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PHOTOGRAPHIE Martin Sasse

 

Die letzte Stadt der DDR. Ein Besuch in Hamhung.

 

 

Der Arm der Frau schnellt hoch, unvermittelt, sie reißt ihren Mund auf, schreit. Inmitten des Menschenstroms drehen sich Passanten nach ihr um, wenden ihre Köpfe und sehen, auf wen sie zeigt. Entdecken den Ausländer auf der Straße und seine Kamera. Wie er die Stadtbewohner fotografiert, die in Kolonnen zu Fuß von den Feldern zurückkehren. Die ausgemergelt auf den Ladeflächen der wenigen Lastwagen stehen, Bauch an Bauch, aneinander geklammert, damit sie bei Bremsmanövern nicht herausfallen. Den Tag über haben alle auf den Äckern gegen die Hungersnot gekämpft. Die Bevölkerung des ganzen Landes ist zum Ernteeinsatz aufs Land abkommandiert. Fabrikarbeiter, Lehrer, Ärzte. Es ist zweifelhaft, ob sie erfolgreich sein werden. Es droht wieder ein Massensterben, glauben internationale Hilfsorganisationen. „Wir sind glücklich!“ steht auf riesigen Schriftzügen an der Straße. „Es gibt kein glücklicheres Volk!“ Die Frau rennt auf den Fotografen zu, voller Wut, es drängen sich Leute um sie, und in Jahrzehnten angestauter Hass droht sich zu entladen.

Der abgeschottetste Staat der Welt hat ein deutsches Reporter-Team einreisen lassen, als Geste des guten Willens, zur Verbesserung der zwischenstaatlichen Beziehungen. Eine Ausnahme, die selten gemacht wird. Nordkorea öffnet sich uns, einen kurzen Moment lang, misstrauisch und mit vielen Auflagen. Hier, wo man es am wenigsten erwartet, im Reich des „geliebten Führers“ Kim Jong Il, der „Sonne des 21. Jahrhunderts“, dem „Retter der Menschheit“, sind wir unterwegs zu einem vergessenen Kapitel deutscher Geschichte.

Die Genehmigungsschreiben füllen eine Aktentasche, doch nun geraten unsere Betreuer unversehens in Schwierigkeiten. Auf Ausländer reagiert die Bevölkerung wie ein Organismus auf Krankheitserreger. Reflexartig jagt er seine Abwehrkräfte auf sie. Zu dritt suchen unsere staatlichen Begleiter die Menschentraube zu beruhigen. Sie reden auf die Empörten ein, zeigen ihre Ausweise, die Beglaubigungen, doch schließlich geben sie auf. Überstürzt setzen wir die Fahrt fort durch Hamhung, zweitgrößte Stadt, 700 000 Einwohner, Sperrzone sonst, wichtigster Industriestandort, hermetisch abgeriegelt. Wir sind eine der ersten Journalisten, die diesen Ort besuchen: Nordkoreas Stadt der Deutschen.

Die Entfernung beträgt 8500 Kilometer, im Jahr 1956 bedeutete das sieben Tage Flugzeit. Berlin, Minsk, Moskau, Sibirien und Peking. Eine Reise durch russische Schneetreiben und chinesische Sandstürme. Im Grunde war es ein irrwitziges Unterfangen, über diese Distanz von der DDR aus den Bau einer Großstadt koordinieren zu wollen. Hamhung steht für das größte entwicklungspolitische Abenteuer Ostberlins. „Wir bauen euch eine Stadt auf!“ hatte Ministerpräsident Otto Grotewohl dem sozialistischem Bruderland versprochen. Die Amerikaner hatten 450 000 Tonnen Bomben im Koreakrieg Anfang der 50er-Jahre auf die Halbinsel geworfen, 90 Prozent der Siedlungsfläche Nordkoreas waren vernichtet. Die Sowjetunion half der Hauptstadt Pjöngjang wieder auf. Die zweitwichtigste Metropole delegierte sie an die DDR weiter – um ihr im Gegenzug noch ausstehende Reparationszahlungen zu erlassen.

„Ich war begeistert“, sagt Wilfried Lübke, 75, heute Ingenieur bei Hannover. „Ich konnte reisen. Mit Mitte 20 kam ich raus aus dem Gefängnis der DDR.“ Zwischen 1954 und 1962 errichteten er und 450 andere Techniker Wohnviertel, Industriegebiete, Theater, Schulen, Hotels, ein Freibad und Krankenhäuser. Lübke baute das Wasserwerk auf. „Ehrwürdiger Herr des Wassers“, nannten ihn die koreanischen Genossen. „In Hamhung dachte ich zum ersten Mal, das kann funktionieren mit dem Kommunismus.“ Seine Meinung sollte er wenig später wieder revidieren. Hier aber, fernab der Heimat, herrschte unter den Ostdeutschen ein fast schon amerikanischer Geist, wenig Parteibonzentum, flache Hierarchien. Viele DDR-Bürger arbeiteten hier mit echten Idealismus. Dem Wunsch, aufzubauen, nachdem Deutschland so viel Zerstörung über die Welt gebracht hatte. Beeindruckt war Lübke auch von der exquisiten Ausstattung mit Lebensmitteln und den erstklassigen Baumaterialen. „Eine so brillante Qualität hatte ich in der DDR nicht gesehen.“ Noch heute fährt man vierspurig auf der alten „Wilhelm-Pieck-Allee“ in die Stadt. Noch immer ist sie von DDR-Plattenbau-Modellen flankiert. Die Deutsche Demokratische Republik lebt hier auch nach ihrem Ende weiter.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


Die Rektorin bittet uns hinein, sie wirkt ein bisschen verwirrt, aufgeregt, die letzten Deutschen, sagt sie, sind 1988 vorbeigekommen. Zwei DDR-Fahnen stehen in ihrem Büro, ausgebleicht ein wenig, von Motten angefressen. Frau Kim Pil Sun hält sie für Deutschlandflaggen; uns zu gefallen, lässt sie ihre Schüler damit drapieren. Der Bau der Mittelschule für 1200 Jungs und Mädchen wurde 1956 durch Spenden der ostdeutschen Bevölkerung finanziert. Es war das erste Gebäude, das die „Deutsche Arbeitsgruppe“ zwischen den Bombenkratern wiedererrichtete. In Zeitungsanzeigen und Vorträgen rief man in der DDR dazu auf. Bis in die 80er-Jahre unterhielt eine Dresdner Mittelschule eine Partnerschaft, das Kollegium spendete auch den Fahnenschmuck. „Leider haben wir lange schon nichts mehr aus Dresden gehört“, bedauert Sun. Sie führt uns durch die Klassenzimmer wie durch einen überdimensionierten Adventskalender. Hinter jeder Tür sind sorgfältig Szenen für uns arrangiert. Die Chemielehrstunde. Der Matheunterricht. Im Saal wartet ein 60-köpfiges Schulorchester. In Blusen und Röckchen singen die zierlichen Mädchen uns: „Wir hassen unsere Feinde!“

Die Zeit ist in Hamhung nicht stehen geblieben, sie wurde zurück gedreht. Während im Westen das Jahr 2005 gezählt wird, leben Nordkoreaner im Jahr 94. Die Kalenderzählung von Christi Geburt ist abgeschafft, sie sei überholt, beschied der „geliebte Führer“ zum 1. September 1997 und ersetzte sie durch das Geburtsdatum (1912) seines Vater und Staatsgründers Kim Il Sung. Der große Massenhypnotiseur, der Nordkorea in 40 Jahren nach seinem Ebenbild formte, ist auch nach seinem Tod nominelles Staatsoberhaupt. Der Sohn regiert im Namen des Vaters und lässt ihm Standbilder bauen, überall, in jedem Dorf, zu jedem Anlass. Die wenigen Baustellen Hamhungs sind neue Kim-Denkmäler. Der erste Satz, den Kinder in staatlichen Horten sprechen lernen, lautet: „Lang lebe Kim Il Sung!“ An den Berghängen fordern scheunenhohe Schriftzeichen „Verehrt Kim Il Sung wie Gott!“ 15 Meter hoch überragt er als bronzener Koloss die „Wilhelm-Pieck-Allee“, Hamhung kauert zu seinen Füssen. Zehn Lautsprecher spielen zwischen fünf Uhr morgens und 23 Uhr gedämpfte Trauermusik. „Wir haben Sehnsucht nach dir“. Eine Stadt wie eine Aussegnungshalle.

Drei traurige Architekten sitzen in grauen Kaderuniformen im alten Hauptquartier der „Deutschen Arbeitsgruppe“, ein zweistöckiges Gebäudekarree, heute das Stadtplanungsamt. Zwischen 70 und 80 Jahre alt sind die Herren und arbeiteten vormals mit den DDR-Planern. „Wir fühlten uns unwohl, als die aus Deutschland kamen“, bekennt einer von ihnen. „Die Bräuche sind verschieden. Das Aussehen. Und wir hatten noch nie Europäer gesehen.“ Alle tragen sie das Portrait ihres Staatschefs am Revers, es heißt, das tue man freiwillig hier. In diesem Land gibt es keinen mit blankem Revers. „Man müsste alles mal dringend renovieren“, stellt einer fest. „Der Mörtel platzt ab. Die Fensterrahmen verfallen. Der Wind zieht durch die Wohnungen.“ Die Partei werde sich aber im nächsten Jahr darum kümmern, fügt er noch an, mit Blick auf unsere Aufpasser. In den Gesprächen mit uns formen sich die Worte bisweilen unendlich langsam. Die Zunge der Architekten ertastet sie behutsam, prüft sie von allen Seiten, als seien es Klingen, als könne man sich an ihnen den Mund entsetzlich zerschneiden.

Die größten Umerziehungslager Nordkoreas sollen im Osten von Hamhung liegen, nicht weit von der Stadt. Nummer 15, 16 und 22. Satellitenaufnahmen zeigen ausgedehnte Barackenareale, am Heimcomputer zu besichtigen bei „Google Earth“. Überläufer erzählen viele grausame Details. Eine Sterbensquote von angeblich 25 Prozent im Jahr. Sippenhaft. Die Wahrheit ist schwer zu erfahren, denn die Überläufer erdulden nach ihrer Flucht oft eine zweite Gehirnwäsche, die des südkoreanischen Sicherheitsapparats. Immer noch mahlen die Propagandamühlen beider Koreas unerbittlich. Es gibt Berichte, wonach in den Chemiebetrieben Hamhungs Kampfstoffe an Häftlingen getestet wurden. Das behauptet der geflohene frühere Leiter des Sicherheitsdienstes des Lagers 22. Er habe Menschen in Gaskammern sterben sehen. Seine Aussagen werden aber von internationalen Menschenrechtlern angezweifelt. Es ist mit Hamhung wie mit dem ganzen Land: Unfassbar, wie wenig man über es weiß.

Ein Symposium über Nanotechnologie gab es gestern in der Hochschule der Chemieindustrie. „Ausgesprochen interessant“, sagt Direktor Lee Hwa Gyo. „Ich schlage Ihnen auf diesem Feld eine Kooperation mit deutschen Universitäten vor. Man könnte davon gegenseitig profitieren.“ Die Universität, ganz in weiß, imposante elf Stockwerke hoch, 2500 Studenten, ist die einzige für Nordkoreas brachliegende Chemieunternehmen. An den Stadträndern von Hamhung erheben sich die metallenen Kadaver sozialistischer Ökonomie, pulverisiert Rost die Kombinate. Erloschene Schlote bis zum Horizont. Der Zusammenbruch des Comecon, der Wirtschaftsgemeinschaft des Ostblocks, nahm der Industrie alle Märkte, und US-Sanktionen sorgen dafür, dass keine neuen dazukommen. Hamhung gilt als Chemie-Hauptstadt Nordkoreas.

„Hauptstadt der Arbeitslosen“, spotten Pjöngjanger, natürlich nur hinter vorgehaltener Hand, weil ja Arbeitslosigkeit offiziell in diesem Staat nicht existiert. „Von unseren Professoren haben viele in der DDR studiert“, sagt der Direktor und lässt die Computerarbeitsräume besichtigen. Internetanschlüsse gibt es nicht, gibt es im ganzen Land nicht. Es heißt, die Masse der Nordkoreaner hätte keine Ahnung, dass der Mensch bereits auf dem Mond gewesen ist. Weil das Amerika glorifizieren könnte. Zum Abschied wünscht uns der Direktor mit festem Händedruck: „Betreten wir gemeinsam das Nanozeitalter!“

Den Arbeitern der Chemie-Hochburg fallen die Zähne aus, weil sich ihr Zahnfleisch entzündet. Es blutet und fault. Die Abgase in den Betrieben in Hamhung sind derart toxisch, dass selbst sich der „geliebte Führer“ Kim Jong Il bei einer Betriebsbesichtigung der Düngemittelfabrik beeindruckt zeigte. Er löste das Problem vor 24 Jahren auf typisch nordkoreanische Weise. Er ließ nicht etwa die Arbeitsbedingungen verbessern, sondern beschloss den Bau der größten Zahnklinik des Landes. 80 Zahnärzte können dort bis zu 450 Patienten künstliche Gebisse einsetzen. Uns führt man vorbei an langen Reihen von Behandlungsstühlen, mit großen Augen erwarten dort kleine Mädchen in rosa Rüschenkleidern altertümliche Bohrwerkzeuge. Eltern streicheln beruhigend über die Schultern.

Die große Düngemittelfabrik im Industriegebiet, die Hamhung seit Jahrzehnten die Zähne zieht, produziert nur einen Bruchteil des Notwendigen. Dieser Engpass ist einer der Gründe, warum sieben Prozent der Nordkoreaner laut UN Hunger leiden und 37 Prozent mangelernährt sind. Vor zehn Jahren sollen hier im Hinterland Hunderttausende krepiert sein. Die nächste Hungerkatastrophe kündigt sich für 2006 an. Der Überlebenskampf der Menschen hat sich der Landschaft tief eingegraben. Bepflanzt wird um Hamhung alles, was Erde ist. Bohnen und Kartoffeln wachsen an Straßenrändern, Mais auf Bahndämmen, Bauern erklettern mit ihren Pflügen alpinistische Abgründe. Überall droht Erosion. Die Hänge rundherum wirken, als hätte man ihnen die Haut abgezogen, um sich an ihrem Eiter zu säugen.

Das Positive sieht der Vertreter der Stadtverwaltung Jong Song Chol. Zu einem Picknick auf dem Acht-Drachen-Gebirge lädt er uns ein. Die Hamhunger, führt er aus, könnten sich landesweit der schönsten Frauen rühmen, des besten Eichelschnapses und der besten Stärkenudeln obendrein. Von 700 000 Einwohnern wollen sie auf eine Million wachsen. Eine Autobahn Richtung Pjöngjang wollen sie bauen. Ein modernes Sportstadium und ein Spaßbad. Dazu eine neue Brücke über den Fluss. Die alte der Deutschen genüge nicht mehr heutigen Ansprüchen. „Bald wird es uns besser gehen als den Rest der Nation!“ Die Frage, wie Hamhung das alles bewerkstelligen könne, beantwortet er mit einem Lächeln. „Das ist geheim.“ Aber der Anstrich der Häuser sei schon erneuert worden. Dann schenkt er uns ein weiteres Glas Eichelschnaps ein.

Geschütz um Geschütz feuert, Erdfetzen regnen nach Granateinschlägen, sobald hier der Fernseher läuft. Seit 50 Jahren wird das Land pausenlos im Kriegszustand gehalten. „Die Gefahr eines neuen Koreakriegs spitzt sich zu“, titeln die Zeitungen. Nordkorea unterhält die fünftgrößte Armee der Welt. 1,2 Millionen Soldaten. Sieben Millionen Reservisten. Das Militär verbraucht angeblich atemberaubende 31,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Nach Schätzungen amerikanischer Militärexperten würde ein Krieg in den ersten Tagen 100 000 Tote fordern. Die Entspannungspolitik, die Kim Jong Il während der Clinton-Präsidentschaft eingeleitet hatte, brach er ab, als die USA Nordkorea auf die Liste der Schurkenstaaten setzten. Wochenlang soll er nach dem US-Angriff auf den Irak seine Bunker nicht verlassen haben. Wenig später behauptete Nordkorea, es verfüge über die Atombombe. Auch in Hamhung soll daran irgendwo gebastelt werden.

Das Wasserwerk des Herrn Lübke, unten am wuchtig dahinwälzenden 1000-Monde-Fluss, ist wie eh und je in Betrieb. Zu Füßen eines überlebensgroßen voranstürmenden Soldaten wacht in der Maschinenhalle eine Frau über zwölf Pumpen. Bis vergangenes Jahr liefen Wilfried Lübkes Apparaturen, dann versagten sie endgültig ihren Dienst, kürzlich hat man sie ersetzt. Von hier aus wird die gesamte Großstadt versorgt. „Ich habe so manche Nacht über Fachliteratur gesessen“, erinnert sich der 75-Jährige an die Angst, zu scheitern. „Ich durfte keinen Fehler machen. Wenn ich einen gemacht hätte, wäre ich für die Koreaner verbrannt gewesen.“ Kim Il Sung saß häufig mit den Deutschen in ihrer Unterkunft zusammen, stundenlang debattierte er mit dem Leiter der Arbeitsgruppe. Den Personenkult von heute gab es zu dieser Zeit noch nicht. „Weiter so, Genosse!“ drückte er auch einmal dem Ingenieur Lübke die Hand. Seine Frau Helga ist 1957 nachgekommen. Auf einem Moped sind sie damals gemeinsam durch Landschaften gefahren, die heute meistenteils den Blicken von Spionagesatelliten vorbehalten bleiben.

Die beiden Ex-DDR-Bürger schwärmen noch heute von Nordkorea, dem Land ihrer Freiheitsträume. „Ich höre mir an traurigen Abenden gerne noch die alten nordkoreanischen Musikkassetten an,“ lächelt Wilfried Lübke. Vor drei Jahren ist er für einen Tag in die Stadt zurückgekehrt. „Sie kriegen den Duft nie aus der Nase, und dann erst der Himmel zur Regenzeit.“ Die alten Kollegen traf er damals nicht. „Die haben keine Zeit“, wurde Lübke vertröstet. Sie sind nicht da.“ Und schließlich, als er weiter nachhakte, hieß es vom ungeduldigen Übersetzer. „Die sind nicht mehr.“ Lübke grübelt seither, was mit den Mitarbeitern von damals passiert sein mag. Vielleicht geflohen, überlegt er, nach China, wie viele aus Hamhung. Vielleicht sind sie in politische Ungnade gefallen, samt ihren Familien in Arbeitslager deportiert. „Es ist“, sagt er über seinen Besuch, „wie wenn Sie in ein Haus von Freunden kommen, das keiner mehr bewohnt.“

1960, kurz nach ihrer Rückkehr in die DDR, sind die Lübkes über die Friedrichstraße in den Westen geflohen. Die Enge ertrugen sie nicht mehr aus – nach der Reise in die Weite. „Wir haben unsere Wohnung abgeschlossen, den Schlüssel im Schloss herum gedreht und sind gegangen.“ Die DDR hatte sich während ihres Aufenthalts in Nordkorea verändert. Sie war konservativer geworden, Überwachung und Misstrauen war plötzlich überall zu spüren. Die meisten von Lübkes Kollegen hielt es nach der Hamhung-Erfahrung nicht länger in der DDR. Sie galten nun als Kernmannschaft der Ost-Entwicklungshilfe, arbeiteten an DDR-Projekten in Vietnam, Tansania und Jemen. Lübkes fingen im Westen neu an. Zu dem Wenigen, was sie auf der Flucht mitnahmen, zählten die Souvenirs und Dias aus Hamhung.

Die letzten Jahre der „deutschen Arbeitsgruppe“ verliefen in Hamhung trostlos. 16 Ehemalige haben sich auf Lübkes Initiative vor drei Jahren in Berlin noch einmal getroffen. Sie erzählten ihm die Geschichte „ihrer“ Stadt zu Ende. Nordkorea hatte sich im Verbund mit China mit der Sowjetunion überworfen. Die Beziehungen zur DDR froren ein. „Die Koreaner wurden zurückhaltend“, wurde Lübke berichtet. „Sie redeten nicht mehr viel, die Deutschen wussten nicht mehr, ob sie für Freund oder Feind gehalten wurden.“ Die „Wilhelm-Pieck-Allee“ benannte die Stadtverwaltung in Jongsong-Straße um. Straße der Treue. Zur Einweihung der Brücke über den 1000-Monde-Fluss wurden die Deutschen schon nicht mehr eingeladen. Das deutsch-koreanische Projekt wurde 1962 eingestellt. Aus Klassenfreund wurde Klassenfeind.

„Wie sieht es da aus?“ fragen Diplomaten in der Hauptstadt Pjöngjang, als wir aus Hamhung zurückkehren. Die Stadt ist nach 40 Jahren Isolation zur Schimäre geworden. Nicht mehr zu fassen. Wie unsichtbar. Auf der Suche nach ihr wurden auch wir nicht fündig.

Im Yanggakdo Hotel in Pjöngjang steht in der Lobby ein Aquarium. Eine Schildkröte lebt darin. Der Platz zwischen den Glaswänden ist so eng, dass sie mit ihrem Panzer immer an beide Scheiben stößt. Beim Versuch, zu schwimmen, prallt eines ihrer Paddel regelmäßig am Glas ab und schlägt ihr hart auf den Kopf. Dann zuckt sie zusammen und sinkt auf den Grund zurück. Und irgendwann versucht sie es erneut.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 
 
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PHOTOGRAPHIE
Martin Sasse, Berlin
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