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Versorgungswerk Wolfsburg

 

 
 

Die Welt ist in Wolfsburg morgens um 5.30 Uhr kein Volkswagen-Prospekt. In der „Tunnelschänke“ bei Bruno lösen sich die Letzten seufzend von Pils und Korn, Tankfüllung für die ersten Arbeitsstunden, und reihen sich ein in den trägen Strom. Nichts kann die Menschenmasse vom Weg abbringen, weder Gruß, noch Plausch, noch Illusionen. Bewegungen wie unter Hypnose. Frühschicht folgt auf Nachtschicht. Bruno zapft zehn Gläser für die nächsten Kunden vor. Feierabendbier der Nachtschichtler. Dreimal am Tag verschmelzen Wolfsburg und Werk, tauschen sie Menschen aus. Die Stadt bekommt müde, die Fabrik muntere, 50 000 insgesamt, morgens, mittags, abends. Der Schichtwechsel bei Volkswagen ist eindrucksvoll wie das Naturereignis von Ebbe und Flut. Es gibt kaum eine Stadt in Deutschland, die so eins ist mit einem Unternehmen wie Wolfsburg mit VW. Korruptionsskandal und Konzernkrise stürzen den Ort jetzt in eine große Unsicherheit. Die Wolfsburger fürchten: Die Fabrik frisst ihre Kinder.

Nervös und angegriffen sitzt Rolf Schnellecke im Ledersessel. Der CDU-Mann ist Oberbürgermeister einer Stadt wie sie kaum erfolgreicher sein könnte. Das Prognos-Institut kürte die 122 149 Einwohner Gemeinde noch vor einem Jahr zur dynamischsten Deutschlands. „Wir sind ohnmächtig“, sagt der Verwaltungschef von „Niedersachsens Shanghai“, wie ein Reiseblatt vor zwei Jahren schwärmte. „Überall Misstrauen. Es ist unbegreiflich, was drüben bei VW passiert.“ Früher trat er auf mit der Gemütsverfassung eines Ölbarons, jetzt hat auch er seine Selbstsicherheit verloren.

Unter Schnelleckes zehnjähriger Ägide wandelte sich der Ort von der grauen Werkssiedlung zur Freizeit-Perle am Mittellandkanal. Neues Fußballstadion, neues Erlebnisbad, das größte Norddeutschlands, neue Auto-Uni, neues Science Center. Die berühmtesten, teuersten Architekten ließ Schnellecke bauen, während viele Kommunen in Niedersachsen ruhmlos der Pleite entgegen steuern. Die Arbeitslosigkeit sank von 19 Prozent auf nur noch zehn. Jobwunder Wolfsburg. Hier gelang das, was VW-Personalvorstand Peter Hartz und Kanzler Schröder bundesweit vergeblich versuchten. Wolfsburg hat einen reichen Mäzen, den Deutschland nicht hat, fast alle Wolfsburger haben ihn, auch Schnellecke. Besonders Schnellecke.

Der Oberbürgermeister ist nebenbei noch Spediteur, Karosseriebauer, Logistiker. Weltweit arbeiten 6000 Leute für das Familienunternehmen, Hauptkunde ist VW. Überall, wo VW ist, in China, Mexiko, Südafrika, ist auch der Schnellecke-Konzern. „Eigentlich hätte ich jetzt in Mexiko nach den Rechten sehen wollen“, seufzt der Politunternehmer. „Da war ich schon seit zwei Jahren nicht mehr.“ Er sieht keinen Interessenskonflikt zwischen seinen zwei Funktionen. Erst im April bootete ein Unternehmen der Schnellecke-Gruppe im VW-Werk Chemnitz die TNT Logistic aus und erhielt den Zuschlag für die Transportleistungen. So jemand wie Schnellecke wäre in jeder anderen Großstadt als OB undenkbar, ein ständiger Affront, aber die Wolfsburger mögen ihn. Sie lebten bisher gut mit ihm. Er regiert im Rathaus mit großer Koalition, nennenswerte Opposition gibt es nicht. So ist der SPD-Fraktionsvorsitzende zugleich verantwortlich für die VW-Ausbildung. Und ein SPD-Ortsbürgermeister, lange stellvertretender VW-Betriebsratsvorsitzender, fungiert jetzt als Geschäftsführer des VFL Wolfsburg. Wichtigster Anteilhalter dort: der Konzern. „Er hat eine Menge für die Stadt rausgeholt“, sagen deshalb viele anerkennend über Schnellecke. „Er kann mit denen bei VW.“ Das ist hier eben so. VW – das steht auch für: Versorgungswerk Wolfsburg.

Der Himmel ist aus Backstein, 125 Meter hoch stechen Kamine hinauf, eine fast drei Kilometer lange Produktionshalle verlegt den Horizont. Die Fabrik ersetzt das Mittelgebirge. Eng schmiegt sich die Stadt ans Werk, von hier kommt alles, auch die Fernwärme, die fast jedes Haus der Stadt beheizt. In der Weihnachtszeit fungieren die vier VW-Kamine als Adventskranz. Jeden Sonntag leuchtet der Stadt ein Kamin mehr. Straße und Plätze tragen oft Namen von VW-Gesamtbetriebsratsvorsitzenden oder VW-Vorstandsvorsitzenden. Zu runden Stadtgeburtstagen gibt es vom Konzern etwas geschenkt. Zum Vierzigsten bekam Wolfsburg 1978 das einzige Großplanetarium Niedersachsens. Zum Sechzigsten die Halbierung der Arbeitslosigkeit. Ein intaktes Vater-Kind-Verhältnis.

Die Stadt revanchiert sich: Die Straßen reichen für das dreifache Verkehrsaufkommen. Meist geht es vierspurig durch den Provinzflecken, dafür haben Bürgermeister schon in den 60er Jahren gesorgt. Die ideale Lebensform ist hier eindeutig die des Autofahrers. Er kann parken, wie er will, wo er will. Schräg, halb auf dem Trottoir, im eingeschränkten Halteverbot, im absoluten: Strafzettel sind eine Rarität. Nur im Schrebergarten ist das rückwärts Parken verboten, die Abgase belästigen die Kleingärtner beim Sonnenbaden. Wenigstens sie bringen ein wenig Balance in Wolfsburg Automobileseele.

Zwischen Autofabrik und Autohäusern bleibt den Kleingärtnern des Vereins „Westersieck“ ein schlauchförmiges Refugium. Ganze 31 Schrebergartenvereine versuchen Wolfsburg hartnäckig zu einer heilen Welt zu jäten und zu zupfen. „Na, wie ist jetzt die Stimmung im Betrieb?“, fragt Rentner Otto den Hans vor der Vereinskneipe. Otto war früher Käfer-Testfahrer, verunglückte dabei schwer. Er brennt auf alle Nachrichten. „Frag nicht“, schaut Hans von der „Bild“-Zeitung auf. Die Titelseite zeigt eine Viagra-Pille mit VW-Emblem drauf. „Bei uns in der Verwaltung geht es noch. Richtig schlimm ist es in der Fertigung. Da rumorts. Die haben keinen Bock mehr. Otto, es kommt noch ganz dicke.“

Die Korruptionsaffäre wird Wolfsburg verändern. Es ist Wendezeit am Mittellandkanal. In den Bars, wo abends die Kommunalpolitiker zusammen kommen, wird die Zukunft neu zusammen gesetzt. „Wir werden in zehn Jahren die Stadt nicht wiedererkennen.“ Der neue VW-Markenvorstand Wolfgang Bernhard erhalte mehr Macht. Sechs Werke habe der bei Chrysler zugemacht. Sieben Milliarden Euro will er bei VW einsparen. Was bleibe dann noch für Wolfsburg? Der Golf-Geländewagen steht zur Disposition. Das Werk ist nur zu 70 Prozent ausgelastet. Wird die Stadt als Standort nicht mehr so wie früher gebraucht? Wird sich das Werk dem Wurmfortsatz Wolfsburg vielleicht eines Tages gar entledigen? „Wir sind die Hauptstadt Volkswagens“, beschwört Schnellecke in seinem Rathaus. „Wir müssen aufpassen, dass das nicht in Frage gestellt wird.“ Die ganze Stadt war in Existenzangst, als vor 20 Jahren bei VW Überlegungen die Runde machten, die Zentrale nach Frankfurt/ Main zu verlegen. Das ist unvergessen.

Die Fabrik ist den Wolfsburgern was den Sizilianern der Ätna: Fruchtbarer als anderswo ist die Erde hier, aber die Angst weicht nie: Wann bricht er aus? Das letzte Mal schleuderte VW Asche auf die Stadt Mitte der 90er Jahre, als 10 000 Jobs abgebaut wurden. Immer wieder rückten sie hier deshalb eng zusammen. Eine Schicksalsgemeinschaft. Die Eltern der meisten sind Vertriebene, Flüchtlinge aus den Osten, die nach dem Krieg froh waren irgendwo anzukommen. Sie malochten in der Fabrik, die Hitler 1938 hatte bauen lassen. Die Werkssiedlung taufte er „Stadt des Kraft durch Freude-Wagens“. Nach dem alten Schloss vor der Fabrik wurde sie später in Wolfsburg umbenannt. Die Vertriebenen erarbeiten hier ein ordentliches Stück des Wirtschaftswunders. Ihre Autoschmiede war in Deutschland die erste, die den Betrieb wieder aufnehmen konnte. Keine Käfer-Romantik, sondern monotone Knochenarbeit, die Einheimische gerne mieden.

Die zweite Heimat, die sie fanden, war die IG Metall. Die Gewerkschaft ist die eiserne Klammer um Wolfsburg. 97 Prozent der Volkswagen-Beschäftigten sind in ihr organisiert. Die Metall Verwaltungsstelle soll die wohlhabendste Deutschlands sein. Die Gewerkschaft, hofften ihre Mitglieder, solle die Bestie VW bändigen. Das tat sie. Die Löhne, die sie erkämpfte, liegen 20 Prozent über dem Flächentarif. Zuschläge sind hoch, Arbeitszeiten kurz. Ihre Erfolge unterdrücken die Kritik. Selbst nach der Bestechungsaffäre sind bislang nur 28 Metaller ausgetreten. „Wenn du austrittst, hast du im Werk keine Aufstiegschancen mehr“, sagt einer, der selber treues Mitglied bleibt. „Bei Beförderungen muss ja der Betriebsrat zustimmen.“ Einige Wolfsburger sind der Meinung, unter der Hand natürlich nur, die Gewerkschaft gehe zu weit. Sie erdrossele den Konzern.

„Da fing es an“, schimpft im Kleingärtnerheim Günther aus der Buchhaltung von VW. „Als die Betriebsräte vor ein paar Jahren den Dienstwagen bekamen. Ich habe denen gesagt, Kollegen, ihr seid doch nicht mehr unabhängig.“ Drei Generationen seiner Familie arbeiten im Werk. Sohn in der Wartung, Großvater früher in der Galvanik. „Der hat sich da seine Gesundheit kaputtgemacht.“ Günther geht in drei Jahren in Rente, „endlich“, stöhnt er. Die Metaller wird er bei den Neuwahlen im Frühjahr nicht mehr wählen. Eine Gewitterböe schlägt gegen das Vereinsheim, das Fensterglas knistert. Am Tresen reißen alle die Köpfe herum. „Scheiße“, sagt Otto, der Käfer-Testfahrer. „Meine Rosen.“

Der Sturm jagt die Menschenmenge auseinander, die in einem Hinterhof in der Stadtmitte um Brot und Bananen ansteht. „Zum Glück haben wir das meiste schon ausgegeben,“ atmet die Vorsitzende der „Wolfsburger Tafel“, Elke Zitzke, tief durch. 40 Männer und Frauen, darunter etliche Kinder, pressen sich unter Dachvorsprüngen. Zitzke bettelt bei Supermärkten um überschüssige Lebensmittel, um sie Bedürftigen zu verteilen. Die Zahl der Armen steigt in Wolfsburg, viele Hartz IV-Fälle sind unter der Tafel-Klientel. Mit der VW-Krise gebe es sicher bald mehr zu tun. Erste Zulieferer würden schon entlassen. Zitzke ist ratlos, woher die zusätzlichen Grundnahrungsmittel nehmen. „Wir haben hier leider keinen einzigen Lebensmittelhersteller im Ort, den wir fragen könnten. Wir haben nur Autos. Aber die bringen unseren Leuten nichts.“

Der Wolkenbruch, der Zitzkes Essensausgabe unterbricht, steigert im Pool des „The Ritz-Carlton“ das Lustempfinden. Die prickelndste Wasserdüsen-Massage. Dies ist eine Welt, wie sie es sich eine Marketingabteilung nur wünschen kann. In das alte Hafenbecken, wo früher Kohle gelöscht wurde, haben die Manager des Fünfsterne-Hotels eine Spa-Landschaft gelegt. Die Maloche der Vorväter scheint hier triumphal überwunden. Im Expo-Jahr 2000 hat sich Volkswagen einen spektakulären Showroom gebaut, 25 Hektar groß, acht futuristische Pavillons, in denen das Weltreich VW seine Kontinente wie Seat, Bentley, Audi präsentiert. 14 Euro kostet der Eintritt, jedes Jahr zwei Millionen Besucher angeblich.

Wie eine Spinne im Netz liegt das Kundencenter, wo Hunderttausende ihren Neuwagen abholen. Nur die Geburt eines Kindes kann überwältigender sein: Mario Breternitz aus Thüringen strahlt vor Glück. Seine Eltern sind gekommen, Bruder, dessen Freundin, um alle miteinander Marios ersten Neuwagen frisch vom Werk abzuholen. „Ich hatte eine unruhige Nacht“, sagt der 25-Jährige. „Diese Vorfreude, den Wagen das erste Mal anzufassen.“ Breternitz hat den Kauf des Golf V auf seinen Geburtstag gelegt. In Thüringen werden sie am nächsten Tag eine kleine Autoschau veranstalten, mitten auf der Hauseinfahrt, zusammen mit 15 Freunden und Bier und Wein. Ein VW-Angestellter ist auch zum Abholen seines Wagens erschienen. Eines Jahreswagens natürlich. Er strahlt nicht vor Glück. „Ich hoffe, er ist dieses Mal in Ordnung. Von den 25, die ich hier bekam, habe ich fünf wegen Mängeln wieder zurückgegeben.“

Das Avon-Vertreterprinzip. Wie beim Kosmetikhersteller kurbelt fast jeder VW-Angehöriger kräftig an der Vertriebsmaschine. Die halbe Stadt ist ein bewohntes Autohaus, Glaspaläste der Gebrauchtwagenhändler säumen die Straßen, VW, Seat, Audi, Skoda. Wie große Kristalle schimmern sie selbst in kleinsten Dörfern der Umgebung. 98, 7 Prozent aller zugelassenen Fahrzeuge in Wolfsburg gehören zur Hausmarke. Zu 20prozentigen Abschlägen können VW-Mitarbeiter alle neun Monate einen Jahreswagen bestellen. Auf dem „Schweinemarkt“ stehen sie dann wieder zum Verkauf, samstags, Tor West, Parkplatz Forschung und Entwicklung. Der „Belegschaftsverein Jahreswagenhilfe“ bringt die Typenschilder an. 400 Arbeiter wollen an diesen Tag ihren VW verkaufen. Kunden? Eigentlich keine.

Roland Weidner reißt die Golftür auf. „Schauen Sie, zwischen den Sitzen eine praktische Durchreiche, perfekt für die Skier.“ Zum siebten Mal hält der Rentner, 42 Jahre bei VW, Wacht auf dem Schweinemarkt, vertrödelt den Vormittag. „Man lebt in der Hoffnung, doch eine Chance zu haben.“ Um tausend Euro hat Weidner schon reduziert. „Trotzdem nichts.“ Volkswagen ist zu teuer, sagen die Arbeiter hier. Zu viel Schnickschnack außerdem. In Kundenbefragungen zur Qualität landet VW weit abgeschlagen auf Platz 34. Die Modelle verkaufen sich nicht. Das weiß auch der Konzern. Aber er weiß sich nicht so richtig Rat. Zu Neuentwicklungen fehlt auch ihm das Geld. Die „Geier“ stöbern am Ende des Vormittages durch den Markt. Sie kaufen zu Billigstpreisen bei Anbietern, die in Notlagen sind.

Im „Texas Gold“, der Table-Dance Bar, nicht weit von Brunos Tunnelschänke, gibt es keinen Sexskandal. Gelangweilt belagern sieben Frauen die wenigen Gäste. Auf dem Sofa hat sich eine zum Schlafen zusammengerollt. Gedankenlos krault ein VW-Schweißer seiner Herzdame den Nacken, abwesend schauen beide den neuesten Tanzstückchen zu. „Applausss für sssexy Lissssa!“ murmelt der freundlich lispelnde DJ ins Mikrofon. Die Stammkundschaft sitzt hier in den Polstern wie zuhause vorm Fernseher. „Wenn es VW schlecht geht, geht es uns doppelt schlecht“, weiß die brünette Lu. Der Schweißer steckt der Tänzerin einen Schein in den BH. Aus seiner Privatschatulle. „Aber klar,“ sagt er. Hier wird noch selber gezahlt.

 

 

 

 

 

 

 

 

 
 
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