hältst du davon, dass ich dich in ein Heim fahre?“, fragt Kolja in der Hütte. Er spricht leise, zart, mit sanfter Stimme. Ein Mann mit nikotingelben Bart hockt auf einem Schlafsack, ein Roman liegt auf dem Fenstersims, darauf seine Brille. Mit großen Augen starrt er den Polizisten an, der sich zu ihm auf den Boden setzt. Kolja sieht auf das ausgestreckte Bein des Mannes, es ist bandagiert. Ein schlechter verheilter Bruch. Entzündet. Der Mann hat Angst ins Krankenhaus zu gehen, denn er leidet auch noch Tuberkulose. „Im Krankenhaus stecken die mich in Quarantäne, da ist mein Bruder vor ein paar Monaten umgekommen.“ Er wird, fürchtet Kolja, den Winter nicht überstehen. Er will in Ljowicha ein Ersatzquartier finden.

„Siehst du?“, zeigt eine Frau beim nächsten Hausbesuch auf ihr linkes Auge. Es ist schwarz geschlagen. Wieder steht Kolja in einem heruntergekommenen Blockhaus. Der letzte Besuch, bevor er zurück nach Hause fährt. Die Frau ist am Vortag zu ihm auf die Wache gekommen, weil ihr Gefährte sie verprügelt und ausgesperrt habe. Gestern hat er ihn ermahnt, heute schaut er, ob der Frieden hält. Schnell muss er am Eingang vorbei, der Kettenhund schnappt nach ihm. Die Kette ist etwas zu lang. „Tust du es wieder?“, fragt er den Mann, Mitte 40, der kaum auf den Beinen stehen kann. Er stammelt, presst Worte aus einem geschwollenen Hals, Kehlkopfkrebs vielleicht, die Trinkerkrankheit. „Alles-ist-gut.“ Sein Nacken ist von den Fingernägeln seiner Freundin blutig zerkratzt. Auch sie nicht nüchtern. „Nimm ihn mit“, schreit die Frau. „Ich brauch ihn nicht mehr.“ Sie weint. Er geifert. „Ich bring dich morgen in die Trinkeranstalt“, droht ihm Kolja. „Morgen bin ich schon tot“, sagt die Frau. „Sobald du aus der Tür bist, wird er mich schlagen.“ Kolja verspricht am Abend vorbei zu schauen, setzt sich in sein Auto und fährt heim. Er wird weder abends noch am nächsten Tag sein Versprechen halten. Kolja ist ihrer müde, dieser Paare, die sich schlagen und eine halbe Stunde später weinend umarmen.

„Ich schaff das nicht“, sagt der Polizist später in seinem Büro. „Ich bin zu zurückhaltend, mich respektieren die Leute zu wenig. Ich bin nicht der Richtige dafür.“ Er hat seit drei Tagen nicht mehr richtig geschlafen. Notfälle immerzu. Das ganze Dorf, so scheint es, lastet allein auf Koljas Schultern.

 

Inzwischen verzeichnet der Ermittler Sinurow seinen ersten Erfolg. Es gelingt ihm, die Föten zum „Kinderkrankenhaus Nummer 9“ in Jekaterinburg zurückzuverfolgen. Ein grauer Plattenbau am Stadtrand. Zur Hauptpforte führt ein Weg aus Matsch. Ein verwilderter Park drum herum. Die Sonderkommission von Sinurow prüft die Aktenbestände. In ihnen finden sich einige der Namen wieder, die den Toten auf die Zettel geschrieben waren. Doch sind die Papiere lückenhaft, sie geben keine Auskunft darüber, wann woher und wie die Abgetriebenen hierher kamen. Das Krankenhaus Nummer 9 besitzt eine pathologische Abteilung zur Untersuchung von Föten und Fehlgeburten. Normalerweise werden ihre Körper anschließend dem Krematorium übergeben, deklariert als „organischer Abfall, Stoffgruppe B“. Kategorie D steht für Nuklearmüll, G für giftig, A für harmlos, B für möglicherweise infektiös.

Die Spur der 248 Ungeborenen führt die Polizisten sehr bald vom Kinderkrankenhaus in den Keller der Medizinischen Akademie des Urals. Das Institut liegt im Stadtzentrum von Jekarterinburg und bildet Ärzte für die gesamte Region aus. Als Studienobjekte deklariert, waren die Föten vom Krankenhaus Nummer 9 zur Akademie transportiert worden. Die Sonderkommission findet auch dort keine vorschriftsmäßigen Unterlagen. Welche Art von Untersuchungen an den Toten vorgenommen wurden, ist nicht bekannt. Ebenso der Zeitpunkt, wann sie dort eingelagert worden waren. Als im Sommer der Keller renoviert wurde, verschwanden die Föten plötzlich. Zunächst leugnete der Direktor der Akademie. Später gestand er ein, dass sein Institut die Föten in Besitz hatte, beschuldigte aber eine kurz zuvor gefeuerte Ärztin, die Toten gestohlen zu haben. Sie habe das Material für private Forschungen nutzen wollen. „Die Aussage hat er jetzt zurückgenommen“, sagt Sinurow. Ein Mitarbeiter der Akademie erklärte den Ermittlern mittlerweile, dass tadschikische Gastarbeiter, illegale Migranten - denen in Russland gerne vieles unterstellt wird - die Föten aus dem Keller geräumt und auf unbekannte Weise entsorgt hätten. Just an dem Tag, an dem Sinurow einen Beamten in die Akademie schickt, um mit den Tadschiken zu reden, fängt dort eine Kolonne neuer Tagelöhner an. Die Personalien ihrer Vorgänger lassen sich nicht mehr ermitteln. Es gibt wieder gibt keine Zeugen. Die Spur verliert sich.

Als ein Team von Fernsehjournalisten am Fundort bei Ljowicha dreht, stoßen sie im Gras auf weitere drei Föten. Die Polizei hatte sie übersehen. Das ist nicht gut für Sinurow. Wieder gibt es Kritik am Kommissar.

Die Mutter steht am Herd, Makkaroni köcheln im Topf, Swetlana sitzt auf der Küchenbank, den Blick auf Mutters Rücken, als sie sich sagen hört. „Ich bin schwanger.“ Swetlana kann sich hinterher an alle Einzelheiten erinnern, sogar an das Geräusch des kochenden Wassers. Ihre Mutter reagiert nicht, noch einmal sagt Swetlana:
„Ich bin schwanger.“
Den Topf Nudeln in der Hand, erzählt Swetlana, dreht sich die Mutter langsam zu ihr um, ungläubig. Zwei Stunden sitzen sie dann zusammen, die Mutter redet, mit verschränkten Armen, Swetlana weint, die Makkaroni bleiben ungegessen. Zwei Stunden predigt die Mutter, dass sie nicht den gleichen Fehler machen dürfe, wie sie selbst. Sie erklärt ihr, warum ein Kind unmöglich ist, dass es sie in ihrer Karriere zurückwerfen wird, es unbezahlbar ist, jemand anders dann dafür finanziell aufkommen muss: dass Swetlana abtreiben muss. Und Swetlana widerspricht nicht. Sie sagt nicht, dass der Vater, ihr langjähriger Freund, zu ihr steht und das Kind will. Sie sagt nicht, dass sie es auch will. Ihre Kraft reicht nur dazu, am Ende um einen Aufschub zu bitten. Eine Woche, bis zum nächsten Besuch in Ljowicha.

Am Abend geht Swetlana aus dem Haus ihrer Mutter, den Rucksack voller Schweinefleisch. Sie kann ihn kaum tragen, so viel Mutterliebe ist in ihm. Zurück in ihrem Studentenzimmer in Jekaterinburg versucht sie zunächst Fassung zu bewahren, weint dann aber mehr, als das sie spricht. „Ich habe alles falsch gemacht. Ich habe es ihr zum unpassendsten Zeitpunkt gesagt. Ich habe die ganze Woche überlegt, wie ich es meiner Mutter sagen soll.“ Sie wollte Stichwörter auf ein Blatt Papier schreiben, darauf alle Argumente aufführen, weswegen sie das Kind bekommen könnte. Dann verwarf sie die Idee. „So unterhältst du dich nicht mit deiner Mutter.“ Eigentlich hatte sie sich vorgenommen, es ihr gleich nach ihrer Ankunft in Ljowicha zu sagen, da sah sie Mutter an der Bushaltestelle, so glücklich, dass Swetlana es nicht übers Herz brachte. „Ich habe mit meiner Mutter bisher nur zweimal in meinem Leben ernsthaft gestritten“, sagt die 20-Jährige. Das letzte Mal, erinnert sie sich, da sei sie acht Jahre alt gewesen.

Ist es möglich, überlegt Swetlana, dass sie nur in Teilzeit weiterstudiert? Das bringe ihr dann nicht den angesehensten Studienabschluss, aber immerhin einen Abschluss. Auch die Familie ihres Freundes sei in der Lage, sie zu unterstützen. Ihre Mutter werde sich beruhigen, ist sie sich sicher. „Die ist 14 Tage lang wütend, aber wenn sie die Ultraschallbilder sieht, wird auch sie das Kind wollen.“ Swetlana sammelt Kraft für das entscheidende nächste Wochenende.

Auf der Lichtung im Wald, wo sie im Sommer die Föten fanden, rammen orthodoxe Bischöfe ein Holzkreuz in die Erde. Sie tragen in einer großen Prozession ein Ikonenbild vor sich her und nageln es auf das Kreuz. Jesus breitet darauf seine Hände aus und hält sie schützend über eine Schar von Kindern. „Gott zeigt uns unsere Sünden!“, deklamieren Abtreibungsgegner aus der Stadt. In der Kirche der Kreisstadt Newjansk hat die Jesus-Ikone vor einem Jahr zu weinen begonnen, sagen die Gläubigen. Ein Wunder. Mit dem Fund der Föten seien die Tränen wieder versiegt. Der Skandal ist längst ein Politikum. Die orthodoxe Kirche nutzt ihn für ihre Zwecke. Im ganzen Land drängt sie in das Vakuum, das der Sozialismus hinterließ und der Kapitalismus nicht füllen kann. Präsident Putin wächst immer mehr mit der Priesterschaft zusammen. Beide profitieren voneinander, die Kirche bekommt ihren Zaren, der Zar bekommt seine Legitimität.

Die Ermittlungen des Majors Sinurow geraten abermals ins Stocken, er wird nervös. Dieser Fall, das spürt er, könnte seiner Laufbahn gefährlich werden. Ein dummer Zeitpunkt, Sinurows Töchter sind 13 und 19 Jahre alt. Die ältere geht auf eine Eliteuniversität, die jüngere hat es noch vor. Das kostet Geld. „Was will man von mir!“, hebt er die Arme hinter seinem Schreibtisch. Er würde gerne die Büros der Krankenhäuser durchsuchen lassen, darf es aber nicht. „Es gibt in diesem Fall kein Verbrechen. Ich leite hier nur ein Verfahren wegen Ordnungswidrigkeit.“ Bisher existierten keine Beweise, dass die Kinder illegal abgetrieben worden seien. Die meisten der Föten seien zwar wesentlich älter als die gesetzliche Grenze von zwölf Wochen. In medizinischen und sozialen Ausnahmen seien aber auch nach dieser Frist Abtreibungen erlaubt. Doch die Öffentlichkeit fordert Erklärungen. Die Empörung ist groß, als bekannt wird, dass Sinurow offiziell nur wegen „Verschmutzung des Erdreiches“ ermittelt. In Ljowicha ist durch die Abräumhalde der Mine weiträumig fast alles Erdreich mit Schwermetallen vergiftet. Das Wasser der Seen und des Flusses ist säurehaltig, der Fischbestand gestorben, und das Trinkwasser aus dem Hahn krebserregend geworden. Und jetzt ermittelt die Polizei, weil tote Kinder giftigen Sondermüll darstellen? Und nicht wegen illegaler Abtreibung? Wegen Handels mit menschlichen Leichen?

Die ersten Frostnächte legen eine dünne Eiskruste über das Dorf. Mit gespreizten Armen rutschen die Menschen durch die Straßen. Hinter Eisblumen sitzt der Gemeindebürgermeister Igor Sergewich in seiner Amtsstube. Im Regal sind Metallerze ausgestellt, von denen Ljowicha einst lebte. „Unsere Zeit wird wieder kommen“, sagt der 36-Jährige, der eigentlich Bergbauingenieur ist und Ljowichas letzter Minendirektor. „Die werfen bei uns die Toten ab, weil sie denken, wir sind auch schon tot.“ Er ist einer von den wenigen, die die Siedlung noch nicht verloren geben. Ein Mann, der es verinnerlicht hat, in der Grube den Kopf einzuziehen, sich heute noch duckt, beim Laufen, sogar beim Sitzen. Er hat Augenbrauen, kräftig wie eine Querverstrebung. Ein halbes Jahr nach der Schließung des Schachtes seien die Kupferpreise weltweit von 1500 Dollar die Tonne auf bis zu 10000 Dollar gestiegen. „Die Mine wäre heute rentabel.“ Ganz knapp hat Ljowicha seine Wiedergeburt knapp verpasst, auch 2008, als die Metalloinvest Holding, Russlands größter Bergbaukonzern, erneut die Inbetriebnahme plante. „Ich hatte schon ein Team von 30 Fachleuten, wir hatten unsere alten Büros bezogen.“ Dächer der Minenanlagen wurden repariert, die Fenster erneuert. Um dann doch alles wieder abzublasen, die Ingenieure wurden erneut entlassen, damit auch der Bürgermeister, der damalige Direktor. 2010 gab der Konzern die Konzession an den Staat zurück, ohne Gegenleistung.

 

 

Was jetzt bleibt? Ein 600 Meter tiefes Schachtsystem, das komplett geflutet ist. Wo früher 5000 Menschen arbeiteten, versiegelt heute eine Eisenplatte den Zugang. Die meisten oberirdischen Anlagen, Förderturm mit rotem Stern drauf, der beim Übererfüllen des Solls leuchtete, der meistens leuchtete, die Werkstätten und die Gebäude für die Rettung, sie alle sind heute dem Erdboden gleichgemacht. Der Stern, Symbol des Ortes, hat der Mutterkonzern zum Altmetallwert verkauft. Was also bleibt? Vier Sägewerke, die immer wieder mal pleitegehen und ihr Holz illegal aus dem Wald holen. Eine Bar, die nur samstags aufmacht. Eine Schule mit Englischlehrerin, die nur wenig Englisch spricht. Jugendliche, die sich nichts mehr ersehnen, als das Dorf zu verlassen. Ein 75-jähriges Ortsjubiläum im August, das mit dem Mord am Libero der Fußballmannschaft endete. „Die Hoffnung nicht aufzugeben“, sagt der Bürgermeister endlich. „Das bleibt.“

Nach Einbruch der Dämmerung fühlen sich die Bewohner von Ljowicha unwohl in ihrem Dorf. Meidet die Schatten, raten sie einander. „Um ehrlich zu sein“, sagt Kolja, der Polizist, „dieser Ort ist nicht ruhig und friedlich.“ Alla, seine Frau, traut sich abends nicht mehr auf die Straße. „Ich mag die Fremden nicht.“ Hunderte ehemalige Strafgefangene sind in den letzten zwei Jahren nach Ljowicha gezogen. So ergeht es in der Gegend vielen Dörfern. Sie werden zur Heimat der Ungewollten. Nach der Haft drängt die Polizei die Entlassenen oftmals, die Städte zu meiden und in die Dörfer zu ziehen. „Die Siedler“, nennen sie die Alteingesessenen. Es sind Trinker und Drogenabhängige, Männer, die frisch geschieden sind, es sind die Verzweifelten und Ruinierten. Nirgendwo können sie billiger wohnen als in Ljowicha. Skrupellose Immobilienmakler vermitteln ihnen halb verfallene Häuser. Alla grüßt sie nicht auf der Straße. „Ich will keinen Ärger“, sagt sie. Auch ihre Tochter rede nicht mit den Kindern von Siedlern. Die Alteingesessenen schicken ihren Nachwuchs in den Kindergarten 22 und 24, den Siedlern bleibt Kindergarten Nummer 14. Es gab schon zwei Morde dieses Jahr. Vor kurzem half Kolja dabei, eine Kinderbande dingfest zu machen, die hatten geklaut und Omas auf der Straße überfallen. „Die kleinen Wölfe“ titelten Lokalblätter.

Der Riss des Unfriedens geht quer durch das Dorf, auch durch den Tanzsaal des Kulturpalastes. In der Nacht, in der Kolja und Alla das neue IKEA-Kinderbett aufstellen, sie nörgelnd, er schraubend, der Nacht, in der Igor, der Bürgermeister, über Pläne für die neue Straßenbeleuchtung brütet und Swetlana in Eketarinburg den Bus nach Ljowicha besteigt, um für das Leben ihres Kindes zu kämpfen, lädt das Kulturhaus zum nationalen Feiertag. Der Tag von „Russlands Einheit“. Die Direktorin Olga Petrowskaya hat einen Monat lang das Programm geprobt. „Kommt, bitte kommt!“, sagt sie im Dorf fortwährend. Olga ist neben dem Bürgermeister einer der wenigen, die sich gegen den Untergang stemmen. Was sie in Ljowicha an Dunkelheit umgibt, versucht sie durch ihr Strahlen wettzumachen. Olga ist eine, die mit Frohsinn anstecken will, die lacht, auch wenn es nichts zu lachen gibt. Die Tochter eines Bergarbeiters, die ihr Alter nicht verrät, die aber Anfang 40 sein dürfte, frisch geschieden und frisch liiert, langes blondes Haar, die durch die Gänge des Kulturpalastes mehr hüpft als läuft, organisiert Gymnastik, Schauspielkurse und Malunterricht für die Jungen und die Alten. Im Kulturhaus trifft sich der Chor der Alten, bei dessen Gesang die Jungen weinen. Säulenbesetzt wie ein griechischer Tempel überthront das Kulturhaus den Ort. In ihm glimmt noch die Energie aus alten Bergbau-Zeiten. Ein letztes Glutnest.

In dieser Nacht tanzen sie, lachen, torkeln, sich knapp auf den Beinen haltend, die Männer mit nacktem Oberkörper, sie grienen, stemmen sich mit den Händen vom Boden ab, taumeln gegen die Tische. Olga ist die Unterhalterin des Abends, sie singt auf der Bühne, tanzt, wechselt in rascher Folge die Kostüme. Mal tritt sie im Bärenfell vor das Publikum, mal in Seidenstrümpfen. Der Saal vor ihr teilt sich in zwei lange Tischreihen. Beide ignorieren einander. Rechts sitzen die Alteingesessenen, auch die Krankenschwester und der Physiklehrer. Am linken Tisch feiert eine Geburtstagsrunde der „Siedler“. Die Gäste scharen sich dort um „Sascha“, der nach 18 Jahren in Haft entlassen wurde und vor einem Monat ins Dorf zog. Er hat seinen Körper von Hals bis Fuß mit Teufelssymbolen tätowiert, die 666 im Nacken, Tattoos von Eisenketten an Fuß- und Handgelenken. Im Knast hat ihm einer das Gesicht gegen das Waschbecken geschlagen. Dann hatten sie ihm die obere Zahnreihe durch Metallstifte ersetzt. Die Männer am linken Tisch stoßen miteinander an, umarmen sich, brüllen sich an, nur nicht den Sascha, das wagen sie nicht, ihn zu verärgern, der im Knast zwei Menschen totschlug. Seit er ins Dorf zog, ist er zur Autorität der lokalen Mafia geworden. Seiner Freundin, einer ehemaligen Gogo-Tänzerin, hat er, wie man sich im Ort erzählt, bereits zwei Rippen gebrochen. „Du wagst es?!“ sagt Sascha plötzlich, als einer ihn mal im Gespräch unterbricht. Er hebt die Stimme dabei nicht einmal. Er muss ihnen nur in die Augen schauen.

„Drogenhändler“, flüstert jemand vom rechten Saalflügel über Sascha. Auch die Direktorin Olga ist nicht glücklich über die Anwesenheit der Geburtstagsrunde. Aber sie braucht das Geld, denn Sascha zahlt für das Fest. Das Dach des Kulturhauses kann jederzeit einstürzen, der oberste Stock ist bereits gesperrt. An vielen Stellen rieselt das Wasser durch. Olga benötigt 62 000 Euro für die Reparaturen. „Dieses Haus ist die Seele unseres Ortes“, sagt sie. Doch so viel will die Bezirksregierung nicht mehr investieren. Sie hat den Abriss des Gebäudes verfügt. Die Behörde hat Ljowicha offenbar aufgegeben. Nicht Olga. Die Direktorin kämpft, lacht, singt bis zum Morgengrauen.

In die Diensträume von Sinurow sind jetzt Beamte aus Moskau eingezogen. Er weiß nicht, wie lange sie bleiben. Sie prüfen den Verlauf der bisherigen Ermittlungen. „Als hätte ich nicht schon genug zu tun“, klagt der Kommissar. Die Resultate der Bodenproben hoben seine Laune ebenfalls nicht. Er hat sie heute per Fax erhalten. „Das Ergebnis ist gleich null“, schimpft er. Die Geologen konnten keine Verunreinigung des Erdreiches feststellen. Sinurow schickt sie ein zweites Mal nach Ljowicha, dieses Mal sollen sie gleich mehrere Proben nehmen. Die Prüfkommission im Nacken, bittet er nun auch den russischen Geheimdienst um Amtshilfe. Der betreibt in der Nähe eine Kommunikationszentrale, die Telefongespräche speichert. „Die gleichen jetzt für den entsprechenden Mobilfunkquadranten alle Telefonnummern ab.“ Sinurowhofft, dass sie unter den tausend Anschlüssen den eines potentiell Verdächtigen finden. Das kann ein Mitarbeiter der Akademie sein, des Krankenhauses oder der Fahrer der Müllunternehmen, die sonst Föten als Abfall entsorgen.

Der Verwaltungsvorschrift nach hätten sie bei 1200 Celsius verbrannt werden müssen, in einem Spezialofen vom Typ „IN-50“, patentiert für medizinischen Abfall. Sinurow hat in diesen Tagen die Geschäftsführer der regionalen Entsorgungsfirmen verhört. Sie sammeln die Abgetriebenen, packen sie zusammen mit Spritzen, Ampullen, amputierten Gliedern und Plastikschläuchen in sterile Container. Was von den Föten nach der Prozedur bleibt, ist Asche, die wiederum auf die städtische Mülldeponie verklappt wird. Bis vor zwei Jahren hatte der kommunale Entsorger „Spetsavtobaza“ das Monopol auf das Geschäft. Nach der Privatisierung der Branche verlor er jedoch die Ausschreibung an einen neu gegründeten Konkurrenten. Hatten die Krankenhäuser bisher 65 Rubel das Kilo bezahlt, verlangten die neuen Wettbewerber 20 Rubel weniger. „Es ist das totale Chaos“, klagen Experten dem Chefermittler. Viele Unternehmen im Bezirk verbrennen die Föten nicht mehr, sondern transportieren sie sofort auf die Deponie. Oder in die Natur. Die staatliche Kontrolle funktioniere nicht, sie sei korrupt, im besten Fall überfordert. „Die wahrscheinlichste Erklärung ist“, überlegt der Chefermittler, „dass sich einige Leute im Krankenhaus und der Abfallwirtschaft durch Abrechnungsbetrug die Gehälter aufbessern wollten.“

Ein Mitarbeiter der Akademie, der Sinurow heimlich mit Informationen versorgt, berichtet von zehn weiteren Fässern mit Föten, die seit Mai in den Wald gefahren worden seien.

Bis die Herkunft der toten Kinder nicht geklärt ist, werden die Gerüchte nicht abreißen. Immer dunklere Versionen steigen aus den Untiefen der Gesellschaft auf. Wissenschaftler äußern die Vermutung, dass mit den Ungeborenen medizinische Versuche angestellt wurden. Die Stammzellen-Industrie stecke dahinter. Was tatsächlich nicht ganz ausgeschlossen ist. In hunderten russischen Klinken und Schönheitssalons werden fetale Stammzellen als Allheilmittel gespritzt. Immer wieder hebt die Polizei solche Kliniken aus, immer wieder machen neue auf. Ein anderer Wissenschaftler lässt sich im Fernsehen interviewen mit dem Verdacht, dass die Föten in Wahrheit Klonbabys seien, Produkte illegaler Forschungen. In verborgenen Laboren arbeiteten Mediziner an der Erschaffung des neuen Menschen: eines besseren.

Das Dorf verschwindet vollends unter Schnee. Die giftigen Schwermetallhalden sind plötzlich von einem unschuldigen Weiß. Der Polizist Kolja fährt in die Kreisstadt, wo ihn Sinurow einen Orden verleihen wird. Der Kommissar will ihn unbedingt halten. Ein Kamerateam des Lokalsenders wartet auf den Dorfpolizisten, um ihn zu interviewen. Wie es so ist in Ljowicha. Er sitzt in seiner Paradeuniform hinterm Steuer. Flocken wirbeln vor seiner Scheibe. Fast geräuschlos rollen die Reifen über den frischen Schnee. Im Dorf hatte man ihn noch kurz zuvor in die Wohnung einer 50-Jährigen gerufen. Sie hatte sich dort im Bad erhängt. „Ich glaube“, sagt Kolja, „dass es Orte gibt, die das Böse anziehen.“ Diese Straße etwa, auf der er fährt. Fünf Unfalltote in zwei Monaten. „Ohne ersichtlichen Grund“, sagt er. Oder das Waldstück, wo sie die toten Prostituierten vergraben hatten. Vor einem Monat starb genau dort ein Arbeiter auf seinem Traktor. Er hatte zu einem Bautrupp gehört, der die Hochspannungsleitungen wartete. Aus Angst hätte der Rest der Truppe dann das Camp verlegt. Vielleicht, überlegt der Polizist, sei ja ganz Ljowicha so ein Ort.

Swetlana hat es am Ende nicht geschafft. Sie hockt in der Mensa der Uni. Ihre Hände umschließen einen Becher Kaffee. Sie starrt auf das Getränk, von dem sie nichts trinkt. Ihre Mutter will das Kind nicht. Swetlana will nicht darüber reden. Sie kann es nicht mehr. Ganz hart ist ihr Gesicht, das sonst so weich ist. Im Internet hat sie erfahren, dass die Ärzte den Embryo mit einer Vakuumpumpe absaugen werden. Sie wird tapfer sein müssen. Die Ärzte werden ihr eine Tablette geben, die ihre Gebärmutter weitet. Sie weiß nicht, ob sie bei alldem betäubt wird. „Ich habe keine Wahl“, sagt sie. Ihre Mutter hat eine Klinik angerufen und ihr einen Termin für den Samstag reservieren lassen.

Damit sie keinen Studientag verpasst.

 

 


 
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Stanislav Krupař, Prag
www.krupar.com