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Er schließt die Bürotür, hinter der das Unsagbare liegt. Nimmt den Messingknauf in die Hand, stemmt sich mit dem Körper dagegen und drückt sie zu. Jovin Yves Pierre steht alleine in seinem Arbeitszimmer. Ein Mann in den Fünfzigern, vergoldete Brille, akkurates Hemd mit Bügelfalten. Er dreht sich zu seinem Schreibtisch um, nur ein einziges Buch ist darauf. Jovin Pierre schlägt es auf, streicht mit den Fingerkuppen über seine Seiten. Sie sind eng beschrieben, Spalte für Spalte, von Pierres zierlicher Handschrift. "Es ist nicht die Ordnung, die wir sonst halten", sagt er entschuldigend. Dann klemmt er es unter die Armbeuge, das Totenbuch des Zentralen Krankenhauses in Port-au-Prince, verharrt für einen Augenblick und tritt wieder zur Tür hinaus. Halt suchend presst er draußen die Hand an die Wand, stützt sich an ihr bei jedem Schritt. Unter seinen Füßen ist der Boden mit einem Brei überzogen, einer schmierigen schwarzbraunen Masse, in die der Mann bis über die Schuhsohlen einsinkt. "Es kann sein, dass wir in diesen Tagen Fehler machen", sagt er."Ich kann das nicht ausschließen. Ganz sicher gab es Verwechslungen." Der Direktor des Leichenschauhauses sieht kurz vom Boden auf. Er schätzt den besten Weg über das Krankenhausgelände ab und blickt vor sich auf hunderte verwesende Leiber, neben- und übereinander gelegt. Sie strecken ihre Arme aus, sitzen breitbeinig, sind mit den Rücken aneinander gelehnt. Ihr Gedärm platzt aus den Bäuchen und ergießt sich überall auf dem Boden als Morast. Eine Reportage über Haiti nach dem Erdbeben.mehr 

 

He closes the office door behind which lies the unspeakable. He takes the brass knob in his hand, leans on the door with his whole body, and presses it shut. Jovin Yves Pierre stands alone in his workroom. A man in his fifties, gold-rimmed glasses, dapper shirt with creases from the iron. He turns toward his desk. There is only one book on it. "This isn't the kind of order we usually maintain," he says apologetically. Then he clamps it under his arm, the Book of the Dead of Port-au-Prince's main hospital. He pauses for a moment, then steps once again through the doorway. To keep his balance, he presses one hand against the wall, leaning on it at every step. The ground under his feet is covered with porridge, a smeary brown-black mass into which the man sinks past the soles of his shoes. "It may be that we are making mistakes in these days," he says. The morgue director looks up from the ground. He calculates the best route to take through the hospital courtyard, looking ahead at hundreds of rotting bodies laid next to and on top of one another. They stretch out their arms, sit with legs spread, have been propped leaning back to back. Their bowels burst from their abdomens and pour out everywhere on the ground as a quagmire. more

 

 

 
 

Ihre Fingernägel kratzen über die Wand, die schwarz und speckig ist von den Händen unzähliger Frauen. Sie krallen im Putz, brechen kleine Körnchen aus ihm und ziehen von oben nach unten eine helle Bahn. Haltlos fällt der Arm hinab auf den gekrümmten Körper. Die 20-jährige Fatmata Kammal windet sich auf einem Bettgestell, ausgezehrt, mit zitternden Beinen, in der 41. Woche schwanger. Sie dreht den Kopf steil in den Nacken und würgt die Kiefer auseinander. "Gott komm näher," keucht sie, "lieberlieberlieber Gott." Die Wehen haben vor zwei Tagen begonnen, sie blutet seit zwei Wochen, und schon längst hätte Fatmata das Baby bekommen sollen. Der Boden unter ihrem Bett ist bedeckt von Urin, Erbrochenem und blutiger Watte. "Pressen!", rufen die alten Frauen, ihre Geburtshelferinnen, die jetzt immer nervöser auf die Schwangere schauen. Drei von ihnen haben sich in dieser dunklen Kammer versammelt, dem Ort, an dem sich das Leben und der Tod berühren.  Eine Reportage über das größte Risiko, dem sich Frauen in Afrika aussetzen können: schwanger zu sein. mehr 

 

Their fingernails scratch across the wall, which is black and greasy from the hands of countless women. They scratch into the plaster, break out little granules, create a vertical swath that is lighter in color. Directionless, the arm falls back down to the bent body. 20-year-old Fatmata Kammal flails on the bed frame, haggard with trembling legs, 41 weeks pregnant. She jackknifes her head back towards the nape of her neck and pulls her jaws open. "Come closer, God," she gasps. "Dear, dear, dear God." The pains started two days ago. She has been bleeding for two weeks. Fatmata should have had this baby a while ago. The floor under her bed is covered with urine, vomit and bloody cotton batting. "Bear down!" the old women cry, her midwives, who look at the pregnant woman with increasing nervousness. Three of them have gathered in this dark room, a place where life and death come close enough to touch. A story on the greatest risk that women in Africa face: getting pregnant.more

 

 

 
 

Die Reise zum Nordpol gleicht einer Nahtod-Erfahrung. Aus der Nacht Europas führt sie über Norwegen immer tiefer ins Licht, das anfangs nur ein Saum am Horizont ist und über dem 89. Breitengrad schließlich zum Brennen wird, das die Augen reizt, sie auf Dauer erblindet lässt. Er ist der Ort, der die Dimensionen von Raum und Zeit aufhebt, wo ein Jahr aus einem Tag und einer Nacht besteht, jeweils sechs Monate lang. Es gibt nichts mehr, was jenseits liegt, nur das All noch, das Unfassbare, die Grenzen des menschlichen Verstandes. Eine Reportage über den Boom des Nordpoltourismus.mehr  

 

The journey to the North Pole resembles a near-death experience. From the night of Europe, it leads across Norway ever deeper into the light. In the beginning, the light is only a seam on the horizon, but above the 89th parallel it becomes a burning that irritates the eyes and, over time, blinds them. It is a place that invalidates the dimensions of space and time, where a year contains one night and one day, each six months long. Past it, there is nothing – only space, the unfathomable, the boundaries of human understanding. A feature on the booming North Pole tourist trade. more 

 

 

 
 

Die Fabrik der Deutschen, die der Stadt Arbeit gab, ist verlassen, alles Leben aus ihr gewichen, einzig die Deckenventilatoren drehen sich. Rotieren lautlos über dem Kopf von Fernando Castro. "Diese Stille," sagt der 66-Jährige, "du wirst am Ende ganz verrückt von ihr." Er hat am Vorabend zwei Schlaftabletten geschluckt und ein Beruhigungsmittel dazu. Doch die halfen nicht, weshalb er zu einer dritten Tablette griff. Die Fabrik nimmt er mit in den Schlaf. Jeden Tag betritt er sie zur Sicherheit durch die gleiche Tür. "Ich verliere sonst die Orientierung", klagt er. Entlang weißer Zettel, die er in den Wochen zuvor auf Türen und Maschinen klebte, sucht er auf 50 000 Quadratmetern den Weg durch Hallen und Gänge, einem in Jahrzehnten gewachsenen Labyrinth von Bauten, Anbauten und Erweiterungen. Ein Assistent begleitet ihn, so sind sie zu zweit, sollte ein Unfall passieren. Die beiden Männer leben davon, das Lebenswerk anderer zu demontieren. Doch diesmal geht der Auftrag über ihre Kräfte. Die Fabrik war bis vor kurzem die größte Schuhfertigung Portugals, eine der größten des Landes überhaupt, und Fernando Castro ist ihr Abwickler. Einer, der immer dann erscheint, wenn das Hoffen vergebens war. Eine Reportage aus der Wirtschaftskrise Portugals. mehr 

 

The factory, built by Germans, once employed the town. Now it is abandoned. Every sign of life has retreated. Only the ceiling fans still move, slowly rotating over the head of Fernando Castro, 66. "This silence," he says. "In the end it will drive you crazy." He took two sleeping pills last night, plus a tranquilizer. They didn't work, so he took another pill. He takes the factory with him to bed at night. He comes in through the same door every day. "Otherwise I would lose my sense of direction," he complains. Following the trail of white tags he has glued to doors and machines during the past weeks, he finds his way through 50,000 square meters of floors and hallways, a labyrinth of buildings, additions and expansions that arose over decades. An assistant accompanies him. They use the buddy system, in case of accident. The two men make a living dismantling what took others a lifetime to build. This time the contract is more than they can handle. The factory was until very recently the largest manufacturing plant for shoes – and one of the largest factories of any kind – in Portugal. Fernando Castro is its liquidator, the man who appears only after all hope has been proven futile. A feature on the economic crisis in Portugal.more

 

 

 
 

Er bringt es an diesem Tag zu Ende, ein letzter Schnitt, rasch, ohne Schmerzen, so hat er es sich vorgenommen. Anton Tittl steigt aus dem Führerhaus des Lkw, blickt um sich und sieht, dass es hier so einfach nicht geht. Es ist der 12. August. Der Viehhändler steht auf dem Hof der Familie Breuninger in Steinbach, einem Dorf im baden-württembergischen Hohenlohe, und niemand ist da, um ihn zu empfangen. Schotter knackt unter seinen Füßen. Er schaut zum Stall, zum Wohnhaus, wartet. "Wollt ihr nicht raus kommen?", ruft er nach einigen Minuten. "Wo seid ihr?" Die Laderampe seines Lkw hat Tittl geöffnet, die Seile und Schlingen hängen bereit. "Das ist komisch", murmelt er. Vor einer halben Stunde hatte er am Telefon Bescheid gegeben, dass er käme. Sie sagten, sie seien soweit. Heute ist der Tag, an dem die Breuningers nach Jahrhunderten aufhören, Milchbauern zu sein. Sie geben auf, was sie immer waren. Tittl soll die letzten fünf Kühe zum Schlachthof fahren. "Wo steckt ihr?!", ruft der Viehhändler gegen die Wände. Die Hauptpersonen weigern sich, zu erscheinen. Er wird allmählich unruhig. Der Hof bleibt stumm. Ein Jahr lang haben Autor und Fotograf die Familie durch ihre letzte Saison begleitet. mehr   

 

He will end it today. One last cut, quick and painless. That's his plan. Anton Tittl climbs down from the cab of the truck, looks around, and sees that it won't be that simple. It is August 12th. The cattle trader stands in the courtyard of the Breuninger farmhouse in Steinbach, a village in the Hohenlohe region of Baden-Württemberg. No one is there to receive him. The gravel crackles under his feet. He looks at the barn, at the house, and waits. "Don't you want to come out?" he calls after a few minutes. "Where are you?" He has opened the loading ramp of the truck. The ropes and nooses are hanging at the ready. "This is strange," he mutters. He told them half an hour ago on the telephone that he was coming over. They said everything was prepared. Today is the day when the Breuningers, after centuries, stop being dairy farmers. When they give up being what they always were. "Where are you?!" the cattle dealer yells toward the walls. He gradually becomes uneasy. The farmyard remains silent. The author and the photographer Hardy Müller followed the family for a year during their final season. more

 

 

 
 

Der Druck der Detonation hebt den Staub von der Straße. Er schlägt wie eine Faust auf die Ohren, reißt hart am Trommelfell. Ich schreie. Putz platzt von den Wänden. Die Luft in meinem Zimmer färbt sich weiß. Der Stuhl, auf dem ich sitze, schleift mit einem Ruck über den Boden. Meine Knie zittern. Ich höre den Übersetzer neben mir, dumpf nur, er brüllt. Es ist wenige Momente her, da haben wir das Verlagsgebäude der Tageszeitung al-Mada betreten, Bagdad, mitten im Stadtzentrum. Durch den Staub sehe ich jetzt Redakteure, die hinaus auf die Straße rennen, fahl, unverletzt aber, nervös an Zigarettenschachteln zerrend. "Eine Autobombe vor dem Gebäude", sagt der Übersetzer. "Eine Straßenbombe", widerspricht ihm der Chefredakteur. "Ich hab das im Gehör." Jemand hat sie über Nacht als Müll getarnt auf die Fahrbahn gelegt. Bagdad nach dem Abzug der Amerikaner, eine Reportage. mehr 

 

The pressure of the detonation lifts the dust off the street. It strikes my ears like fists, rips hard at my eardrums. I shriek. Plaster buckles off the walls. The air in my room turns white. The chair where I sit lurches across the floor. My knees tremble. I can hear the translator next to me, but only barely. He is shouting. It was only a few moments ago that I entered the offices of the daily newspaper al-Mada, in the middle of downtown Baghdad. Through the dust I can see editors running into the street, chalky but unharmed, pulling nervously on packs of cigarettes. "A car bomb in front of the building," the translator says. "A roadside bomb," the editor in chief corrects him. "I can tell by the sound." Someone laid it next to the pavement at night, disguised as a sack of garbage. A firsthand account of Baghdad after the American withdrawal.   more 

 

 

 
   
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