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PHOTOGRAPHIE Christoph Pueschner

 

Achel rennt.

Bei den Olympischen Spielen im Südsudan wettstreiten jedes Jahr ehemalige Kindersoldaten und entlaufene Sklaven.

 

 

Es gibt Orte auf dieser Welt, die sind so mörderisch, da kann selbst das Glück tödlich sein. Die Pupillen kippen, der Mund ist ein Riss im Gesicht, klaffend vor Schmerz. Frenetischer Applaus hebt an, Trommeln, die letzten Meter, und der Kopf des Mädchens schleudert haltlos zwischen den Schultern. Links, rechts, links, rechts, als sei ihr das Genick gebrochen. „Das ist Achel“, schreit jemand in den Zuschauerreihen. „Seht nur! Wie sie fliegt!“ Achel rennt, halb besinnungslos, zwei, drei Schritte schneller als die Ohnmacht. Ihre Arme rudern über Kreuz, sie torkelt, ein Mensch im freien Fall, als stürze er aus großer Höhe. „Gehe nicht dorthin!“ hatte der Vater die 17-Jährige gewarnt. „Du wirst dabei umkommen.“ Heisere Gesänge branden auf, Halbnackte hinter Tiermasken schwenken Fahnen. Achel rennt der Ziellinie entgegen, auf papyrusdürren Beinen, auf nackten Sohlen. Es ist das mit Spannung erwartete Halbfinale. 400 Meter der Frauen, härteste aller Disziplinen, weit abgeschlagen sind die Verfolgerinnen. Achel durchbricht das Zielband, kollabierend, die Zuschauer jubeln, mitleidslos, denn sie kennen diesen Anblick schon: Auch Sieger sehen aus wie Sterbende.

Sagt diesen Wahnsinn ab, mahnten Leute, die es gut meinten. Zu gefährlich. Zu ungewiss der Ausgang. Es wird unser Verderben. Ihre Argumente waren vernünftig. Der Südsudan ist ein denkbar schlechter Austragungsort für Olympische Spiele. Doch Acuil Banggol, 44, Ex-Profi-Basketballer und Leiter einer kleinen Hilfsorganisation, ließ sich davon nicht abbringen: Er holte Olympia in seine Heimat, den Provinzstaat Twic. Begeistert von den Spielen in Sydney, taufte er die Idee, von der die meisten sagten, sie sei irrsinnig: „Twic Olympics“. „Sport ist wie Magie“, erklärt er den Alten, die an ihren Feuern Naturgeister besingen. „Er verändert dich. Verzaubert. Er zieht dich mit. Wenn der Sportsgeist dich berührt, dann lernst du das Siegen neu und das Verlieren.“ Lächerlich, meinten die Skeptiker unter den Dorfvorstehern. „Hör auf zu träumen.“

Der Tod scheint hier mehr zu Hause als das Leben. Seit der Unabhängigkeit von Großbritannien 1956 gab es im Südsudan zwölf Jahre Frieden und die schlimmsten Kriege der neueren Geschichte. Im Konflikt zwischen arabischem Norden und schwarzafrikanischem Süden starben mehr Menschen als in den Bürgerkriegen von Bosnien und Somalia zusammen. 2,5 Millionen. Jeder fünfte Südsudanese kam ums Leben. Alle Plagen der Menschheit toben hier in archaischen Dimensionen. Hunger, Sklaverei, Krankheiten. Nichts ist diesem Land so fremd wie ein Sportfest und Wettkämpfe, die ohne Kalaschnikows ausgetragen werden sollen. Aber Banggol, der Träumer, setzte sich durch. Die „Twic Olympics“ gibt es nun schon im vierten Jahr. Ausländische Sponsoren wie „Brot für die Welt“ unterstützen sie. Das UN-Welternährungsprogramm kommt für die Versorgung auf. Die Regeln des Internationalen Olympischen Komitees, sofern Banggol sie in Erfahrung bringen konnte, treten jetzt gegen die des Krieges an.

Dieses Olympia ist auf keiner Karte verzeichnet. Die Arena, zu der die Zuschauer strömen, zu Tausenden, zu Fuß, in tagelangen Märschen, ist ein planes Feld. Es besitzt die klassischen Abmessungen eines Leichtathletikstadions, Feigenbäume begrenzen es. Eine dicke Staubschicht liegt darauf, in ihr lauern Dornen auf die Olympioniken, zentimeterlang, die das Vorbereitungsteam da und dort übersah. Der leidige Zeitdruck. „Das war eine Plackerei!“ stöhnt Baustellenleiter Akel, beleibt, gemütlich und Banggols Ex-Trainer. „Ich habe sechs Monate meines Lebens geopfert. Ich wurde von einem halben Dutzend Skorpionen gestochen und höre jetzt nur Klagen!“ Schützengräben durchzogen den Athletenacker, vor drei Jahren noch Schlachtfeld, auf dem sich die Südrebellen untereinander bekriegten. Die Gräben mussten eingeebnet werden. Akel fällte Bäume, brannte Büsche ab, ließ Scheunen für die Vorräte errichten, alles von Hand.

Die Lage des Stadions ist klug gewählt: Es liegt auf einer Art Halbinsel in den Sümpfen des Weißen Nils, die zu den Wettkämpfen im Frühjahr gerade so niedrig stehen, dass Menschen durch sie hindurch waten können. Gleichzeitig ist das Wasser aber noch so hoch, dass Pferde stecken bleiben. Und auf Pferden kommen die arabischen Milizen aus dem Norden gewöhnlich, um Dörfer zu brandschatzen, die Männer zu töten und Frauen zu rauben. Es herrscht zwar gerade Waffenstillstand an der Front, 30 Kilometer entfernt. Wie sicher der ist, weiß hier niemand. Solche Details hatte der gemütliche Akel zu bedenken.

Es wettkämpfen Mannschaften aus den fünf Distrikten von Twic. Die besten ihrer Generation, Kinder des Krieges, junge Männer darunter, die mit zehn Jahren zur Rebellenarmee rekrutiert, junge Frauen, die im selben Alter von einfallenden Arabern versklavt wurden. Übliche Jugendbiografien in diesem Land. Die Teams messen einander in Weitsprung, Speerwerfen, Tauziehen, Volleyball, Fußball, Staffellauf, 100-, 400- und 1500- Meter-Läufen. Gewertet wird nach einem Punktesystem. Die Champions erhalten als Gewinn eine dieselbetriebene Getreidemühle. Um sie lohnt es zu kämpfen: Die Maschine wird das Leben in ihren Dörfern, in denen das Mehl noch stundenlang von Hand gestampft wird, gründlich umkrempeln.

Den Moment des Triumphs sieht sie mit dem Weiß ihrer Augen. Vier Arme fangen Achel auf. Das Mädchen wird im Staub der Arena abgelegt, zwei Betreuer flüstern beruhigende Worte, fächeln Luft mit einem T-Shirt. Kurz darauf brechen ihre Konkurrentinnen am Ziel zusammen. Das passiert nach fast jeden Lauf. Mangelernährt sind die meisten Sportler bei den „Twic Olympics“, für Kraftanstrengungen fehlen Mineralien und Salze. Achel Chol läuft trotzdem. „Wenn ich laufe“, sagt sie später, als sie sich im Staub wieder aufgerichtet hat, „denke ich an nichts. Der Kopf ist dann leer und leicht, ganz leicht.“ Bei ihrer Familie lebt sie erst seit kurzem wieder, ein großes Fest haben sie gefeiert zu ihrer Rückkehr nach so vielen Jahren.

Achel war 13, als sie Reiter arabischer Milizen aus der Hütte ihrer Familie rissen. Sie banden ihr die Hände, eng und schmerzhaft, knoteten einen Strick um den Hals, daran befestigten sie den Strick eines anderen Mädchens. So gefesselt, in einer langen Reihe mit zwei Dutzend Frauen, viele von ihnen verletzt und vergewaltigt, wurde sie in den Norden geprügelt. Mädchen in ihrem Alter bringen Sklavenhändlern 80 Euro, viel Geld. Der Sudan ist der größte Sklavenmarkt der Welt, immer noch, auch im 21.Jahrhundert. Aber Achel entkam. Hatte jeden Tag trainiert für ihre Flucht. Tat so, als spiele sie mit den Kindern ihres „Masters“. Lief mit ihnen die Straße vorm Haus rauf und runter. „Ich wollte schneller sein als sie. Schneller als ihre Pferde.“ Bei den „Twic Olympics“ entwickelt sich Achel zum Star. Man kennt sie. Die Leute zeigen auf sie und sagen: „Hey, das ist die Kleine, die schneller läuft als der Wind.“ Das schmächtige Mädchen rennt allen davon, mittlerweile auch ihrem Vater. „Wenn du dort antrittst, setzt du deinen Fuß nicht mehr in meine Hütte!“ rief er ihr beim Aufbruch zu den Wettkämpfen hinterher. Achel läuft.

 

 

 

 

 

 

 

 


In rauchdunklen Schwaden zieht der Staub über die Arena, es ist Nachmittag. Von weitem ähneln die Spiele einen gewaltigen Buschfeuer. Fußball-Halbfinale. Dorfvorsteher und Militäroffiziere in der Strohmatten-VIP-Lounge beobachten das Geschehen schläfrig. „Sie sollten besser aufhören“, winkt einer ab. Die Teams von Pannyok und Turalei schieben den Ball wie gelähmt hin und her. Nur wenige tragen Fußballstiefel, fast alle spielen barfuß, notdürftig geschützt von Baumwollbandagen. „Sie haben alles vergessen“, jammert Pannyoks Trainer am Spielfeldrand. „Sie hören nicht mehr auf mich.“ Auch Gesänge einheimischer Chöre, die sonst die Kraft von Rindern preisen, wichtigste Lebensgrundlage hier, wirken nicht. Santino, 18 Jahre, der noch vor kurzem ein Maschinengewehr zu führen wusste wie kein anderer, verliert schon wieder den Ball. „Unglaublich!“ stöhnt ein Hexenmeister aus Pannyok. „Den hätte er kriegen müssen!“ Ungeduldig schaut er auf zwei seiner Kollegen, die ein wenig abseits stehen. In grelles Rot gewandet, Mittler zwischen Universum und der Menschheit, improvisieren die graubärtigen alten Herren die Beschwörung aller Schutzgeister. Sie rufen die Kobra an und den Löwen, die Hyäne und das Eidechsenvolk, zu spät.

Es ist nicht nur wichtig, dass du gewinnst, sagt Luka. Wichtig ist, wie du gewinnst. Der 19-Jährige, der als Sieger vom Platz geht, schleicht davon. Die anderen Spieler von Turalei stürmen singend durch das Stadion, verschmelzen mit den Fans, eine Spirale aus Menschen, sie wühlen einen riesigen Staubwirbel in den Sonnenuntergang. Luka zuckt mit den Schultern. „Was soll das. Wir waren die Favoriten und haben es nur mit Elfmeter ins Finale geschafft. Eine Blamage.“ Der Junge mit der Zornesfalte auf der Stirn ist rechter Außenverteidiger und stand während des Spiels meist allein auf weiter Flur. „Das kenne ich“, sagt er. „Das geht mir immer wieder so.“ Im Juni 2000, da war er bereits fünf Jahre in der Armee, während der Offensive auf die Stadt Gogrial, verschwand plötzlich an seiner linken Flanke die Nachbarkompanie. „Meine Einheit war eingekesselt, von allen Richtungen kamen die Kugeln. Das wurde mein schlimmster Tag.“

Ein Schuss zerfetzte ihm das T-Shirt unter der Achsel. Durch die Stellungen der Nordsudanesen flüchteten sie über offenes Feld. Ein Freund stürzte, die Brust von einer Kugel aufgerissen. „Er schrie vor Schmerzen und rief meinen Namen. Aber ich rannte weiter.“ Luka, der seinen ersten Menschen im Alter von 13 Jahren erschoss, erzählt scheu und unsicher, ganz ohne Veteranenstolz. Er geht jetzt zur Grundschule, lernt Stoff für Achtjährige. Die Armee entließ ihn vor zwei Jahren, zu Beginn des Waffenstillstandes, als die „Sudanesische Volksbefreiungsarmee (SPLA)“ Tausende Kindersoldaten nach Hause schickte. „Demobilisierung“, hieß die Aktion im zynischen Militärjargon. Sein Vater Akel, Ex-Basketballtrainer, der die Olympia-Baustellen beaufsichtigte, erhielt einen Sohn zurück, den er nicht mehr verstand. Am Rande des Fußballfeldes schaut er sorgenvoll auf ihn. „Die Monate nach der Armee waren hart. Jede Nacht hat er im Schlaf gebrüllt. Er war richtig irre.“

Die Menschen in Twic bekommen Angst vor ihren Kindern. Die Waffen sind ihnen genommen, aber nicht der Zorn, den ihnen Feldwebel jahrelang antrainierten. „Manchmal“, sagt Luka, „ist es demütigend. In unseren Dörfern begreifen die Leute nicht, was wir geleistet haben. Die behandeln uns jetzt wieder wie kleine Jungs. Du wünscht dir oft ein Gewehr zurück. Ich ertrage es nicht mehr, mich herumkommandieren zu lassen. Damit ist Schluss.“ In diesen Krieg missbrauchten beide Seiten Kinder, sie züchteten sie zu Massenvernichtungswaffen, effektiver als die Kalaschnikow. Jetzt fällt es schwer, sie zu entschärfen. Die Olympischen Spiele sollen dabei helfen. „Unbeherrscht erreichst du gar nichts“, erklärt Vater Akel seinem Sohn Luka. „Mit Wut im Bauch verlierst du den Ball.“

Die Menge drängelt, Kinder voran, Erwachsene hinterher, so dass verunglückte Speerwürfe das Publikum kreischend auseinander treiben. „Iiiiah“, überschlägt sich die Stimme des Stadionssprechers, „zurück! zurück!“ Der Tagesbeste der Vorausscheidungen im Speerwerfen schaffte 41, 66 Meter – keine Glanzleistung. „Die setzen ihren Winkel zu flach an“, meckern Experten im Publikum. „Höher müssen sie werfen, dann kommen sie weiter.“ Der nächste nimmt Schwung - ein enttäuschtes Raunen - 36 Meter. „Nicht traurig sein“, galoppiert die Sprecherstimme. „Er konnte nicht üben. Er war bis vor zwei Wochen auf dem Feld.“ Da jault das Publikum auf, wieder geht ein Speer neben der Wurfschneise nieder.

Die Schiedsrichter müssen mittlerweile nicht mehr fürchten, Stammesfehden auszulösen. Diese Angst ist vorbei. In drei „Twic Olympics“ haben sie sich den Ruf erworben, fair zu sein. Trotzdem sind immer noch Waffen massiv präsent. Die SPLA hat eine Kompanie Soldaten abgestellt, die sich während der Spiele treuherzig „Polizisten“ nennen. Und Banggol, der Optimist, geht ohne seine drei Leibwächter keinen Schritt. In den letzten Tagen der Spiele wachsen die Spannungen. Nächtens prügeln sich Athleten in den olympischen Dörfern, blaue Flecken und ausgeschlagene Zähne, weil allmählich die Nahrungsmittel ausgehen. Nicht jeder kriegt täglich zu essen. Das senkt die Laune. Weil deutlich mehr Teilnehmer als letztes Jahr kollabieren, entstehen zudem Gerüchte, dass Hexer gegnerischen Spielern den „Bösen Blick“ schicken. Sie führen beinahe zu Massenschlägereien. Vor dem Finale lässt das Team von Turalei einen weiteren Zauberer als magische Verstärkung kommen. Der Wettkampf der Hexer ist bald im vollen Gange.

Gespielt, geworfen und gerannt wird, wenn der Hitzschlag nicht sofort droht, morgens und nachmittags. Bis zu 45 Grad brennen auf den Sand. Die Sportler dösen tagsüber in „olympischen Dörfern“, kleinen Komplexen aus Lehmrundhütten, vor denen die Mannschaften auf Bastmatten schlafen. Im Schatten eines Baumes hält der Fußballcoach von Wunrok Lagebesprechung mit seinem Team. Im Finale werden sie auf Turalei treffen. „Wir spielen dieses Mal mit einem Lederball. Da ist Luft drin, Jungs. Der verhält sich anders als unsere Bälle.“ Wunroks Bälle sind meist aus alten Socken und mit Lumpen gefüllt. Die Spieler lauschen seinem Vortrag konzentriert. Alle aus Wunrok sind sie gegen das Verbot ihrer Stadt hierhergekommen. 150 Blockadebrecher. Wunrok lag noch vor drei Jahren mit den Nachbarkreisen im Krieg. Der Konflikt köchelt weiter. Jetzt, zu den Spielen, müht sich die Jugend, die alten Gräben zu überwinden. „Wir sind die beste Mannschaft und wollen das beweisen!“ Das ist der Sportgeist, den Acuil Banggol heraufbeschwört: Solange sie spielen, schießen sie nicht.

Es wird ein Gemetzel. Wunrok schlägt Turalei 4:1. In der Gesamtwertung ist Wunrok damit nicht mehr einzuholen. Die Mühle gehört ihnen. „Unser Torwart war besoffen“, flucht der erschöpfte Coach von Turalei. „Unser Verteidiger war gekauft.“ Luka, der Verteidiger, der eine glänzende Partie hingelegt hat, verbringt mit dem Torwart die Nacht in der Polizeistation, aus Angst. Er will im nächsten Jahr für ein anderes Team spielen. Auf jeden Fall wird er aber wieder dabei sein, ganz bestimmt, noch mehr trainieren in der Zwischenzeit – wenn er die Hungersnot im Sommer übersteht.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 
       
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