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PHOTOGRAPHIE Andreas Lobe

 

Die Angst in einer Handvoll Staub.

 

 

Das Dorf, das niemals schläft, heißt Opachichi. Wenn Rentnerin Elena Nikolaenko nachts in ihrem Bett liegt und in das dunkle Zimmer starrt, hört sie die Ruhelosen. Lärm ist dann rund um das Haus. Vor den Fenstern singen und kreischen Kinder, muhen Kühe und meckern Ziegen, flüstern Stimmen. Vertraute Stimmen, die es gut meinen mit Elena. „Sie kommen, um mir zu erzählen, wie das Leben war, bevor die Hölle über uns kam.“ Vor drei Jahren ist die Hölle mitten in Elenas Gesicht gefahren. Als erstes fraß sie den linken Nasenflügel, jetzt ist ein großes Loch in ihrem Schädel. „Der Doktor sagt, es ist ein Tumor.“ Irgendwann wird das Geschwür das Gehirn erreichen. „Gott, lass es schneller wachsen!“ fleht die 77-Jährige in Nächten der Schmerzen. Doch die Hölle lässt sich Zeit. Nur zwölf Kilometer ist sie entfernt, Ingenieure gaben ihr einen langen Namen: RBMK, Reaktor der Siedewasser-Klasse mit Einkreisanlage. Tschernobyl.

Die leeren Fenster wirken wie Augenhöhlen, und alle starren sie auf Andrej Antonovich Rudschenko. An Tagen, an denen er zu viel getrunken hat, kann er ihre Blicke schwer ertragen. Er läuft durch die Dunkelheit des frühen Morgens, in der Hand eine Plastiktüte. Oft schaut sich der 71-Jährige unwillkürlich um. „Der Borysenko“, murmelt Andrej vor dem Holzskelett, das einst Haus des immer unglücklichen Witwers war. Wann hat er den zum letzten Mal gesehen? Matsch spritzt an seinen Stiefeln hoch. Früher gab es an den Straßen noch Laternen und in den Fenstern Glas. Früher schlugen auch die Hunde an. Heute ist die Nacht in Tschernobyl fast geräuschlos. Andrej geht den Weg zum Fluss. Der heißt Pripjat und transportiert eine tödliche Fracht. „Das ist doch Unsinn. Radioaktivität?!“Andrej steigt am Hafen in ein kleines Ruderboot. „Wo ist hier Radioaktivität?!“ Aus der Plastiktüte wickelt er ein Fischernetz. Am liebsten geht er in der Morgendämmerung fischen, denn da beißen die Fische am besten. Zuversichtlich stößt sich Andrej vom Ufer ab.

Dörfer und Städte sind Ruinen, die Landschaft, durchpflügt von Menschen seit Jahrhunderten, ist in Auflösung. Büsche und Hecken, mannshohes Gras lassen Äcker und Weiden verschwinden. Tschernobyl ist das Pompeji des Atomzeitalters. Am 26. April 1986 führte eine Notfall-Übung im Block vier des Kernkraftwerks zur größten nuklearen Katastrophe der Menschheit. Ein Gebiet, größer als das Saarland, wurde von radioaktiver Asche bedeckt, unsichtbar, dafür aber um so beständiger. Erst in 100 000 Jahren wird die Region für den Menschen wieder bewohnbar sein. Bis dahin ist sie Sperrgebiet. An den Folgen des Unfalls sind bis heute 70 000 Menschen gestorben. 110 000 Einwohner wurden evakuiert.

Andrej, der Fischer, und seine Familie hatten drei Stunden Zeit, um ein paar Habseligkeiten mitzunehmen. Die Polizei erklärte ihnen, dass es sich um eine vorläufige Maßnahme handele, dass sie nach drei Tagen zurückkehren könnten und dann alles wieder wie früher sei. Aus diesen drei Tagen wurden hundert Jahrtausende. Unter dem brüchigen Betonmantel des havarierten Atommeilers brennt das nukleare Feuer unvermindert.

3 000 Menschen kehrten wieder in ihre Heimat zurück und leben Zaun an Zaun mit dem Strahlentod. Einer von ihnen ist Andrej Rudschenko. Er ist ein wahrhaft glücklicher Mann. Am 23. April 1986 quittierte er den Dienst bei der Feuerwehr der Stadt Tschernobyl. Am 26. und 27. April starben seine 34 Kollegen. Mit Aluminiumhelmen und Spritzenwagen rannten sie gegen das zyklopische Atomfeuer. Eine Bronzetafel in der Kirche erinnert an die Toten, und Andrej Antonovich kümmert sich mit einem Staublappen um sie. Seit einem Jahr ist er Messner in Tschernobyl, zurückgekehrt von der lieblichen Krim, wo ihm die Regierung eine Wohnung geschenkt hatte. Seine Frau Olga litt dort unter Depressionen, fühlte, bald sterben zu müssen, wenn sie nicht nach Tschernobyl zurückkehren könne. Heute wohnen sie wieder im Haus von Andrejs Vater, Großvater und Urgroßvater. „Wir werden nie wieder gehen.“

„Die Zone“ heißt die Heimat von Andrej und Elena im amtlichen Sprachgebrauch. Sie beginnt an einem drei Meter hohen Maschendrahtzaun, den Soldaten errichtet haben. Gleich nach der Katastrophe wurden 20 Dörfer dem Erdboden gleichgemacht und von Baggern in Gruben geschoben. Einige Dörfer wurden abgebrannt. Andere verfielen. In einem davon, in Opachichi, lebt und stirbt Elena Nikolaenko mit dem Tumor, der langsam ihr Gehirn frisst .

Sie hatte ihr Dorf selten verlassen. Es gab dafür auch keinen Grund, denn Opachichi war ein reiches Dorf, mit Kino, Geschäften, fruchtbaren Boden. Bevor das Atomfeuer die Menschen aus ihren kleinen Holzhäusern und von ihren Feldern trieb, war Elena nur einmal in der Fremde. Die Wehrmacht hatte sie nach Deutschland verschleppt. Zwei Jahre lang schälte sie als Zwangsarbeiterin bei Frankfurt/ Oder Kartoffeln, bis die Rote Armee kam und sie aus dem Arbeitslager befreite. Sie kehrte nach Opachichi zurück, zu Fuß, vier Wochen lang, immer an der Eisenbahn entlang. „Jemand hat im Radio gehört, dass die Deutschen uns Entschädigungen zahlen wollen. Schade, ich hätte das gerne erlebt.“ Der Tumor, das weiß sie, wird sie um die Entschädigung der deutschen Regierung bringen. Das Geld kommt zu spät nach Opachichi.

Die Spitzen der Tschernobyler Kirche würden in die Tiefe stürzen, hielten Baugerüste sie nicht provisorisch in ihrem Himmel. Elena Dementjeuna, eine andere Elena, dasselbe Alter, senkt den Blick, wenn sie sonntags zum Popen geht. Sie will die Türme nicht sehen, denn dort oben nahm das Unheil seinen Lauf. Elena erzählt es unter Tränen. Wie wenige Tage vor dem Ausbruch des Feuers eine Hure den rechten Turm hinauf stieg. „Sie trieb es mit vielen Männern im Ort“, weiß Elena Dementjeuna. „Das Geld des Kraftwerkes hat unsere Männer verführt. Und Gott hat uns dafür bestraft.“ Die Hure stürzte sich vom Turm. Aber das war Gott noch nicht genug. Er richtete ganz Tschernobyl.

Elena ist eine Kämpferin, alte Partisanin, und kämpft um einen Neuanfang in der zerstörten Stadt. Sie hat vier Bibeln gekauft und viele Ikonen, damit sich so ein Unheil nicht wiederholt. Sie liest Bibel und sieht fern. So vergehen ihre Tage. Wenn sie Kohlen braucht, schleppt sie den Blechkübel durch die Keller der zerfallenen Nachbarhäuser. „Kohle ist hier überall. Die hat keiner mitgenommen.“

Die Regierung hatte Elena in eine Zwei-Zimmer-Wohnung eines Plattenbaus evakuiert, neunter Stock, in Zytomyr, 140 Kilometer südlich von ihrem verseuchten Zuhause. „Wie sollte ich da leben?“ In jedem Traum sah sie Tschernobyl, das Städtchen im Grünen. „Mein Tschernobyl. Mein Garten.“ Sieben Monate nach dem Unglück kaufte sie sich ein Busticket und reiste an die Zonengrenze. Um sie zu passieren, benötigt man einen besonderen Ausweis, den hatte sie nicht. „Ich habe im großen vaterländischen Krieg gekämpft!“ schrie sie den jungen Milizionären ins Gesicht. „Ich habe mit den Partisanen gekämpft. Die haben gesagt: Viele sind für dich gestorben! Verlasse deine Heimat nicht!“ Elena durfte passieren.

Sie schaffte es bis zu ihrem Haus. Wie die meisten Häuser in Tschernobyl besitzt es den Charme einer Gartenlaube. Ein wahres Idyll. Backstein für Backstein ist durch Elenas Hände gegangen. Gemeinsam mit ihrem Mann hat sie es vor 30 Jahren aufgebaut. Dort hat sie ihre Kinder groß gezogen, dort stand sie nun inmitten einer Kloake. Die Möbel geplündert, der Garten verwildert, das Auto aus der Garage geklaut. Dann wurde auch das Motorrad ihrer Tochter gestohlen. Ein Milizionär fuhr einfach damit davon. Die Java, Jahrgang 76, war ihr als letztes geblieben. Elena hasst Motorräder – „die bringen die Menschen um“. Doch die alte Frau nahm dafür den Kampf mit den Behörden auf. Sie holte die verrostete Pistole aus Partisanenzeiten aus geheimem Versteck und zog vor das Haus der Miliz. „Ich schieße!“ Das Motorrad steht heute in ihrem Wohnzimmer inmitten bunter Blumen.

Nach der Rückkehr wusch sie ihr Haus von außen, vertrieb das Grau, schrubbte das Weiß hervor. Die Zonenverwaltung drohte Elena mit Zwangsräumung, mit Abschalten von Wasser und Strom. Ärzte des Katastrophenschutz-Ministeriums sagten ihr, wie gefährlich nun ihre Heimat geworden sei. Zählten ihr die Krankheiten auf, die sie sehr wahrscheinlich das Leben kosten würden. Doch Elena blieb. Den Kampf mit der Verwaltung hat sie gewonnen - vorläufig. Um ganz sicher zu gehen, dass sie nicht ein zweites Mal evakuiert wird, verlässt sie das Haus nur, wenn es sein muss.

Im kahlen Wohnzimmer wandert Grigory Leontjevich Maximenko, 74, auf und ab. Er geht von der Wand zum Fenster und wieder zurück zur Wand. „Er ist gerne alleine“, sagt seine Frau Anna Mikhailovna, 74, die in der Küche Fische putzt. „Er liebt die Einsamkeit, ich liebe die Menschen.“ Den ganzen Tag umgibt Stille das Ehepaar, einziges Geräusch sind die Schritte im Wohnzimmer, Grigorys gleichförmige Wanderungen. Anna bereut ihre Rückkehr nicht: „Tschernobyl hält uns am Leben.“ Schon 1988 sind sie heimlich zurück gekommen, in ein leeres Haus, ohne Betten, ohne Möbel. Nur einen Stuhl hatten die Plünderer zurück gelassen. Die ersten Wochen schliefen Anna und Grigory auf Linoleumboden, dann begannen sie andere Häuser zu durchsuchen, fanden hier einen Schrank, dort eine Kommode. Jetzt ist die Wohnung wieder komplett. „Nichts hat sich verändert“, sagt Anna mit abwesendem Blick. „Der Geschmack der Fische unseres Flusses hat sich nicht verändert, der Duft unserer Luft hat sich nicht verändert. Tschernobyl ist wunderschön.“

Der Fischer, Andrej Antonovich, und seine Frau Olga stehen um 4.30 Uhr auf und füttern die Tiere. Sie besitzen vier Kühe, sieben Ziegen. Das ist ein kleiner Reichtum in Tschernobyl. Sie kochen Gras in Wasser, um es für die Rinder-Mägen geschmeidig zu machen. Olga mengt Essensabfälle dazu, und Andrej mischt das Ganze im großen Eichenfass. „Riecht du diesen wundervollen Duft?“ Zwischen fünf und neun Uhr füttern die beiden 71-Jährigen die Tiere, erst dann machen sie sich ihr Frühstück.

„Ihr habt nicht mehr die Kraft!“ hatten Verwandte sie vor der Rückkehr ins verlassene Tschernobyl gewarnt. „Ihr seid nicht mehr die Jüngsten!“ Das größte Problem für das Paar war nicht die viele Arbeit. Es war die Einsamkeit. „Wir hatten immer ein offenes Haus.“ Olga ist eine Frau, die gern redet, die viel lacht, lacht, bis ihr die Tränen kullern. Wer sie erlebt, denkt, das ist die fröhlichste der Frau der Welt. In den ersten Tagen ihrer Rückkehr ersann sie einen Trick. Sie redete sich ein, es käme niemand mehr zu Besuch, weil sie alle gerade verhindert seien. „Die rechte Nachbarin kommt nicht mehr, weil sie zu alt ist. Meine beste Freundin nicht, weil sie länger in der Fabrik arbeiten muss.“ Im Laufe der Jahre hat sich Olga an die Stille im Haus gewöhnt. Irgendwie.

Wenigstens Olgas Mutter leistet ihnen jetzt Gesellschaft, liegt zwei Straßen weiter auf dem Tschernobyler Friedhof. Sie hatte sich gewünscht, neben dem Leichnam ihres ungeborenen Urenkels begraben zu werden. Andrejs und Olgas Tochter war schwanger, als der Reaktor explodierte und hatte das Kind auf ärztlichen Druck abtreiben lassen. Seitdem trinkt Andrej von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. Wenn er die Flasche absetzt, kommen die Tränen: „Sie konnte kein Kind mehr kriegen, vier Jahre lang beteten wir, pilgerten zu Heiligtümern im ganzen Land. Jetzt hat sie einen kleinen Sohn. Er ist gesund! Galina heißt er, geht in die erste Klasse.“

Der Trinker Andrej ist Messner, weil er trinkfester ist als Mikael, sein Vorgänger, der die kleine Gemeinde aus illegalen Rückkehrern immer wieder peinlich berührte. „Nicht an heiligen Orten kotzen“, zitiert Andrej mit Grinsen eine Messners-Regel. Der Ort Tschernobyl war stolz auf seine Kirchen, sie hatten ihn einst groß gemacht. In der kleinen Stadt drängten sich eine Synagoge, eine katholisch-polnische Kirche und zwei orthodoxe. Von allen Orten Gottes hat nur Andrejs Kirche Pogrome, Krieg, Stalinismus überlebt. Eine andere orthodoxe Kirche wurde nach der Atomkatastrophe Raub der Flammen, die in den Sommern über die ausgetrockneten Ebenen tosen.

Die Brände sind die zweite Geißel der Todeszone. Im Sommer kann das Feuer jeden treffen. Es ist flächenhaft, unkontrollierbar und speist sich aus hochradioaktiven Holzbeständen. Um die verseuchten Wälder und das wildwuchernde Unterholz kümmert sich niemand mehr. So wurde aus der Zone ein leicht entflammbarer Scheiterhaufen. Elena Nikolaenko in Opachichi lag im Bett, als von außen die Flammen in ihr Zimmer züngelten. „Ich weiß nicht warum,“ lächelt sie versonnen, „aber seltsamerweise brachte ich die Waschmaschine aus dem Haus. Alles andere verbrannte.“ Sie lebt jetzt im Haus einer Bekannten, die die Zone wieder verlassen hat. Von Sommer zu Sommer nimmt die Zahl der bewohnbaren Häuser ab. 105 Dörfler waren ursprünglich nach Opachichi zurück gekehrt, viele schlugen die Flammen inzwischen ein zweites Mal in die Flucht.

97 große Brände, vier Mal so viel kleinere zählten die Behörden in den vergangenen zehn Jahren .Ustinja Fyodorovna Rudnichenko, 83, stach vor drei Jahren Kartoffeln, als sie das Feuer überraschte. Aus allen Richtungen rannten die Flammen. Sie begann zu laufen, das Feuer holte sie nach hundert Metern ein, sprang ihr an den Rücken, an die Beine, kletterte über das hohe Gras auf die Finger, die Hände, die Arme. Heute sind ihre Wunden verheilt, harte Kruste hat sich über die verschmorte Haut geschoben. Ustinja trägt ein Bündel Baumwurzeln auf der Schulter. Ihr Haus ist das vierte, das sie seit ihrer Rückkehr bewohnt. Aus den anderen dreien vertrieben sie die Flammen. Nur ein einziges Zimmer ist möbliert, ein klammer und kalter Raum.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


Fünf Spalt Holz liegen vor dem Ofen. Sie tut sich mit dem Holzmachen schwer. „Ich könnte die Männer im Ort fragen. Das will ich aber nicht. Die fragen immer nach Wodka.“ Auch das Kochen glückt nicht immer. „Manchmal komme ich ins Grübeln: Habe ich zu Mittag gegessen oder habe ich nicht?“ Eine ausgeblichene Plastikdecke bedeckt den Esstisch, neben Bett und einem Schränkchen das einzige Möbel. Den Schrank ziert eine Vase mit drei Plastikblumen, das Fensterbrett ein Glas mit Kornblumen, die sind längst verdorrt.

Ustinja weiß, dass es nicht so weiter geht. Ihre Kräfte werden immer mehr nachlassen, sie eines Tages ganz im Stich lassen. Einmal brach sie sich ein Bein, da lag sie stundenlang in der Türschwelle, bis endlich ein Mensch vorbei kam. Ustinja weiß nicht, wohin. Zu den Kindern außerhalb der Zone? „Meine Kinder wollen ihr eigenes Leben führen, die hassen Unordnung in ihrer Wohnung, die mögen mein Essen nicht. Meine Kinder haben eigene Regeln. In Opachichi kann ich kochen, was ich will, muss niemandes Regel befolgen.“ Und was sollte sie den lieben langen Tag bei ihren Kindern tun? Aus dem Fenster schauen? Hier hat sie ihre Tiere.

Und wohin sollten Andrej und Olga? Sie haben in Tschernobyl den Tisch reich gedeckt. „Man muss eine Tonne Pilze essen, um krank zu werden! Zugreifen! Zugreifen! Halb Kiew isst unsere Pilze!“ Verzehr und Verkauf dieser Pilze sind in der Ukraine verboten, die wirtschaftliche Not im Land bringt das Gift dennoch auf die Märkte: Pilze mit einer Strahlendosis, die 380 000fach höher ist als der Grenzwert, Fische mit 450 000facher Radioaktivität, Gurken, Kartoffeln, Heidelbeeren. „Hier werden wir nie Hunger leiden!“ Die Warnungen der Ärzte schlagen sie in den Wind. Weit übertrieben. „Radiophobie“, sagt Olga zu diesen Ängsten. „Schaut uns an, sehen wir etwa krank aus?“

Jeden Donnerstag trifft sich in Tschernobyl ein Komitee aus zehn Bewohnern. In den ersten Jahren nach dem Atomunfall haben sie sich in ihren Häusern versteckt, wussten nur selten von einander. Jetzt organisieren sie sich – zur Befreiung des alten Tschernobyl. Die Mitarbeiter des Katastrophenschutz-Ministeriums, es sind Tausende, werden von den Alten als Besatzer empfunden. „Das hier ist alles eine Lüge“, raunt Maria Vasiljevna Krarchenko. „Die Behörden haben den Unfall lange vorbereitet. Ihr wisst es doch auch: Das wurde getan, um unsere Häuser zu plündern!“ Das ist Mehrheitsmeinung im Komitee. Die Verzweiflung reimt ihre eigenen Geschichten. Niemand sei hier an Radioaktivität gestorben, die Leute stürben an staatlichem Psychoterror.

Der Zorn der alten Frauen reicht bis spät in die Nacht. Zur selben Zeit, zehn Kilometer entfernt, auf dem Dach des havarierten Reaktors, sprühen Schweißer ihre Funkenbögen in die Finsternis. Es haben sich wieder Risse im Betonmantel aufgetan, Wissenschaftler warnen vor einer neuen Katastrophe von Tschernobyl, wenn die Wände brechen, das Dach reißt. Denn die Strahlung unter dem Schutzmantel hat in den vergangenen vierzehn Jahren nichts von ihrer Kraft verloren. Die Schweißer arbeiten unter Hochdruck, der Rettungsversuch steht auf Messers Schneide. Jeden Tag.

In wenigen Stunden, wenn die Sonne am Horizont erscheint, wird Andrej Rudschenko wieder aufstehen, die Tiere füttern und im Pripjat fischen gehen.

 

Die Geldspenden, die engagierte Leserinnen der tumorkranken Elena widmeten, haben wir ihr im folgenden Jahr in Tschernobyl übergeben. Sie hoffte mit diesem Geld eine rettende Operation finanzieren zu können – vergeblich.

   
 
           
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PHOTOGRAPHIE
Andreas Lobe, Reutlingen
Lobe470336@aol.com
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