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PHOTOGRAPHIE Christoph Püschner

 

Das Ende der Geschichte.

Vom Geschäft mit der Antike.

 

 

 

 

Das Fleisch der Toten, das zu Staub wurde, brennt auf der Haut. Es klebt in den Augen. Mit jedem Atemzug weht es durch die Zähne, der Wind bläst es in den Rachen, in die Lunge, tief hinunter, wo es sticht, wenn Abdul Qahar sie hinauf zu würgen versucht. Wenn er spuckend und röchelnd in der Grube kniet und die Ahnen verflucht, in deren Staub er wühlt. Schaufel für Schaufel hat der 48-Jährige in den Wind geschlagen, in rauchigen Fahnen weht Erde übers Land. „Es ist Gift in diesem Sand“, sagt er. Mit zerrissenen Fingernägeln durchkämmt er den Dreck. Seine Hände walken ihn. Er melkt die Erde, angespannt und konzentriert, so wie ein Verdurstender einer alten Ziege den letzten Tropfen abringt. Eine Scherbe bleibt zwischen den Fingern hängen. Er wirft sie achtlos über den Grubenrand, wo Scherben in Massen liegen, sie den Grund bedecken wie Pflastersteine, prachtvoll bemalt, in allen Farben, mit rätselhaften Schriftzügen und Symbolen. Tiefer gräbt Abdul Qahar, ein Mann mit klugen blauen Augen, der weiß, was er tut. Der inständig hofft, heute wie morgen und dann erneut den Tag darauf: Dass er endlich erlöst wird von den Toten.

Es gibt Männer hier draußen im Norden Afghanistans, die plappern beim Graben unentwegt, erzählen sich die verdorbensten Witze. Nicht Qahar. Seine Stirn trägt tiefe Furchen, die versetzt zueinander stehen wie die Fugen einer Ziegelmauer. Er redet nicht viel. Arbeitet im immer gleichen Rhythmus wie einer, der ein Pensum zu erfüllen hat. Es mögen Hunderte Gruben sein, die er zusammen mit seinem Sohn und seinem Cousin Zakir ausgehoben hat. Den Grund der ganzen Ebene haben die Bewohner dreier Nachbardörfer in den vergangenen Jahren aufgestemmt, 100 bis 150 Männer, Jugendliche und Kinder. Trichter entsteht aus Trichter, eng wie Wespenwaben liegen sie. Und Qahars Nachbarn arbeiten nur am Rande des eigentlichen Gräberfeldes, das sich von hier weit hinauf in den Norden erstreckt. Über Dutzende Kilometer ist das Land perforiert. Aus der Luft wirkt es wie aufgeplatzt, klaffende Wunden, als sei aus Geschwüren plötzlich der Eiter gelaufen.

Afghanistans wichtigste Minen fördern nicht Eisen oder Lapislazuli. In ihnen wird nicht Kohle oder Silber abgebaut. Der wirtschaftlich bedeutendste Bodenschatz des Staates am Hindukusch ist seine Vergangenheit. Städte der Antike, Tempel und Nekropolen, Statuen und Münzen. Die Warlords der Mudschaheddin entdeckten den Rohstoff als erste, füllten ihre Kriegskassen damit. Nach dem Sturz der Taliban verbreitete sich das Plündern und Raubgraben übers ganze Land. Schätzungen zufolge übersteigen die Gewinne durch Antikenschmuggel in Afghanistan mittlerweile die des Drogenhandels. Jedes Jahr 32 Milliarden Dollar, nehmen lokale Unesco-Experten an. Das mag zu hoch gegriffen sein, aber niemand hat die Übersicht. Niemand weiß, an wie vielen Orten gegraben wird. Hunderttausende suchen ihr Glück in alten Siedlungsschichten, manche intensiv, andere beiläufig. Ein Land verkauft seine Herkunft, und die Welt verliert ein zentrales Kapitel seiner Geschichte. „In fünf Jahren,“ schätzt Roland Besenval, Direktor des französischen archäologischen Instituts in Kabul, „sind Afghanistans wichtigste Informationen über seine Vergangenheit vernichtet.“

Diese Reportage, die uns sechs Wochen quer durchs Land führte, mit Fahrer, Übersetzer und manchmal auch einer Leibgarde, beschreibt den größten Raubzug und eine der größten Kulturkatastrophen unserer Zeit.

Der Spaten Qahars sticht in Luft. Der 48-Jährige hat ein schwarzes Loch in den Boden der Grube gestoßen, Staub fließt nach unten ab. „Endlich“, sagt er. Die dreckverkrusteten Köpfe der drei Raubgräber schieben sich über einen klaftergroßen Spalt, sie flüstern aufgeregt, Qahars Cousin, sein Sohn, ein halbes Kind noch. Der letzte große Fund liegt mehrere Monate zurück, jetzt werden die Rücklagen der Familie knapp. Nervös spähen sie über die Ebene. „Es ist gefährlich, wenn die anderen wissen, dass du etwas Großes gefunden hat“, warnt Qahar. Misstrauen bohrt sich mit den Plünderern in das Land, Furcht steht zwischen den Gruben, zwischen allen Dörfer an der usbekischen Grenze in Nordafghanistan. Angst vor Verrat dämpft viele Gespräche. Ein Dorf hat dem anderen neulich aus Neid die Schule abgebrannt. Schweigend erweitert Qahars Familie die Öffnung mit einem Bajonett.

Die alte Ordnung ist zerbrochen. Zu oft ist der Tod im vergangenen Jahrzehnt über die Dörfer gekommen, jetzt kommen die Dörfer über die Toten. Qahars Großvater hatte ihr Reich vor 80 Jahren als einer der ersten betreten. Zwei französische Archäologen, ein Mann, eine Frau, führten ihn damals auf einen der wuchtigen Hügel, den Tepa, und bezahlten ihn dafür, tiefe Gräben zu ziehen. Das Dorf lernte damals, was es auf sich hatte mit den schroff aufsteigenden Lehmkolossen, die im Abstand von ein bis zwei Kilometern die Steppe Nordafghanistans überziehen. Sie haben Namen wie der „weiße Hügel“ und „Burg der Königin“. Es wächst kein Strauch auf ihnen, kein Gras. Nackt wie frische Schlackenhalden steigen sie zu Hunderten aus der Ebene auf. Letzte Reste mächtiger Hochkulturen sind sie, tausende Jahre Menschheitsgeschichte, deren Anfänge auch in Europa liegen. In Griechenland. Im Größenwahnsinn eines Einzelnen.

64 000 Fußsoldaten und 10 000 Pferde trieb Alexander der Große im Frühjahr 328 vor Christus über die Pässe des Hindukusch. Niemals zuvor hatten sich Menschen der Antike so weit von ihrer Heimat entfernt. Der Makedonier wollte nach der Niederlage der Perser auch deren letzte intakte Provinz niederwerfen, Baktrien, aus der die „Unsterblichen“ kamen, Persiens Elitesoldaten. Athen hatten sie in Asche gelegt, Milet, regelmäßig Angst und Schrecken über ganz Hellas gebracht. Ihnen setzte Alexander jetzt nach, plündernd und raubend zog er durch ein Land, das der römische Historiker Quintus Curtius Rufus als eines der reichsten der Alten Welt bezeichnete. Das Land der Tausend Städte, schwärmte er. Die Griechen schlugen die Perser erneut. Nach Abzug Alexanders wanderten in Massen Griechen ein, die Gouverneure lockten mit regelrechten Ansiedelungsprogrammen. Für Jahrhunderte färbte sich der Norden Afghanistans hellenistisch. Auch als Alexanders Reich längst zerfallen war, regierten in Baktrien weiter griechische Könige, isoliert von ihrem Ursprungsland.

Es ist noch heute als wühlten Bettler im Wohlstandsmüll. Armselig wirken die Afghanen des 21. Jahrhunderts wie sie als Raubgräber herumstochern in den Überresten der antiken Zivilisation. Sie sind umgeben von Relikten eines Lebensstandards, der für sie immer unerreichbar bleiben wird. Überall liegen zerbrochene Wasserrohre aus Stein, Trümmer von Abwasserkanälen, Geschirr, an dessen Kunstfertigkeit das ihres Dorfes nicht heran kommt.

Es war mal wieder nicht der Mühe wert, sieht Qahar, als er sich auf den Grund des entdeckten Hohlraumes hangelt. Lustlos scharrt er mit dem Bajonett im sandigen Boden. Wieder nur wenige Scherben. „Es gibt Tage“, sagt er, „da solltest du besser im Bett bleiben.“ Zwei Meter tief ist das Loch, in dem er kniet. Qahar und Zakir, der ihn beim Schaufeln assistiert, stehen jetzt unschlüssig nebeneinander. „Wo sollen wir jetzt weiter machen?“ fragt Qahar. „An dieser Seite?“, zeigt er nach rechts. Zakir zuckt mit den Achseln. Bei diesem Geschäft gibt es keinen Instinkt. „Oder doch besser auf der anderen?“ fragt Qahar. Mit hängenden Armen starrt er stumpf auf einen Haufen Dreck. Am Himmel ziehen donnernd amerikanische Kampfjets vorüber.

Bevor sich Qahar und Zakir für einen neuen Plan entschieden haben, erscheinen drei gut gekleidete Herren auf Mopeds. Slalom fahren sie zwischen den Gruben. Offiziell verkaufen sie Teppiche in Mazar-il-Sharif, der Provinzhauptstadt, eine Stunde von hier. Einen Plausch verwenden sie auf jede Plünderergruppe. Die Raubgräber von Qahars Gruppe sind auf ihrer Route nur eine kleine Zwischenstation. Sie reisen die ganze Gegend ab, halten Kontakt zu den verstreut arbeitenden Plünderer. Ortskundig weichen sie den Minenfeldern aus, die aus der Kriegszeit hier lauern. Es gibt Fahrzeugminen und Personenminen. Dumpf wummern ihre Explosionen über die Steppe, wenn Tiere von ihnen zerrissen werden. Eine halbe Stunde später sind die Händler zwischen den Dünen verschwunden. Das Gros ihrer Aufkäufe schicken sie weiter in den Iran oder Pakistan, oft mit den gleichen Schmugglern, die auch Opium und Waffen transportieren. „Die halten uns blind“, knurrt Qahar ihnen hinterher. „Sie reden alle unsere Funde herunter, nichts ist denen gut genug.“

Der jüngere Zakir, der es satt hat zu graben, die Drecksarbeit zu erledigen, hat es einmal versucht, sich aus der Fessel der Händler zu lösen. Er erzählt es während der Mittagspause, bei Tee aus Thermoskannen und Trockenbrot. „Es war der beste Fund, den ich in diesem Jahr gemacht hatte: eine goldene Gürtelschnalle mit blauem Edelstein.“ Die Händler in Mazar-il-Sharif boten ihm 2000 Dollar. Er ging von Laden zu Laden, fuhr von Stadt zu Stadt, fuhr durch ganz Afghanistan, fuhr bis nach Pakistan, doch überall boten sie ihm 2000 Dollar. „Die haben sich gegenseitig angerufen, die kennen alle einander.“ Zakir kehrte zurück und ließ sich in Mazar-il-Sharif vom ersten Händler die 2000 Dollar geben. „Du hast keine Chance“, sagt er. „Es gibt keinen Ausweg.“

Der Anfang sind Qahar und Zakir. Das Ende ist so manches Mal Ebay und andere Onlineauktionshäuser. Hunderte Anbieter überbieten sich mit Angeboten. „Museumsqualität!“ „Fühlen Sie die antike Atmosphäre.“ Baktrische Vasen, Münzen, Goldbleche, Statuen, Buddhaköpfe der Kushanperiode bieten Antikenhändler an. Die Hehler sitzen in Pakistan, Thailand, Holland, den USA und Großbritannien. Ihre Kunden sind Privatsammler, die sich als Bewahrer von Kultur missverstehen. „Wunderbar“, mailen sie den Händlern. „Atemberaubend!“ Jeder Ausstellungskatalog von Museen, jede Veröffentlichung von Fachmagazinen inspiriert sie zu neuen Wünschen. Die großen Sammler ordern direkt beim Händler, der es in Pakistan bei Schmugglern in Auftrag gibt. „Die kommen mit Bestelllisten“, weiß der Kulturexperte der Aga Khan Stiftung in Kabul, Jolyon Leslie. „Nach drei Monaten kriegen sie das Gewünschte nach Hause geschickt.“

Die Globalisierung, die die Märkte der Welt zusammen rücken lässt, hat auch am Hindukusch eine ungekannte Dynamik ausgelöst. Mit fast jedem Frachtflugzeug, das Afghanistan verlässt, verliert das Land ein Stück Geschichte. Das Problem verschärft sich durch ISAF-Truppen und ausländische Aufbauhelfer, die in den Basaren gerne landestypische Souvenirs mitnehmen. Hunderte Dollars zahlen sie für Tonkrüge und (oft gefälschte) griechische Münzen. Auf Militärtransporten und UN-Flügen wird das Gepäck kaum kontrolliert. Die Vorgesetzten der Einheiten sehen den Antiquitätenschmuggel als untergeordnetes Problem. Als der Unesco-Beauftragte für Afghanistan, Christian Manhart, US-Soldaten in Bamian Trümmerstücke der gesprengten Buddhas einsammeln sah, bat er sie nichts mitzunehmen. Die GIs bedeuteten ihm, sich besser nicht einzumischen. Auf dem amerikanischen Luftwaffenstützpunkt Bagram im Norden Kabuls sollen Bazaris Antiquitäten offen anbieten. Den holländischen Truppen in Pol e Homri fahren Händler Raubgräbergut direkt vors Tor. „Es ist Wahnsinn“, stöhnt in London der Antiquitätenfahnder der Polizei, Vernon Rapley: „Es kommt zu uns mit der Luftfracht, mit dem Schiff, mit dem Auto.“ Vier Tonnen afghanische Antiquitäten beschlagnahmte er in den vergangenen zwei Jahren in Großbritannien – ein winziger Teil der tatsächlich geschmuggelten Menge.

Einer hat neulich im Schacht Panik bekommen. Die Wände öffneten sich unvermittelt, ringsherum, und mächtige Wasserfluten drückten herein. Ein Freund hat es Qahar erzählt. Und Qahar erzählt es beim Essen wieder seinen Kindern. Wie der Freund hinabstieg, um zu sehen, was los ist, und er kein Wasser aus den Wänden brechen sah, sondern einen Stier mit riesigen Hörnern. In anderen Gruben begegneten die Männer Drachen und Skorpione, groß wie Kamele. Es sind seltsame Welten, in denen die Raubgräber eindringen. Die Arbeiter im Totenreich zahlen einen hohen Preis in Afghanistan, wo die Dämonen der Dschinns so lebendig sind wie Allah. Staublunge ziehen sie sich zu und Alpträume. Sie geben den Mullahs Geld, damit sie die Dschinns mit Suren aus den Gruben treiben. Es hilft nicht immer. Am Rande der Nachbar-Tepa klafft ein 20 Meter tiefer Schacht, weiten Abstand halten die Dorfbewohner zu ihm. Ein Geist, der als Riesenschlange erscheint, wohnt darin, sagen sie, und vor wenigen Jahren tötete er einen von ihnen. Nach seinem Absturz wagte es niemand, ihm hinterher zu steigen.

Es wird windig und regnerisch am nächsten Tag, sagt der greise Karim, der Dorfastrologe, am Ende dieses Arbeitstages auf den Totenfeldern. Er steht auf der Tepa, auf seinen knorrigen Stock gestützt, und studiert den Schwalbenflug. Er kann die Zukunft schauen, sagen die Leute. Aber Karim verrät sie nicht. Immer wieder bitten ihn die Menschen. Das sei gegen den Koran, weist er sie zurück. „Ich sage euch: Es gibt Regen“, erklärt er mürrisch. „Reicht euch das nicht?“ Die Leute sagen, er verrät ihnen die Zukunft nicht, weil sie keine mehr haben.

Die Dörfer der Raubgräber sterben, das Leben weicht aus ihnen, jedes Jahr ein wenig mehr. Nur ein Fünftel der Häuser sind in Qahars Dorf bewohnt. Jeden Sommer fliehen bis zu zehn Familien in die Stadt Mazar-il-Sharif. Die Wüste treibt sie vor sich her. Sie verschlingt Äcker und Weiden. Lässt Brunnen erlöschen. Ihr Sand brandet auf die Mauern der Häuser. Es gibt Viertel im Dorf, da wirken die Kuppelbauten wie ein Haufen zertrümmerter Menschenschädel. Zu wenig Regen fällt im Norden Afghanistans, zu wenig Wasser erreicht die Endpunkte der alten Bewässerungskanäle. Den Menschen im Dorf ist, als wolle sie die Erde abschütteln. Wie lästige Fliegen. In rissigen Schollen bricht sie auf, wo Qahar bis vor kurzem Weizen erntete und Melonen schnitt. Der früher im Frühjahr rosa blühende Gürtel aus Mandelbäumen ist abgestorben. Das Dorf hat seinen Garten Eden als Feuerholz verbrannt.

Jetzt krallen sie sich fest mit Spitzhacken und Spaten, brechen die Erde gewalttätig auf, da sie ihnen nicht mehr freiwillig gibt. Die Raubgräber des Dorfes sind Bauern, gedemütigt, die den Humus, der sie einst nährte, wie Asche in den Wind streuen.

Die Diebe der Welt knüpfen ein immer engeres Netz. Mali, Bangladesch und Samoa sind laut Unesco bereits ausverkauft. Viele tausend graben im Irak. Viele tausend in Bulgarien. Albanien wird geplündert, Mazedonien und Rumänien. Syrien stellt eine Schutzpolizei auf, weil das Problem außer Kontrolle ist. In Russland werden die Stätten der antiken Skythen ausgeraubt. In Kambodscha gibt es nur wenig, was von den buddhistischen Khmer übrig blieb. Die Regierung rief dort den „kulturellen Notstand“ aus. Währenddessen avanciert auf dem Weltmarkt der Antikenhandel zur Kapitalanlage, ganz legal, boomen Auktionshäuser wie Sothebys, die in der Antikensparte enorme Umsatzsteigerungen verzeichnen, und ist der Antikenhändler ein geachteter Beruf. Die „Kunden“ afghanischer Kulturgüter finden sich in allen Industriestaaten. Die besten Preise erzielen im Westen die Griechen Baktriens. Die Kushanzeit und die buddhistische Ghandarakultur, in der Hellas mit Indien verschmolz, sind in Japan beliebt. Die frühen islamischen Hochkulturen sind begehrt in den Privatsammlungen pakistanischer Generäle und arabischer Königshäuser wie den Al Sabahs in Kuwait. Es gibt im Antikenhandel keine effektive Kontrolle darüber, was legaler oder illegaler Herkunft ist. Was Qahar und Zakir in ihrem Lehmhaus verstecken, in Lumpen gewickelt, steht in internationalen Sammlungen in edlen Vitrinen, aufwändig ausgeleuchtet und klimatisiert. Vergangenheit muss man sich im Zeitalter der Globalisierung leisten können. Afghanistan kann es nicht.

Fern in Kabul, auf der anderen Seite des Hindukusch, richtet Mohammed Rassoli, Direktor des Archäologischen Instituts, eine Abendgesellschaft aus, als sein Handy klingelt. „Sie schießen!“ schreit der Kommandant der Denkmalschutzpolizei in den Hörer. Die Plünderer laufen auf seine 58 Männer zu, mit Sturmgewehren und Kalaschnikows, haben eine Bazuka abgefeuert, ein Mannschaftszelt in Brand geschossen. Zwei Mann sind verletzt. „Ich kann sie nicht mehr halten!“ brüllt der Offizier, 300 Kilometer von Kabul entfernt, Provinz Wardak, auf einen einsamen Hügel, unter dem sich eine buddhistische Stadt verbirgt. Rassoli muss hilflos mit anhören, in Anzug und Krawatte, umgeben von Gästen in einem lauschigen Garten, wie die Polizisten fliehen. Sie eines der wichtigsten Forschungsprojekte des Landes aufgeben. Während Rassoli sein Grillfleisch anschneidet, gießen die Plünderer Benzin auf die Stupa, über die gerade frei gelegten Statuen und zünden alles an. Feuer lodern in der Nacht über der Ausgrabungsstätte.

Es wird Krieg geführt um Afghanistans Kulturerbe, einer mit ungleichen Gegnern. Schützengräben sind gezogen worden um Tempel und antike Wohnbezirke. Der afghanische Kulturminister ließ 500 von Deutschen ausgebildeten Polizisten an fünf Denkmälern stationieren, auf 2000 will er sie demnächst aufstocken. Die Männer stehen auf verlorenem Posten.

Drei Tage nach dem Überfall auf Wardak macht sich Rassoli auf den Weg zu einer anderen Front, vier Jeepstunden südlich von Kabul. Zum Geschützturm eines Panzerkreuzers hat dort die Einheit des Hauptmanns Gardis einen Tempelberg der Buddhisten umgebaut. Nach allen Himmelsrichtungen haben sie Splittergräben ausgehoben, Gewehrläufe ragen in die Weite einer nackten Gebirgslandschaft. Direktor Rassoli ist aus Kabul gekommen, um seine Truppen zu inspizieren, nicht in Wardak, von wo sie flohen, sondern in Logar im Süden, wo sie weiter die Stellungen halten sollen. „Wir brauchen bessere Waffen“, fordert Hauptmann Gardis vom Chefarchäologen. „Unsere Gewehre sind alt. Sie haben Ladehemmungen nach vier, fünf Schüssen.“

Die um 200 nach Christus erbaute buddhistische Stadt Mis Ainak schmiegt sich an die Hänge einer schwarzen Gebirgswand. In der Ebene davor liegen die Trümmer von Lagern der Taliban und al-Qaida, die amerikanische Bomber 2001 zerstörten. Gardis grub sich mit seinen 58 Männern vor einem Monat im buddhistischen Heiligtum ein. Die Gegend wird tagsüber von der Zentralregierung in Kabul kontrolliert, nachts von den Taliban. Die betreiben hier Nachschubwege. „Ihr wisst“, beschwichtigt Rassoli. „wir haben kein Geld für bessere Waffen. Immerhin bekommt ihr jetzt besseres Essen. Wie ist denn der Reis?“ Zwei Angriffe überstanden Gardis Männer schon. Einmal versuchten Plünderer, sie vom Tal aus zu überrennen, das andere Mal, vor zehn Tagen, kamen sie quer über die Hänge. Am Fuß der Stupa liegt eine nicht explodierte Flugabwehrrakete, die beim letzten Mal auf sie abgefeuert wurde. „Wir haben Glück“, sagt Rassoli, „dass der Tempel noch steht.“

Der Direktor hat Angst, dass die Polizisten herausfinden, wofür sie eigentlich ihr Leben riskieren. Heimlich entfernte er vor zwei Wochen fünf Buddha-Statuen aus den Seitennischen der Stupa. Er ist sich sicher, dass Gardis Männer im rückwärtigen Teil der antiken Stadt selber plündern. Sie bekommen 50 Dollar im Monat, wer könnte es ihnen verdenken. „Wir haben keine anderen Männer“, flüstert Rassoli. „Wir haben nur diese hier.“

Den Tag über dösen die Männer in ihren Wohnverhauen, die sie sich in ehemaligen Plünderergruben bauten. In Stockbetten schlafen sie hier, Kartoffeln liegen darunter und Granaten für Panzerfäuste gleich nebendran. „Ich weiß nicht, was wir bewachen,“ sagt der 23jährige Polizist Zacherent. „Es wurde uns nur gesagt, der Ort sei wichtig für unser Land.“ Sieben Maschinengewehrnester haben sie über die antike Stadt verteilt, sie spielen Karten, vertreiben sich die Zeit, während sie auf Ablöse warten. Die hätte nach einem Monat längst kommen sollen. „Das macht die Stimmung nicht besser“, klagt Zacherent. Direktor Rassoli fährt mit seinen 20 Bodyguards aus der Hauptstadt wieder davon. Lässt Gardis und seine Männer zurück in ihren Schützenlöchern. Es dämmert. Die Talibanzeit bricht an.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


Das Land könnte eine Verheißung für Forscher sein. Es gibt in Afghanistan immer noch ganze Regionen, die sie nie betraten. Die Nation mit einer der größten Konzentration an antiken Hochkulturen, ist archäologisch eines der unbekanntesten. Durch Zufall entdeckte der französische Archäologe Besenval vor vier Jahren die lang gesuchte Hauptstadt Alexander des Großen in Afghanistan namens Baktra. Dort lehrte und lebte der Prophet Zarathustra. „Wir haben korinthische Säulen im Hinterhof eines Kommandeurs gefunden. Zum Glück hatte er sie nicht zu Kalk verbrannt. Das passiert oft, weil Säulen keinen Schwarzmarktwert haben.“ Zwei Fahrstunden südlich von Kabul fanden Plünderer Ende der 90er Jahre eine antike Großstadt mit der ungeheuren Ausdehnung von 25 Meilen. Die beschlagnahmte Hehlerware deutet auf ein buddhistisches Zentrum aus dem siebten Jahrhundert hin. Genauer untersuchen können Experten das „Pompeji Zentralasiens“ nicht. Die lokalen Kommandeure lassen keine Forschungen zu, selbst der Kulturminister wurde schon von dort vertrieben. Vier Polizisten starben, als er sie dort als Wächter stationieren wollte. Der britische Privatgelehrte Jonathan Lee stieß 2004 bei einem Dorf in der Provinz Bagram auf ein Felsenrelief, das nach Zerstörung der Buddhas nun das größte im Lande ist. Vier mal sechs Meter: eine Reiterszene aus Zeit der Perser. „70 Prozent der archäologischen Standorte befinden sich zwei Kilometer links und rechts der Hauptstraßen“, schätzt Lee. Afghanistan sei archäologisch ein Terra inkognita. „Du kannst in den Bergen wandern und Paläste entdecken.“ Durch ein Luftbild gelang 1957 die spektakulärste und bis heute rätselhafteste Entdeckung. Ihre Plünderung ist eines der traurigsten Kapitel des Untergangs afghanischer Kultur.

Der schmale Schatten auf Luftaufnahmen, der Piloten irritierte, erwies sich als das zweithöchste Ziegelminarett der Erde. Der Turm zu Jam, 12. Jahrhundert. Ein Monolith, als sei er vom Himmel herab gefallen, ragt in der Schlucht des Hari Rod auf. Jam ist vollkommenste islamische Baukunst, ebenmäßige 65 Meter hoch, prachtvoll verziert, eine gigantische Nadel wie aus Stein gegossen, hier in fast menschenleerer Einsamkeit. Es gibt nur hachelbesetztes Gebirge in diesem Teil des zentralen Hindukuschs, Steilwände und einen reißenden Fluss, dazwischen kaum Platz für einen Pfad, schon gar nicht für eine Straße. Diese extreme Abgeschiedenheit ist der Grund, warum ein Gebäude, imponierend wie der Kölner Dom, für fast ein Jahrtausend in Vergessenheit geraten konnte. Die Unesco erklärte ihn zum Weltkulturerbe. Dorthin, in einen der unzugänglichsten Teile des Hindukusch, hat sich das Team des britischen Archäologen David Thomas aufgemacht. Die jungen Idealisten, die sich mühsam die Finanzierung ihrer Expedition zusammen bettelten, graben nicht aus: Sie wollen erforschen, wie sehr Jam bereits geplündert wurde.

Die Erde haben sie gelernt wie ein Buch zu lesen, detailreich, oft auf Jahrzehnte genau, und wie geschändet ist diese Erde! Die jungen Briten ringen um Fassung. Die Berghänge rund das Minarett sind durchlöchert als hätte eine Termitenbrut in ihnen gehaust. „Das Minarett war Zentrum einer großen Stadt“, glaubt David Thomas. „Das war vermutlich die Hauptstadt der Ghoriden, eines der größten Imperien Asiens.“ In Teams klettern sie quer über den Trümmerhang. 124 Löcher werden sie in den nächsten zwei Wochen dokumentieren, eine Pappkarte mit Nummer deponieren sie in jeder untersuchten Höhle. Die exakte Lage der Gruben im Berg misst ein Theodolit. Kartografen der Gier. Die Nachwuchsforscher wollen in Jam retten, was zu retten ist, bevor nach ihnen wieder die Plünderer kommen.

Das Rauben hat Tradition in Jam. Es war sein Existenzgrund. Der „Weltenbrenner“, wie der Erbauer des Minaretts von Zeitgenossen genannt wurde, Sultan Ala al-Din Husay, zog im 12. Jahrhundert plündernd durch ganz Zentralasien. Sein Stamm der Ghoriden unterwarf sich in fast pausenlosen Kämpfen ein Großreich, das vom Golf von Bengalen bis zum Kaspischen Meer reichte. Die Nomaden kannten zwei Hauptstädte, eine für den Winter in Pakistan, die andere für den Sommer hieß Ferozkoh und ist vermutlich das heutige Jam. Das Minarett dort, behauptet der ghoridische Geschichtsschreiber Djouzdjani, sei von Kriegsgefangenen des unterworfenen Ghazni erbaut und der Mörtel mit ihrem Blut vermengt. Die Stadt beschrieb er als mächtige Festung, mit Balkonen und Türmchen, überragt von goldenen Kuppeln. Bisher hatte die Wissenschaft gezweifelt, ob damit Jam gemeint sein könnte. „Wo ist die Stadt zum Minarett?“, fragten die wenigen Forscher, die die Schlucht je erreichten. Die Raubgräber haben sie gefunden, überall an den Hängen. Nach der ersten Forschungswoche kehrt Thomas aufgeregt von einem Spaziergang am Fluss zurück. „Wir haben Reste des Stadttores.“ Die Bewohner eines winzigen Weiler nebenan fragen sie nicht. „Die glauben, wir suchen nach Schätzen. Je mehr wir fragen, desto heftiger werden sie später graben.“ Archäologen fühlen sich in Afghanistan wie Astronauten auf der Mondoberfläche. Dünnes Glas trennt sie vom Ersticken.

Selbst die afghanischen Berufskollegen verstehen nicht ganz, was die Briten hier wollen. Dem stellvertretenden Institutsleiter, Kollege von Rassoli, aus Kabul zwangsabgeordnet, ist die Frustration ins Gesicht geschrieben. Den anderen fünf Kabuler Archäologen geht es nicht besser. Sie sind auf die Suche nach Statuen und Inschriften getrimmt, nicht auf Pollen, die Thomas aus der Erde kratzt. Nur kleinste Stichgräben dürfen sie auf dem Vorplatz des Minaretts ziehen. Lustlos plagen sie sich mit einem Formblatt ab, in das sie den Befund zeichnen sollen. Thomas ist genervt. „Viele der afghanischen Kollegen nörgeln nur. Über das Essen, den Komfort, über alles.“ Er lebt für seine Passion, in Cambridge kommt er bei Freunden unter, weil er sich von 600 Euro eine Wohnung nicht leisten kann. Die nächste Reise nach Jam wird am Mangel an Sponsoren scheitern.

Die Rettung Jams sollen Touristen bringen, die nur dann zu locken sind, wenn das Minarett noch steht. Das erzählt man den Bewohnern des Weilers, um sie vom weiteren Plündern abzuhalten. Das hofft auch die Unesco. Die einzigen Touristen sind bislang freilich US-Truppen auf Talibanjagd und litauische ISAF-Soldaten, die in der Provinz stationiert sind. Kulturell interessiert, mit Sturmgewehr auf dem Rücken, zücken sie alles, was sie an Digitalkameras dabei haben. „Wirklich erstaunlich“, sagen sie. „Sehr bemerkenswert.“ Thomas nutzt die Gelegenheit und lässt sich vom litauischen Offizier die Notfallnummer ihres Satellitentelefons aufschreiben. In der Nacht beobachten die Forscher mysteriöse Lichtsignale auf dem Bergkamm. Ein, aus, ein aus. „Im besten Fall Wilderer“, werden die afghanischen Wachmänner unruhig. „Im schlimmsten Fall Räuberbanden. Wer kennt schon in unserem Land die Finsternis?“

Nur langsam begreift die Weltgemeinschaft, was vorgeht in Afghanistan. Dabei müsste dringend ein internationaler Bann auf den Handel mit zentralasiatischen Antiquitäten erlassen werden. Kauf und Verkauf von antiken Kulturgütern wären damit untersagt, egal ob neu erworben oder seit Generationen im Familienbesitz. Ein ähnlicher Bann funktioniert recht ordentlich beim Elfenbein. Besonders Deutschland verhindert aber Handelseinschränkungen. Immer noch ist es der von 110 Staaten unterschrieben Unesco Konvention zum Kulturgutschutz nicht beigetreten. Zu groß ist die Lobby der Antiquitätenhändler. Einen weiteren Ansatz versucht der Franzose Besenval, der Orte an denen er forscht, durch die Einheimischen selbst schützen lassen will. „Wir bauen ihnen eine Schule. Wir planen mit ihnen neue Bewässerungssysteme. Sie müssen im Schutz der Antike einen Profit erkennen.“ Doch nur wenige Regierungen und Hilfsorganisationen interessieren sich für den Schutz von Kultur in einem Land, in dem es täglich um die Rettung von Menschenleben geht. Und noch gibt es keine Entwicklungshilfe, die beides versucht.

In Qahars Dorf, oben im Norden, ist in der Zwischenzeit ein goldener Helm gefunden worden. Die Nachricht spricht sich in wenigen Stunden herum. Ein echter Schatz dieses Mal, ausgegraben in einer Grube nicht weit von der, aus der Qahar nur wertlose Scherben zog. „Ich habe das verdient!“ flüstert der Glückliche, als ihn Qahar auf dem Dorfplatz trifft. „Ich habe viele Monate fast nichts gefunden.“ Der Große mit dem teerschwarzen Vollbart gehörte zu den wohlhabenderen Bauern, aber auch seine Äcker sind weitgehend verdorrt. Aufgeregt telefoniert er mit einem Händler. „Etwas ganz besonderes. Du musst dir das anschauen.“ Noch am Morgen nach der Entdeckung hat er es aus Angst in ein Versteck in Mazar-il-Sharif gebracht. Der Helm stamme aus der baktrischer Zeit, habe unten eine Goldlegierung, oben sei er aus Silber. Dazu konnte er Teile des Brustpanzers bergen. Für eine Weile ist er König der Räuber. Bald, träumt er, wird er das Geld haben, einen seiner Söhne zu verheiraten. Die meisten jungen Männer im Dorf bleiben aus Geldmangel ihrer Väter ledig. Er telefoniert auf drei unterschiedlichen Handys, aus Angst davor, abgehört zu werden. Denn von wertvolleren Funden wollen die lokalen Machthaber gerne selbst profitieren.

Den Fund seines Lebens brachte Qahar einst fast den Tod. „Es war Alexander“, ist er sich immer noch sicher. Ein Steinkopf, 60 mal 60 Zentimeter groß. Die Augenbrauen seien vergoldet gewesen wie auch die Kopfhaare. Bevor er ihn verkaufen konnte, kamen die Taliban. Sie zerschlugen die Büste, um sie wertlos zu machen. In der kurzen Zeit, in der sie die Gegend beherrschten, verfolgten sie Raubgräberei rigoros – die Schätze der Antike gehörten dem Staat, also ihnen, erklärten sie. Bei einer Razzia erschossen sie auf der Tepa einen 25-jährigen Dorfbewohner. Qahar floh in die Wüste. Blieb dort ein Jahr. Er schlief zwischen den Dünen, manchmal brachten ihm Familienmitglieder Nahrung und Nachrichten, manchmal schlich er sich nachts nach Hause, um vor dem Morgen wieder zu verschwinden. „Es war die schwerste Zeit meines Lebens.“ Nach einem Jahr waren die Taliban von den Amerikanern geschlagen und kehrte Qahar zurück. Das ist für ihn die neue Freiheit: Die Freiheit, raubzugraben.

Einen letzten Rettungsversuch unternehmen einige Familien im Dorf und lassen noch einmal einen tieferen Brunnen bauen. Das Grundwasser fiel in den vergangenen Jahren von 25 Meter auf 45 Meter. Mit dem Geld der alten Griechen bezahlen sie Nazar, den halbtauben Brunnenbauer, der Kleinwüchsige mit einem Spitzbart wie ihn sonst im Dorf niemand trägt. Den Tag über kauert er im lichtlosen Brunnenschacht, 36 Meter tief bereits, und gräbt sich mit einer Spitzhacke dem Wasser entgegen. Im Dorf der Raubgräber ist er eine Mischung aus Clown, Heiliger und Spottfigur, den die Kinder in die Seite zwicken, die Mütze vom Kopf hauen. Oft muss er ihnen hinterher laufen mit seinen blutunterlaufenen Augen. Der Staub der Tiefe bricht ihm mehr und mehr die Sehkraft. Er spricht ein Mischmasch aus vielen Sprachen, in diesem Kauderwelsch singt er im Brunnengrund traurige Liebeslieder. Ab und an lenken Kinder mit einem Spiegel etwas Sonnenlicht hinab.

Qahar schultert am nächsten Morgen wieder die Schaufel. Er gibt nicht auf, er lässt sich nicht gehen wie viele der Männer, die den ganzen Tag im Schatten der Gassen kauern. „Ich versuche zu arbeiten. Ich helfe mir selber.“ Er nimmt von seiner Frau den Beutel mit Thermoskanne und Fladenbrot. Mit Zakir geht er anderthalb Stunden den täglichen Weg zu den Toten, durch abgestorbene Äcker und Weiden. „Allah“, sagt er, „ist uns noch etwas schuldig.“

„Hey, Dummkopf!“ rufen Kinder später zu Nazar in den Schacht. „Hey, du Spinner!“ Sie wollen wissen, ob er schon auf Wasser gestoßen ist. Ist er nicht. Irrer Singsang hallt aus der Tiefe.

 

Die Recherche zu dieser Reportage rettete dem kleinen Yamshid das Leben. Der Neffe unseres Übersetzers Hagie M.Sarwarie, der mit uns nach vielen Jahren wieder sein Heimatland besuchte, litt unter einem schweren Herzfehlern und Nierenversagen. Kurz entschlossen holte ihn sein Onkel nach Deutschland und erreichte, dass die Ulmer Universitätsklinik den Kleinen unentgeltlich behandelte. Yamshid geht es heute blendend, für seine Betreuung hat sein Onkel den Job gekündigt.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 
   
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PHOTOGRAPHIE
Christoph Püschner, Stuttgart
christoph.pueschner@t-online.de
www.zeitenspiegel.de