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Der heimliche Krieg

Wie eine Familie in Homs zu überleben versucht.
Eine Reportage aus der Mitte des syrischen Aufstandes.

 


Das Klopfen ist leise, kaum hörbar zunächst, vorne an der Tür, dieses billiges Holzimitat aus Asien, die letzte Barriere zum Schrecken. Faten steht in der Küche, räumt Geschirr ein, erstarrt dabei. Lauscht. Ahmed, ihr Mann, sitzt im Sessel und sieht fern. Er schaltet auf lautlos, legt den Kopf schief. "Scheiße", sagt er. Das Klopfen steigert sich, wird hart und drängend. Durch die Wohnung hallen dumpfe, laute Schläge. "Scheiße", wiederholt er und reißt sich aus dem Sessel. "Wer ist das?" Er hastet mit vier, fünf Schritten an die zugezogene Gardine, hält den Kopf nah an den Stoff, um hindurch zu sehen. Blickt aus dem Fenster zur Straße, dem Fenster zum Nachbarn, dem Fenster Richtung Hof. Faten steht am Türspion, fahrig, aufgeregt, zögert einen Moment hindurchzuschauen. Da wird es plötzlich still. "Ich sehe niemanden", flüstert Faten mit einer Stimme knapp vor der Panik, Faten, die der Familie stets ein Ruhepol sein will, mit herbem Humor alle Gefahr wegzulachen sucht. Ahmed tritt zu ihr, sieht ihr kurz in die Augen, fasst sie an den Schultern und öffnet die Tür.

Den ganzen Morgen haben sie in Homs, der drittgrößten Stadt Syriens, Dutzende Menschen verhaftet, sie aus ihren Wohnungen gezerrt. Keiner weiß, wie viele, Gerüchte schwirren. Bewaffnete Geheimpolizisten gehen von Tür zu Tür. Schussgarben durchschneiden die Stille in den Straßen. Als Ahmed jetzt vor das Haus tritt, mit geradem Rücken, um bloß keine Angst zu zeigen, wie der Mitfünfziger immer sagt, das riechen die, sagt er, darauf sind die gedrillt, da flüchte ich, der Besucher aus dem Ausland, in den hinteren Teil der Wohnung. Das Haus von Ahmed und Faten ist mein Versteck. Im Familienrat haben sie diskutiert und beschlossen, für mich das alles aufs Spiel zu setzen, die Freiheit und ihr Leben - damit diese Reportage geschrieben werden kann. "Ihr müsst berichten!", hatte Ahmed zu mir gesagt. "Die Welt muss erfahren, was in unserer Stadt passiert!"

Die syrische Revolution ist der überraschendste aller arabischen Aufstände. Zu fest, dachte auch das Ausland, sitzt Bashar al-Assad im Netz seiner zwei Dutzend miteinander konkurrierenden Geheimdienste. Mit brachialer Gewalt geht er seit einem halben Jahr gegen Demonstranten vor. Panzer feuern auf Zivilisten, Kriegsschiffe auf Städte. Doch die Brutalität erreichte bisher nur das Gegenteil, was Assad wollte Die Proteste weiten sich aus, sie streuen ins ganze Land und erfassen immer größere Bevölkerungsteile. Das Regime hat seit Beginn der Unruhen die Grenzen für die ausländische Presse abgeriegelt, es will keine Zeugen. Offiziell gibt es derzeit keinen einzigen unabhängigen Korrespondenten im Land. Zu gut weiß Assad, der einstige Augenarzt, um die Macht der Bilder. Er weiß, dass internationale Medien nur berichten, was sie zeigen können. Lässt sich nichts zeigen, wird meist auch nicht berichtet. Die Welt kann Syrien seither nur noch unscharf sehen, verwackelt und grob gepixelt. Die Handyfotos der Demonstranten aus Damaskus und Homs wirken so weit entfernt wie die Aufnahmen, die NASA-Roboter vom Mars zur Erde funken. Als sei Syrien plötzlich aus der Welt gefallen.

Ich lege meinen Notizblock in das Bücherregal der Familie, er ist als Bibel getarnt, um ihn vor Beschlagnahmung zu schützen. Ich spüre meinen Herzschlag bis zum Hals. Ahmed läuft ums Haus, kommt wieder hinein. Er ist unschlüssig. "Der Junge von nebenan vielleicht?", sagt er zu Faten. Noch eine Weile schauen sie angestrengt durch die weißen Vorhänge, dann stellt Ahmed den Ton des Fernsehers wieder an, Faten wendet sich erneut der Küche zu. Sie klammern sich an jedes Stück Normalität, das ihnen in Homs geblieben ist.

Die Stadt ist ein bedeutendes Wirtschaftszentrum Syriens, zwei Millionen Einwohner, aufstrebend, mit Ölraffinerie, umgeben von ausgedehnten Industriegebieten. Ein Profiteur der vorsichtigen ökonomischen Öffnung des Landes, die Bashar al-Assad seit zehn Jahren betrieb. Doch in Homs haben jetzt die Dinge ihre alte Bedeutung verloren. Straßen sind Schussbahnen geworden. Schulen sind Gefängnisse. Panzer stehen auf den Kreuzungen, schlafende Riesen, deren Typen sich die Kinder von Homs gegenseitig aufsagen, T-60, T-62, T-72, hin und wieder feuern sie in die Häuser.

Die Stadt ist zum Schlachtfeld geworden. Die meisten Geschäfte haben geschlossen, viele Einwohner sind geflohen, nach Damaskus, nach Aleppo, ins Ausland, wenn sie konnten. Trotzdem protestieren die Menschen noch in Massen, eine halbe Million an manchen Tagen. Die Nachbarschaften der Innenstadt, sunnitisch, arm, Zentren des Aufstandes, haben ihre Gassen verbarrikadiert. Sie legten Strommasten quer und verkeilten Müllcontainer in ihnen. Wie zufällig am Straßenrand geparkt, riegeln Privatwagen im Notfall die Fahrbahnen ab. Wieder und wieder versucht die Armee, in die Viertel einzufallen. Nachts zeichnen Geschosse am Himmel rote Bahnen.

"Möchte noch jemand Eiscreme?", fragt Faten in einem Anflug von Heiterkeit in die Runde, als abends alle am Esstisch sitzen. Ihre Söhne lachen, halten ihr die Porzellanschalen entgegen, der zwölfjährige Sammy mit den Pausbacken. Der 25-jährige Mazen, der sich so verändert hat in den Monaten, seit die Proteste in Syrien begannen. Mazen ist meist in der vordersten Reihe, schwer kann er sich zügeln, sein berstendes Temperament. Die Eltern versuchen, ihn zurückzuhalten. Sogar seinen Freunden fällt es schwer, ihn auf den Protestzügen zu beruhigen, er hat Polizisten verprügelt und Scharfschützen vom Dach gestoßen. Zwölf seiner Freunde starben in den letzten Wochen, acht davon in den vergangenen Tagen. "Er stand neulich mit blutigem T-Shirt in der Küche", sagt Faten, "weil er einen Verletzten von der Straße gezogen hatte." Faten ist nach dem Essen beim Abwasch, als Mazens Handy klingelt. "Sie haben vor einer halben Stunde einen Freund von mir festgenommen", ruft er über den Küchentisch zur Mutter. Der Vater schaut fern. "Mich schnappen die als nächsten", sagt Mazen, er presst die Hände auf sein Gesicht. "Jetzt wissen die meinen Namen."

"Was willst du tun?", fragt Faten und greift nach einem weiteren Teller. "Ich muss ihn freibekommen." "Das ist so gefährlich, Mazen", sagt Faten. Ihr Junge läuft in der Küche auf und ab, macht Anrufe, organisiert Freunde, dann verschwindet er in der Nacht.

Das Ungeheuerliche vollzieht sich in dieser Stadt präzise wie ein Uhrwerk. Es wird Zeit, sagt Ahmed, er nimmt mich nach draußen zum Auto, schweigend, rasch, damit mich niemand hört und sieht. Die Gasse liegt in völliger Finsternis, weil Ahmed mit den Nachbarn die Straßenbeleuchtung abgeschaltet hat. Die Scharfschützen des Regimes sollen es nicht so einfach haben. Es ist kurz vor 20 Uhr und immer näher rückt der Augenblick, auf den täglich ganz Homs hin fiebert, ob Regimegegner oder -anhänger. Die Stadt spannt ihre Muskeln an. Das Militär fährt in Bussen zu seinen Bereitstellungsräumen. Die Demonstranten sammeln sich. In kleinen Trupps streben sie zu den Treffpunkten in ihren Vierteln. Es sind auch Kinder dabei, kleine Jungs, nicht älter als zehn. Wie immer im Ramadan werden sie zum Fastenbrechen nach 22 Uhr die Trommeln schlagen, ihre Fäuste recken und in Sprechgesängen fordern: "Assad, hau ab! Assad, hau ab!" Der Protest wird wie immer nur wenige Minuten dauern, dann eröffnet das Militär wieder das Feuer. Ahmed möchte, dass ich zuvor die Organisatoren treffe, er fährt durch leere Straßen, Müll auf ihnen, Fassadenteile, die von beschossenen Häusern fielen.

Rasch, wie ich aus dem einen Haus kam, entschwinde ich einem anderen. Im dunklen Flur begegne ich drei Herren um die sechzig, nervöse Blicke, feste Umarmungen. Ich bin der erste Journalist, zu dem sie sprechen, auch sie riskieren viel. Die drei nennen keine Namen, ich frage nicht. Die Männer sind Geschäftsleute, Mitglieder des Komitees, das die Widerstandsgruppen in der Stadt koordiniert. Sie entscheiden, wo wann demonstriert wird. Sie geben Geld, verteilen Mikrophone und Kameras. "Wir können nicht mehr zurück", sagt einer von ihnen. "Hören wir mit den Protesten auf, halten wir sie nicht mehr beschäftigt, dann werden sie uns holen, einen nach dem anderen."

Ursprünglich sei es ihnen in Homs nicht um den Sturz des Regimes gegangen. Sie hatten nur die Absetzung des Bürgermeisters gewollt. Der korrupteste des Landes, sagen sie, "der größte Dieb". Er kassierte ab, wo es ging, auf jeden Neuwagen etwa erließ er eine Privatsteuer von 1400 Euro, auf Stromzähler eine von 6500 Euro. Doch das Regime habe sofort mit Tränengas reagiert und von 200 Teilnehmern die Hälfte verhaftet. Der erste Protestzug forderte die Absetzung des Stadtoberhaupts. Der zweite folgte eine Woche später, dieses Mal kamen 7000 Menschen, dieses Mal forderten sie: Freiheit! Am 18. April schließlich wollten es die Homser den Demonstranten auf dem Tahrirplatz in Kairo nachmachen. 80 000 kamen zum Mittelpunkt der Stadt, dem "Platz der Alten Uhr", es herrschte Euphorie. Reden wurden gehalten. Sie glaubten an die Druck der Straße, stellten Zelte auf, um den Platz zu besetzen. Nachts um 1.55 Uhr eröffnete das Militär das Feuer. Es starben hunderte. Manche sprechen von mehr als tausend. Bis heute ist nicht klar, wie viele genau ihr Leben ließen.

Die nervösen Blicke zur Uhr, hastiger Aufbruch, es eilt, zurück in Fatens Küche. Sie erklärt mir, vor wem ich mich in Acht nehmen müsse in der Stadt. Wie Pilzsporen durchdringt in Homs der Überwachungsstaat den Alltag. Die Taxifahrer seien fast alle Informanten der Spitzeldienste. Dazu kämen die Straßenfeger und die Leute von der Stadtreinigung. "Manchmal sehe ich einen von denen, wie er immer wieder seinen Kopf über unseren Zaun reckt." Faten imitiert seine Bewegungen. Sie lacht. Ihr Sohn kommt ins Haus, atemlos, das Handy am Ohr, er wisse jetzt, welcher Geheimdienst seinen Freund verhaftet habe, es ist der berüchtigste, der Militärgeheimdienst. "Wie hast du das erfahren?", fragt seine Mutter. "Wir geben denen Geld", sagt Mazen. Er hofft, ihn über Mittelsmänner freizukaufen zu können. So machen sie es oft.

"Komm mit", sagt Mazen zu mir. Er will mir heute Nacht das befreite Syrien zeigen. Zu meinem Schutz hat Mazen 18 Männer mitgebracht, sie tragen Pistolen unter ihren Hemden. Wir fahren in Kolonne, drei Wagen hintereinander, ich im mittleren, alle mit Walkietalkie miteinander verbunden. "Manchmal lauert uns die Geheimpolizei auf, aber wir kennen die Schleichwege." Mazens Gruppe ist der harte Kern im Armenviertel Baba Amr, das die Armee seit Monaten zu stürmen versucht. Der Konvoi rast durch die Stadt. Es gibt Ampeln, vor denen wir bei Rot halten, vereinzelt begegnen uns Autos mit Frauen und Kindern, die versprengten Reste des Alltags. Über sein Handy erfährt Mazen, dass die Proteste in Homs begonnen haben, an zwei Dutzend Orten, zwölf Verletzte gebe es bereits und einen Toten. Unser Ziel ist das Krankenhaus, das "befreite Syrien", wie es Mazen halb ironisch nennt. Denn er sagt: "Wir halten es."

Der Bau ist in blaues Neonlicht gehüllt. An seinen Flanken stehen Wachposten mit Kalaschnikows. Für eine halbe Stunde könnten sie Angriffe des Militärs abwehren, sagt Mazen stolz. Die Männer nehmen mich erneut in die Mitte, wir hasten in den Eingang.

Schwarzgekleidete Frauen sitzen auf den Fluren. Ärzte rauschen von Zimmer zu Zimmer, wechseln misstrauische Blicke. Ich sehe einen elfjährigen Jungen auf blutverschmierten Laken, die Mutter an seinem Bettende. Eine Kugel traf seinen linken Fuß, der aufgequollen ist zur Größe eines Fußballs, ein Splitter zerriss den anderen Fuß, beide sind bandagiert. Er lächelt tapfer. Im Nachbarraum liegt ein Mittzwanziger mit einer Kugel im Rücken. Der Arzt, der gerade den Katheter prüft, sagt, er werde vermutlich nie wieder laufen können. Dann ein Bauchschuss, als Nächstes ein Schuss in die Brust, ein Durchschuss ins Bein, wieder Splitterwunden. Die Ärzte riskieren ebenfalls, in den Kerkern der Staatssicherheit zu enden. Syriens Krankenhäuser sind für Regimegegner keine Zuflucht, sondern eine Gefahr. "Du kommst mit einer Kugel im Bein rein", sagte mir in Damaskus ein oppositioneller Mediziner, "und mit einer Kugel im Kopf kommst du raus." Überall im Land haben Ärzte deshalb Untergrund-Strukturen aufgebaut, es gibt Untergrund-Lazarette in Privatwohnungen und geheime Apotheken. Um verwundete Aufständische aufzuspüren, hat der Staat Arzneien gegen Wundstarrkrampf und Beutel für Blutkonserven einer zentralen Aufsicht unterzogen. Wenn Ärzte zu viel davon bestellen, fallen sie dem Geheimdienst auf. Die Revolution in Syrien ist bisher eine, bei der nicht Waffen ins Land geschmuggelt werden, sondern Tausende von Plastikbeuteln.

Mazens Männer ziehen mich von Raum zu Raum, sie sagen, alles solle ich sehen. Nur den Verrückten im Keller nicht. Er war einer von ihnen, jetzt verstört er sie. Er ist nicht mehr tapfer, heroisch. Mazen erzählt, der weine nur noch, brabbele, schmiere seine Exkremente an die Wände. Vor wenigen Tagen wurde der Mann aus der Haft entlassen, geschlagen, gefoltert, die Haut seines Hodensacks haben sie mit Rasierklingen in Fetzen geschnitten. Unter die Fingernägel haben sie ihm Metallstifte getrieben und die dann unter Strom gesetzt. Wochenlang. Die Pfleger haben ihn an eine Kellerwand gekettet, sie haben Angst, er bringt sich um.

"Ich werde mich nicht festnehmen lassen", sagt Mazen, der heute einen Revolver vom Smith & Wesson geschenkt bekam. Er sagt es seiner Mutter, als wir wieder in der Küche über Kaffeetassen sitzen. "Vorher erschieße ich mich." Hilflos sieht sie ihn an. Er schaut weg.

Die Stadt droht auseinanderzubrechen, der Druck auf sie ist enorm. Knapp die Hälfte der Einwohner sind Sunniten, 20 Prozent Alawiten, der Rest Christen, Jesiden und Zaiditen. Die Risse zwischen ihnen werden täglich größer. Das Regime misstraut dem Ort, seit er sich 1982 beim Aufstand der Muslimbrüder gegen die Assads erhoben hat. In der Folge versuchte die Regierung das damals mehrheitlich sunnitische Homs zu entschärfen. Ringsherum ließ es Dörfer mit Familien der alawitischen Minderheit bauen, ihrer eigenen Glaubensgruppe. Die Sunniten fühlten sich eingekreist – was sie nun auch tatsächlich sind. Die meisten Alawiten sind aus der Innenstadt geflohen. In den Außenbezirken zerstörten alawitische Schägertrupps sunnitische Geschäfte. Es gab erste Tote. Die Einfallstraßen zu ihren Wohngebieten haben die Alawiten mit Checkpoints gesichert. Ihre Straßensperren sind nicht mit Militär bemannt, sondern mit Zivilisten. Sie fürchten, in einem Syrien ohne Assad vernichtet zu werden. So wie es mit den meisten Minderheiten im benachbarten Irak geschah. Homs ist in diesen Tagen eine Stadt wie Beirut in den 80er Jahren, wo es an vielen Straßenabzweigung hieß, da können wir nicht weiterfahren, da werden wir beschossen. In der Nacht schlafe ich unruhig. Im Schrank am Kopfende meines Bettes lagern Mazens Versuche, Rohrbomben zu bauen.

"Das ist der gerechte Preis, den wir jetzt zahlen", sagt Ahmed am nächsten Morgen. "Der Preis für all die Jahre, die wir als Gesellschaft geschwiegen haben." Beim Frühstück berichtet Faten, dass neue Panzerkolonnen in die Stadt einrücken, eine Kollegin hat ihr Bilder aufs Handy geschickt. "Was haben die vor?", grübelt Faten. Die Freundin war das letzte Mal vor zwei Tagen zu Besuch, völlig aufgelöst. Ihre beiden Töchter waren zur Schule gelaufen, die geschlossen war wegen der Ferien, doch sie fanden einen Weg hinein, zum Spielplatz, auf dem sie toben wollten - und sahen ihn voller Blut. "Was bedeutet das?", fragte ihre Kollegin, deren Kinder weinend nach Hause gerannt kamen. "Sie benutzen Schulen als Gefängnisse", erzählte ihr Faten. "So machen sie das überall in der Stadt."

5500 Euro verlangen die Geheimpolizisten, die Mazens Freund am Vortag festgenommen haben. Der Informant gab ihm zu verstehen, dass er bereits seit gestern gefoltert werde. "Oh Gott", tigert Mazen zwischen den Wohnungswänden. "Ich muss was tun!" Er hat das Geld noch nicht zusammen. Der 25-Jährige ist grau um die Augen, das Gesicht ist wie eine Maske, es bleibt ausdruckslos, auch wenn er sich erregt.

Wo ist mein Sohn?", schreibt Faten heute in ihr Tagebuch. "Dieser Junge, dessen Lachen so ansteckend war, der sich dreimal am Tag wusch, über dessen Sauberkeitswahn wir uns alle lustig machten. Wo ist er jetzt? Ich vermisse sein Grinsen, sein verschmitztes Lächeln, sein verrücktes Tanzen, und am meisten vermisse ich: seine Liebe zum Leben."

Wie ein Bienenvolk seine Königin umsorgen Mazens Männer ihren Scheich, einen jungen Bärtigen, der mir im Hauptquartier der Gruppe vorgestellt wird, charismatisch, ruhig und besonnen. Den Ehrentitel Sheik haben ihm die Männer im Lauf der Proteste verliehen, wie von selbst wurde er zu ihrer Führungsfigur. "Er wird tot oder lebendig vom Geheimdienst gesucht", sagt Mazen. "Aber wir achten darauf, dass immer viele Jungs um ihn herum sind." Ein Haus in einer engen Gasse, überall Wachposten der Widerstandskämpfer, die nach Armee und Polizei Ausschau halten. Der Sheik hat mich zu sich gebeten, weil er mir besondere Gäste vorstellen will. Kleine Kinder wuseln um seine Beine, die ängstlich zu mir hochschauen, die Waffen haben die Gäste im Obergeschoss abgegeben. Im Empfangszimmer sitze ich dann zwei Männern in weißen Galabijas gegenüber. Ich bin angespannt, habe Sorge, dass diese Einladung eine Falle sein könnte. "Sie wollen dich sprechen", sagt der Sheik. Die Männer gehören zu den hochrangigen Geheimdienstoffizieren der Stadt. Denen ich eigentlich auf gar keinen Fall begegnen wollte. Der ältere von ihnen steht auf und fragt mich: "Wie geht es Ihnen?"

Der Mann scheint die Ruhe selbst zu sein, gerader Rücken, offenes Lächeln. Fast bewegungslos sitzt er auf dem Teppichboden, allein sein rechter Daumen zuckt nervös. Er versorge die Rebellen mit Informationen, erklärt der Offizier, wo wann wie die Einheiten der Sicherheitsdienste in Homs zuschlagen. Er könne nicht länger tatenlos dem Morden zusehen. Desertieren könne er ebenfalls nicht, weil das seine Familie gefährde. "Ein Freund von mir hatte sich losgesagt. Sie kamen in sein Haus, vergewaltigten seine Frau und nahmen ihn mit." So gehe er weiterhin ins Büro, jeden Morgen, Innendienst, betont er. 45 Prozent der Kollegen des Geheimdienstzweiges, dem er angehöre, seien derzeit krankgeschrieben. Für ihre Atteste hätten sie Ärzte bestochen. "Die, die bereits getötet haben", sagt er, "können nicht gehen. Sie würden von beiden Seiten gesucht." Früher sei er stolz gewesen, Offizier beim Geheimdienst zu sein. Die Elite, sagt er. Das Vaterland. Der Kampf gegen Israel. "Es ging bei uns zu 80 Prozent um Abschreckung und nur zu 20 Prozent ums Prügeln. Inzwischen dreht sich alles nur noch ums Prügeln." Früher sei er in den Restaurants umsonst bewirtet worden, jeder versuchte sich mit ihm gut zu stellen. Die Leute hatten Respekt vor ihm gehabt. Jetzt sei er froh, wenn ihn draußen niemand erkenne. "I am lost", sagt er. Ich bin verloren.

Wie ihn gebe es viele in den Geheimdiensten, Schläfer der Rebellen, in fast allen Abteilungen und Untergliederungen, sie alle beobachteten die Gräueltaten, notierten die Namen der schlimmsten Mörder und Folterer, führten heimlich Protokoll über Tote und Inhaftierte. Für den Tag, an dem eine neue Regierung sie zur Rechenschaft ziehe. 120 000 Menschen seien derzeit in Haft, behauptet mein Gegenüber. Es seien im ganzen Land provisorische Internierungslager entstanden - in Kinos, Fabriken und Universitäten. Allein in Homs nutzten sie 25 Schulen und Lagerhallen als Gefängnisse. "Dort bleiben die Inhaftierten maximal eine Woche. Sie werden zunächst geschlagen und dann befragt." Er nennt mir die Namen einiger Schulen, der Sheik nickt dazu. Ungefähr drei Viertel der Gefangenen würden nach einer Woche freikommen, oft gegen Lösegeld. "Diese Praxis hat der Präsident persönlich veranlasst", sagt der Offizier. Die Freikäufe helfen den Assads, ihre Schläger und Soldaten zu bezahlen, denn dem Regime gehen allmählich die Rücklagen aus.

Der Ort des größten Schreckens liege außerhalb von Homs, 30 Kilometer vor der Stadt, wo der Militärgeheimdienst in einem Industriegebiet eine unterirdische Zellenanlage betreibe. "Das ist das Schlimmste", sagt der Offizier. "Die haben da eine Kapazität von 10 000 Personen, sind aber noch nicht voll." In den Gefängnissen Syriens seien bisher 12 000 Regimegegner gestorben. 6000 gelten als vermisst. Sie sind in den Niederungen der Geheimdienstwelt verschwunden, zu denen auch er und seine Kollegen keinen Zugang hätten. Er spricht von Massengräbern. Es gebe rund um Homs 32 davon, angelegt vom Militärgeheimdienst. In jedem Grab lägen zwischen 60 und 100 Tote. Die Sicherheitskräfte packten die Leichen in Müllsäcke, einen zögen sie über den Oberkörper, einen zweiten über den Unterleib. Müllwagen sind es dann auch, die die Toten zu den Gräbern führen. Vielen der Opfer seien zuvor Leber, Niere und andere Organe entnommen worden. Er bestätigt damit das Gerücht, dem zufolge das Regime mit den Organen der Toten Handel treibt. "Die Organe gehen in den Libanon und nach Ägypten. Das berichten unsere Leute in den Krankenhäusern und beim Zoll."

Die Zahlen des Offiziers sind weit höher als die Angaben syrischer Oppositionsgruppen. Das "Local Coordination Comittee (LCC)" zählt bisher 2000 Tote und 15 000 Inhaftierte. "Das sind nur die Opfer, die wir mit Namen kennen", sagt der Sprecher des LCC. "Bei dem Umfang der militärischen Operationen gehe ich davon aus, dass es in Wirklichkeit noch viel mehr sind."

"Ihr müsst uns helfen", bittet der Geheimdienstoffizier und meint damit den Westen. Noch versuchten die Regimegegner ihren Protest friedlich zu halten, aber ein Bürgerkrieg sei unvermeidbar. "Es sind zu viele von uns gestorben", mischt sich der Sheik ins Gespräch. Er erzählt davon, wie sich die Demonstranten zu bewaffnen beginnen. Im Viertel gebe es Verstecke mit Gewehren und Panzerfäusten, panzerbrechenden Raketen und sogar eine Flak, erbeutet von der Armee. Im Bezirk Homs, der bis zur irakischen Grenze reicht, seien 10 000 Soldaten desertiert, weiß der Geheimdienstmann. Tatsächlich häufen sich in Homs die Schießereien zwischen Deserteuren und Regulären. Der Offizier spricht etwas aus, was in der syrischen Opposition ein Tabu war, was immer wieder verneint und abgelehnt wurde. Eine militärische Intervention des Auslandes. "Was unterscheidet uns von Bengasi", spielt der Offizier auf Libyen an. Er appelliert an den Westen, militärische Berater zu schicken und Waffen. Er wünscht sich eine auf Homs begrenzte Flugverbotszone. Er will es und der Sheik. Die drei Koordinatoren, die ich am Vortag traf, wollen es und auch der besonnene Ahmed. Darin scheint es unter den Führern der Rebellion Einigkeit zu geben: Die NATO muss etwas tun. Oder die Türkei. Eine Pufferzone einrichten. Satellitentelefone liefern. Irgendetwas.

Die Panzer, die sich morgens in Bewegung gesetzt hatten, drohen den Ort zu umschließen. Ich höre das Motorengeräusch. Der Seikh drängt mich, die Stadt in der Nacht zu verlassen, sonst gebe es womöglich keinen Fluchtweg mehr. Ich kehre an Fatens Küchentisch zurück. Ahmed hat nachmittags Kommunalpolitiker getroffen, mit denen er eine neue Partei gründen will. Die alten Herren haben bereits große Teile des Programms niedergeschrieben. Sehr sozialdemokratisch, grinst er. Ganz aufgekratzt ist der Mann, ganz euphorisch. Landesweit versuchen Oppositionsgruppen einen Nationalen Übergangsrat zu formen, so wie in Libyen, damit, sagt Ahmed, das Ausland einen Ansprechpartner hat. Es ist bereits der zweite Versuch. Der erste scheiterte mit der Verhaftung fast aller Ratsmitglieder, jetzt braucht es neue.

Sollen auch wir gehen?", fragt mich Faten am Abend, als ich mit Ahmed aufbrechen will. "Ist es besser, Homs zu verlassen? Oder ist es wichtiger, hier zu bleiben?" Sie verliert ihre mühsam bewahrte Fassung und weint. Ich streichle ihr über den Rücken, hilflos. Faten würde gehen, zu ihrer Schwester nach Damaskus, aber Mazen nicht. Das wäre für ihn Verrat an den gestorbenen Freunden. Während der Vater über Parteistatuten saß, schoss der Sohn auf der Dachterrasse zum ersten Mal seine neue Pistole ab.

Das Morden beginnt an diesem Abend noch vor seiner Zeit. "Was mache ich jetzt?", sagt Ahmed, die Hände am Lenkrad, während um uns herum Schüsse fallen. Er hat mit seinem Wagen die Hauptstraße erreicht. Die Demonstrationen haben noch nicht begonnen, links und rechts der Straße schlendern junge Männer zu den Moscheen. Jetzt suchen sie Deckung, hintern Gartenmauern, in Hauseingängen. Aus dem Wagen heraus sehen wir Hunderte Uniformierte, wie sie rennen, abwechselnd stehen bleiben, anlegen, schießen. Und abermals zu rennen beginnen. "Ruhig bleiben", sagt Ahmed zu sich. Er biegt in eine Seitenstraße ab, hofft, dass es dort sicherer ist. Erst vorgestern hat er das Auto aus der Werkstatt zurückbekommen. Kugeln hatten Kotflügel und die Türen der Rückbank durchschlagen. In den Seitenstraßen tasten sich andere Wagen voran, die Fahrer kurbeln die Scheiben herunter und geben einander Tipps, wie die Gefahr am besten umfahren.

Faten ruft an. Mazen ist mitten in den Demonstrationen. Ahmed stöhnt. Kämpft gegen die Versuchung, die Nummer seines Sohnes zu wählen. Es könnte ihn im falschen Moment ablenken. Er biegt einmal nach rechts, dann noch einmal, denkt an eine Abkürzung und plötzlich stehen wir direkt hinter den Sicherheitskräften. Sechs ihrer Busse blockieren die dreispurige Fahrbahn. Eine rollende Kaserne. In Trauben steigen die Bewaffneten steigen ein und aus. Hinter dem Konvoi staut sich der Verkehr, davor wird geschossen. Ich höre schwerere Explosionen. Sporadisches Maschinengewehrfeuer. Die Busse stoppen für einige Minuten, dann rollen sie weiter. Beharrlich wie ein Pflug den Acker pflügt. Ahmed trippelt am Steuer mit den Fingern. Da zeigt ein Soldat im Heck eines Busses auf mich. Drei weitere tun das Gleiche. Der Konvoi erreicht zum Glück eine Kreuzung, Ahmed fährt ab.

Es werden an diesem Abend vier Menschen getötet und 40 verletzt. Mazen wird die Nacht über im Krankenhaus bleiben, um die Verwundeten zu bewachen. Die Jungen wollen jetzt die Waffen aus den Verstecken holen. Ein Krisenkomitee der syrischen Opposition reist kurzfristig aus der Hauptstadt Damaskus an. Sie reden 15 Stunden. Mit vielen Gruppen, in vielen Vierteln. Die Zeit sei noch nicht reif. Sie warnen, dass die Regimegegner militärisch zu schwach sind und das Regime noch zu stark. Die Befürworter eines friedlichen Widerstandes setzen sich am Ende durch - noch einmal.

Am nächsten Tag gehen in Homs wieder Tausende Menschen auf die Straßen, mit nichts in den Händen als ihren Mobiltelefonen.

 

 

 

 
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