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PHOTOGRAPHIE Matthias Ley

 

Die Liebe in Tokio.

Sie ist die Stadt der Nervösen. Der Gehetzten und der Suchenden.

Ohne Zeit für den Tod.

 

 

Es ist in Tokio die Zeit zwischen Taifun Nummer sechs und Taifun Nummer sieben. Die Erde schweigt seit Wochen. Ungewöhnlich lange sind die üblichen kleineren Erschütterungen ausgeblieben. Schon werden einige nervös. Bauen sich Spannungen für das lange erwartete große Beben auf? In den Curryküchen wird diskutiert. Die Tokioter verbringen einen ganz normalen Sommer. Es gibt Leute, die sagen, dass nur ein böser Fluch Menschen in dieser Stadt wohnen lassen kann. Sie irren.

Es ist das Glück.

„Dritter Stock?“ fragt Miki Hashimoto, die sich beherzt durch die schließenden Fahrstuhltüren klemmt. Leib an Leib drängen sich hier die, die das Hoffen nicht aufgegeben haben, schwitzend kleben sie aneinander. Die Blicke heben sie starr zur Decke, einer räuspert sich, niemand spricht. Dieser Fahrstuhl führt direkt zum Glück, dritter Stock, so steht es am Eingang, so steht es in der Zeitung, immer mehr zwingen sich hinein. Drei Jahre schon sucht die Webdesignerin Hashimoto die Liebe in Tokyo, kreuz und quer ist sie mit der U-Bahn gefahren, rauf und runter auf geräuschlosen Rolltreppen. „Ich will mich verlieben“, sagt die 33-Jährige. „Ich will eine Familie. Ich will in Weiß heiraten.“ Das Haltesignal plinkt, Miki Hashimoto strafft sich, die Türen gleiten auf, wie die Singleagentur „Exceo“ verspricht, zu einem ganz neuen Leben.

Die Gesichter wechseln dort, wo Tokyo am einsamsten ist, rasend wie ein Panoptikum. Jede Minute lächelt ein neues zu Hashimoto, mal ein schmales, mal ein speckiges, ein schüchternes oft, das ist dann anstrengend, ein verspannt auf Clown machendes, das ist noch anstrengender. Und wenn mal ein normal wirkendes vor ihr sitzt, wird sie erst recht misstrauisch. „Verstellt der sich so gut, oder warum hat er noch keine Frau?“ Speeddating ist der neue Trend in Japans Hauptstadt, die auch eine Hauptstadt der Singles ist. Immer mühseliger finden die Geschlechter in Nippon zueinander, die Geburtenraten sinken, der Absatz von Kondomen ist rückläufig. Die meisten träumen von der Ehe, aber die wenigsten finden dorthin.

Die Liebe kommt wie vom Sushi Band, ein bisschen Spiel ist es und sehr viel Ernst. 25 Großstädter sitzen einander gegenüber und wechseln im Zweiminutentakt die Plätze. Die Kandidaten sind nach Einkommensgruppe, Beruf, Blutgruppe und Alter sortiert. Je später der Abend, desto höher die Einkommensklasse, jene mit eine Millionen Yen (rund 6700 Euro) beschließt den Tag. So lange hebt und senkt sich der Fahrstuhl im Vierzig-Minuten-Zyklus, pumpt er die Sehnsüchte von der Straße hinauf. „Ich suche einen Mann, der mir zuhört.“ „Ich kann nicht mit einer Frau leben, die keine Hunde mag.“ „Wir gucken dieselbe Comedy-Show, das ist doch interessant.“ Nach Ablauf der Zeit steht Miki Hashimoto wieder in den Windböen, sehr alleine, Taifun Nummer 7 kündigt sich über der 30-Millionen Metropole an.

Blutrot färbt er die Dämmerung, als die Braut ohne Bräutigam unter der Erde verschwindet, um die Bahn nach Hause zu nehmen. „Langweiler!“ flucht Miki über die Minutenmänner.

Das Leben eines Tokioters kommt dem eines Maulwurfs gleich, einen Großteil davon verbringt er in Röhren. Das Zentrum des Maulwurfbaus ist Shinjuku Station, verkehrsreichster Bahnhof der Welt, wie ein Schwamm durchziehen seine Unterführungen, Quertunnel, Einkaufspassagen das Stadtviertel. Fünf Stockwerke tief reicht er in die Erde hinein. Die Strecken von rund einem Dutzend Bahnlinien laufen hier zusammen, im Abstand von 40 Sekunden verkehren die Züge. Shinjuku Station gilt als das Kraftzentrum Tokios, das Schwungrad, das die Menschen dieser Stadt fast unentwegt in Bewegung hält. 3,4 Millionen Passagiere strömen an einem Tag durch den Bahnhof, die Deutsche Bahn transportiert in derselben Zeit nur eine Million mehr durch die ganze Bundesrepublik. Der Großraum Tokio ist wie ein ständig sich über Japan drehender Wirbelsturm, aber Shinjuku ist ein Wirbel im Wirbel, der sich immer noch sehr viel schneller dreht.

Selbst wenn man den Kopf ganz in den Nacken legt, so sehr bis es schmerzt, reicht es nicht, um alles zu sehen. Ein Wall aus Hochhäusern ragt auf der Westseite des Bahnhofs empor, bis zu 243 Meter hoch, rot blinkende Antennen strecken diese Bauten zum Himmel aus, als wollten sie mit den Göttern Fühlung aufnehmen. Das ist das Tokio der Profite, entrückt, Stein gewordene Ansammlung von Macht und Kapital, Vorlage für „lost in translation“. Der Osten dagegen gehört der Lust, dem Vergnügen, dem Elend, es sind dort enge Gassen, die zu gestauchten Häusern führen. Ein tropisches Dickicht an Strom- und Telefonkabeln hängt zwischen den Dächern. Auf dieser Seite des Bahnhofs fand der Horror von „Blade Runner“ seine Kulisse. Tagsüber gibt sich der Osten wenig ansehnlich, eher grau, aber nachts wird er zu einer geradezu obszönen Schönheit, zur Vision wie aus einem Drogentraum.

Die Häuser rasen im Licht, Farben hämmern auf Emelina Hagerskans im atemraubenden Wechsel, um sie herum versprühen Tausende Fassaden Feuerwerke in Neon. Die 19-Jährige ergeht sich mit zwei anderen Schwedinnen im Tokio-Rausch. „Ich bin hier, um frei zu werden, und diese Stadt macht mich frei! Schaut euch um!“ 300 000 Menschen schwappen abends in den Gassen des Vergnügungsviertels. Es brüllen Verkäufer, dröhnen Lautsprecher von Spielhöllen, schreien Werbefilme auf riesigen Videowänden. „Schaut euch um!“ schreit auch Emelina. Der Horizont ist gebrochen von unzähligen computergesteuerten Leuchtdioden. Dieses Spektakel schlägt jedes Theater, und auch Hollywood bleibt dagegen blass. Wer von einem der obersten Wolkenkratzeretagen auf das Getümmel blickt, sieht ein Meer aus funkelnden Diamanten. Wie Wesen aus der Tiefsee wirken darin die Lichtschlangen der S-Bahnen. Sterne am Himmel braucht Shinjuku nicht.

Die Fremdheit ist für die drei Schwedinnen ein Vakuum, schwerelos wie Astronautinnen schweben sie in der Stadt herum. Einen Monat studieren sie schon in Tokio, und immer noch stoßen sie auf keine Zwänge. Heute zeigen sie Japan ihr Porzellanpüppchen-Gesicht, weiß geschminkt, mit groß gemalten Augen, Zöpfchen auf dem Kopf, Korsett und Reizstrümpfe am Leib. Als Lolita-Verführungen stolzieren sie auf der Partymeile, morgen werden sie vielleicht die Bloody Rose geben, blutüberströmt auf weißen Tüll. Die Schwedinnen kopieren die Subkultur japanischer Jugendlicher. Mit fast akademischem Fleiß eignen sie sich die nötigen Kenntnisse an: Die „yamanba“ identifizieren sie auf den Straßen bereits in allen Variationen, die Berghexen, die sich die Haare greisenhaft silbern färben und die Augen alt schminken. Sehen sie Vertreter der einen oder anderen Spezies, werfen sie sich die Namen zu wie die von seltenen Schmetterlingen. Hier eine „ganguro“, da eine „chapatsu“. Überall in Tokios Zentren rebellieren aus der Provinz befreite Kinder gegen die Konventionen der Älteren. Noch vor 15 Jahren trugen fast alle jungen Japaner Schwarz natur, jetzt scheinen sie mit ihren Frisuren der Neonpracht die Schau stehlen zu wollen. Das ist das zweite Feuerwerk, das die Straßen Shinjukus entzünden.

Im berühmten Yoyogi-Park, im Süden des Bahnhofs, gehören die Schwedinnen bereits zur Starbesetzung. Jeden Sonntag ab 14 Uhr stellen sich dort Jugendliche in den schrillsten Kostümen aus. Ein bizarres Ritual, das auch Japaner kaum verstehen. Um die Schwedinnen scharrt sich immerzu eine Traube unverdrossen wollüstiger Rentner, die die drei Exoten mit Hingabe fotografieren. Zwei Köpfe hoch ragen die weißen Riesinnen aus der Menge. Emelina und ihre Freundinnen werfen sich in Pose, sie genießen das Gefühl, zu Tokios Touristenattraktionen zu zählen. Nur manchmal sind sie irritiert, wenn etwa ein Greis zu beharrlich ihre bestrumpften Waden fotografiert. Eines der Mädchen, Camilla, träumt von einer Model-Karriere. „In Schweden war ich den Agenturen drei Zentimeter zu klein. In Tokio interessiert das niemanden.“ Am Vortag hat ein Fotograf das Trio spontan zum Shooting gebeten und es drei Stunden lang in einen Tierkäfig Raubkatzen spielen lassen. „So etwas passiert dir nur in Tokio!“ schwärmen die jungen Frauen. Ihre Porträts hängen sie wie Trophäen an die Wände ihres 30-Quadratmeter-Apartements, für das sie zusammen 1400 Euro Miete zahlen. Schweden überweist ihnen Studiengeld. Die drei Lolitas hetzen zum Shunjuku Bahnhof auf den letzten Zug, es gibt Japanisch-Unterricht morgen. Kurz zuvor ist der buddhistische Mönch Seiji Taira mit der S-Bahn der Gegenrichtung aus seinem Meditationswochenende zurückgekehrt.

Der 34-Jährige wohnt mit Mutter und Pudel im „Tempel des Himmelsdrachens“, am Rand des Vergnügungsbetriebs, an der Scheidelinie zwischen Neon- und Tageslicht. „Wie hältst du es bloß aus in Shinjuku?“ fragten ihn die Mönchsbrüder außerhalb der Stadt immer wieder. „Wie kannst du da glücklich sein?“ Der Tempel liegt in einer tiefen Häuserschlucht versunken, immer höher sind die Steilwände der Bürogebäude gen Himmel geschossen. An wenigen Orten machtTokio klaustrophobischer, wuchern die Häuser so gierig um Zins und Dividende wie in Shinjuku. Im zugebautesten Viertel der Stadt lebt der junge Mönch auf dem einzigen unbebauten Streifen Land. Er organisiert ein strenges Inselleben: 5.30 Uhr aufstehen, Frühstück mit Muttern, 6.30 Uhr Morgenzeremonie. Das Schlagen der Stundenglocke entfällt zu seinem Bedauern, seit es Beschwerden aus den nahen Büros gab. „Der Verkehrslärm stört doch viel mehr“, versteht der Mönch die neuen Empfindlichkeiten nicht. Er ist im Tempel geboren, seine Familie betreut ihn in der vierten Generation. Das ist freilich noch nichts im Vergleich zu den vierzig Generationen, seit denen sich der „Himmelsdrachen“ schon nachweisen lässt.

Frisch meditiert führt Taira den Pudel aus. Er schlendert vorbei an den Niedergestreckten der letzten Nacht, die besoffen auf dem Trottoir kollabierten, oft in teurem Anzug und Krawatte. Im Zickzack läuft er um erbrochene Mageninhalte. Es begegnen ihm abgekämpfte Hostessen der Blow Job Bars, der Fummelclubs und Bordelle. Die meisten Bewohner, die Taira kannte, sind in den vergangenen Jahren weggezogen. Ihre Häuser mussten größeren Häusern Platz machen, sie wichen breiteren Straßen, neuen Kaufhäusern und Firmenzentralen. Die Besitzer verkauften, weil sie die horrenden Steuern nicht mehr berappen konnten, die Mieter wurden nicht gefragt. Nur die Tempel und Schreine haben aus der alten Zeit überlebt. Einige von ihnen hat man auf die Dächer von Häusern gerettet. Nach jedem Abriss werden sie in noch größere Höhen gehoben.

Im „Himmelsdrachen“ ist nichts mehr von der Fiebrigkeit Shinjukus zu spüren. Jenseits seiner Schwelle herrscht eine eindringliche Stille. Die Dinge werden hier unmerklich erledigt, barfuß, leise wie auf Katzenpfoten. Manchmal hört man ein sanftes Rauschen von Kleidern, denn die Vorbereitungen für das O-bon-Fest beginnen. Nach buddhistischem Glauben kehren dann die Geister der Toten zu den Gräbern zurück. Die Lebenden in Japan pilgern in diesen Wochen zu ihren Ahnen. Sie entzünden auf den Friedhöfen Begrüßungslaternen, damit die Vorfahren sicher den Weg zu ihnen finden. Halb Tokio fährt dann aufs Land, denn halb Tokio kommt von dort. Das bedeutet vollends blockierte Straßen, überlastete Züge, ein Shinjuku Bahnhof, in dem an jeder Zugtür ein Uniformierter steht, der mit weißen Handschuhen die Menge in Abteile presst. Holzkeile hatten die früher dazu verwandt, das haben die Bahngesellschaften jetzt abgeschafft. Taira und seine Mutter erwarten jedoch keinen Ansturm wie es ihn noch vor Jahren gab. „Immer mehr Leute sterben kinderlos. Und wenn sie Kinder haben, sind die zu beschäftigt.“ Keiner spricht die Gebete, um die Ahnen von Höllenqualen zu erlösen. Keiner bringt frische Wasserflaschen an die Gräber, damit die Verstorbenen nicht dürsten. Tokio fehlt die Zeit für den Tod.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


Die Frau, die das Glück sucht, Miki Hashimoto, hat einen erneuten Versuch gewagt. Eine weitere Runde Speedating. Eine Verabredung ist jetzt dabei herausgesprungen. Den Funken des Zweiminutengesprächs aber konnte sie aber nicht ins Restaurant hinüberretten. „Wir passten nicht.“ Übellaunig ist sie auch deshalb, weil ihre Softwarefirma abermals ums Überleben kämpfen muss, die Hälfte von 30 Angestellten sind bereits entlassen. Der Chef hat ihr eröffnet, dass auch sie bald in die Arbeitslosigkeit folgen könnte. Japan erholt sich wie Deutschland nur langsam von der Rezession. Der Webdesignerin ist des Speeddatens längst überdrüssig, doch kommt sie nicht von ihm los. Hoffnung ist wie eine Droge. Der Besitzer der Singleagentur blickt mitleidslos auf seine Stammkunden. „Die sind so unbeholfen“, lächelt der Krämer des Glücks. „Aber ich erkläre es ihnen auch nicht, wie sie es besser machen könnten. Ich freue mich, wenn die wieder kommen.“

Die ersten Tropfen des Taifun Nummer 7 fallen, als Masaru Jo in seinem Büro die Evakuierungspläne wälzt. „Wie bekommen wir die Panik bei einem Erdbeben in den Griff?“ fragt sich der Direktor der Gewerbetreibenden in Shinjukus Rotlichtviertel. Draußen lärmt wieder das Partyleben. Masuru Jo ist von der Stadtverwaltung mit der Organisation des Katastrophenschutzes beauftragt. „Wenn dann noch Feuer ausbricht, werden wir die Kontrolle ganz verlieren.“ Die Wahrscheinlich eines Erdbebens mit einer Stärke von mehr als 8 Punkte auf der Richterskala wurde für die nächsten 30 Jahre mit 80 Prozent errechnet. Die Münchner Rückversicherung stuft Tokio als gefährdeste Großstadt der Welt ein. „Dieses Haus mit unserem Büro würde einstürzen“, sagt Jo. „Das ganze Viertel würde zerstört.“ Die Bausubstanz ist morsch, die Gassen sind eng, es gibt keine freie Flächen, auf die sich die Menschen retten können. Die große Party von Shinjuku hat das Ende stets vor Augen.

Rotlicht-Direktor Jo konnte bislang nicht mehr als zwei Schutzräume ausweisen, ein Kino und ein Theater, 4000 Personen kommen da unter – von 300 000. Mit sizilianischen Temperament streitet er gegen die Tokioter Stadtverwaltung, die ihm im Stich lässt, mit gerade so viel Geld abspeist, dass er vier Walkie-Talkie kaufen kann. Auch das Viertel weiß der ehemalige Lebensversicherer nicht unbedingt hinter sich. Störrisch wie die Kommunalpolitik agiert der heimliche Eigentümer der Amüsiermeile, die Yakuza, die japanische Mafia. 2000 ihrer Mitglieder, unterteilt in vier Clans, verdienen am Vergnügungsviertel. Dringend, meint Jo, sollten die Gangster ihre Gebäude Erdbeben sicherer machen. „Die schauen nur auf kurzfristige Profite“, klagt er. Behutsam versucht er auf sie einzuwirken, nur so geht es in Shinjuku, wo gegen die Yakuza auch die Polizei nicht immer hilft.

Vielleicht sollte sie ihr Glück auf dem Land versuchen, überlegt Miki Hashimoto. Da kommen ältere Männer zu den Singletreffen. „Das muss ja nicht schlecht sein“, sinniert sie. „Vielleicht bin ich überhaupt zu anspruchsvoll.“ Sie müht sich jetzt das siebte Mal beim Speeddating, inzwischen hat sie die Agentur ausgetauscht. Ihrer Mutter, bei der sie wohnt, verheimlicht sie, wo sie ihre Abende verbringt. Unterdessen sind ihr zwei sehr schöne Namen für ihre noch ungeborenen Kinder eingefallen. „Misaki“, „schöne Blüte“, wenn es ein Mädchen wird. „Hayate“, Windböe, bei einem Jungen. „Unsere Schnellzüge heißen so.“ Sie will die Idee mit Freundinnen diskutieren.

Der Regen peitscht die Straßen, aufgeschreckt räumen die Obdachlosen ihre Wohnkartons unter Vordächer. Mutige Liebespaare nutzen den Schauer für heimliche Küsse. Da ist Tokio immer noch recht prüde. „Der Taifun wird an uns vorbeiziehen“, erklärt im Lokalfernsehen die Nachrichtensprecherin. „Das sind nur Ausläufer.“ Wasser plätschert die Stufen zum Restaurant Aragawa hinunter, in der dunkelsten Ecke einer Kelleretage ist es untergebracht, ganz unscheinbar, ein Raum, 22 Sitzplätze, keine Speisekarte an der Tür. Die Nervosität ist hier jetzt so groß wie bei Schauspielern vor der Abendaufführung. Der Koch ächzt in der nur drei Meter langen Küche. „Der Job schafft dich, körperlich wie psychisch.“ Sein Chef, Akira Kazama, ist bis in die Mundwinkel angespannt. Der Inhaber des „teuersten Restaurant der Welt“ (Forbes Magazin) erwartet heute Abend mit acht Mann Personal sieben Gäste. Selbst profunde Tokio-Hasser behaupten, dass das Essen dieser Stadt so gut ist wie an kaum einem anderen Ort auf dem übrigen Planeten. In vielen Straßen duftet es nach Hochgenuss, die Speiselokale ventilieren ihre Abluft auf die Trottoirs, absichtlich oft, von einer Versuchung gerät der Passant so zur nächsten. Keine Großstadt riecht so gut wie diese.

Die Spezialität des „Aragawa“ ist das Kobe Rind, eine außerhalb Nippons eher unbekannte Raffinesse. „Man muss diese Kühe behandeln wie seine eigenen Kinder“, deklamiert Herr Kazama während der Abendvorbereitungen. Ein Kobe Rind wird zu Lebzeiten zwei Stunden täglich massiert, an Rücken und Beinen, an Bauch und Hinterlauf. Dazu kommen viele andere Annehmlichkeiten. Für einen Buddhisten wäre es nicht das schlechteste Los, als Kobe Rind wieder geboren zu werden. Jede Kuh besitzt eine Urkunde mit Stammbaum, medizinischen Daten und den Abdruck ihrer Schnauze als Echtheitszertifikat. Alles ist hier Ritual, auch die Verfertigung der Holzkohle. Herr Kazama gibt mit Leidenschaft den Zeremonienmeister. „Das ist kein Handwerk, das ist Kunst. Jedes von uns zubereitete Stück Fleisch ist ein Kunstwerk.“ Im roten Plüsch von Teppich und Sitzgarnitur hängt der schwere Geruch von rohem Fleisch. Seit der Eröffnung vor 39 Jahren hat Herr Kazama nicht das geringste Detail in seinem Keller verändert. Geschirr, Seidentapeten, Küchenmaschinen. Nur älter ist man miteinander geworden in den Jahrzehnten seitdem, etwas spitzer ragt inzwischen der Schnurrbart über die Wangen von Herrn Kazama, etwas rundlicher füllt der Chefkoch die Küche aus. Immer noch schneidet der sorgsam das Fleisch, und wacht Herr Kazama daneben, ehrwürdig, mit verschränkten Armen. Ganz versunken ist der 72-Jährige manchmal über seinen Fleisch, er beugt sich über das Stück Rind, stützt die Hand auf und scheint für eine Weile kaum ansprechbar. Er schaut, als könne er in der Fleischmaserung alles sehen, das, was war, seit er 1967 aus Kobe nach Tokio kam, um sein Glück zu machen, und das, was noch kommen wird.

Der Koch treibt unterdessen weiter die Glut voran, sortiert die Holzkohle, justiert den Lüftungsregler. „Er ist immer noch so streng zu mir wie am ersten Tag“, schmunzelt der 48-Jährige in Richtung des erstarrten Herrn Kazama. Sechs Tage die Woche ist der Spitzenkoch gefangen auf seinen drei Quadratmetern. Die Familie hat er in all den 26 Jahren, die er hier arbeitet, noch nie in das Restaurant geführt. „Ich will nicht, dass sich die Welten vermischen“, sagt er. „Ich will nicht, dass meine Frau das sieht. Ich zeige ihr Fotos. Das genügt.“

Die Gäste, die sie heute erwarten, kennen sie nicht. So wie sie selten Gäste kennen, obwohl das Restaurant ausschließlich von Stammkunden lebt. Der typische „Aragawa“-Gast kehrt alle zwei Jahre wieder. Böse Stimmen sagen, auch die mächtige Yakuza aus Kobe säße gelegentlich mit am Tisch. Aber wer kann sich in der Gastronomie seine Gäste schon immer heraussuchen? Im Mittelpunkt des heutigen Abends steht Asako, genauer die rechte Hälfte von ihm, die linke verzehrten sie letzte Woche.

Im „Aragawa“ sind Kühlfächer die wahren Tresore. Das Schnäppchen auf der Speisekarte kommt auf 670 Euro, das Teuerste auf das fünffache, Wein noch nicht inbegriffen. Herr Kazama weckt sich mit einem Ruck wieder aus der Starre. „Solange nur ein Mensch auf dieser Welt Kobe Rind essen will, mache ich weiter.“ Jeder glaubt es ihm.

Ein Blitz schlägt in der Ringlinie Yamanote ein, die Stadt erleidet eine Art Schlaganfall. Weite Teile sind für Stunden gelähmt. Der Unterricht im Fesselstudio des Arisue Go kann deshalb erst erheblich später beginnen. „Aua“, zischt eine der drei Frauen, die Meister Go an die Decke seines Trainingsraumes knotet. Er murmelt Worte der Entschuldigung und korrigiert eilfertig die Fixierungspunkte. „Geht es?“ fragt der studierte Jurist. „Kannst du noch?“ Die Laster Tokios sind so zahlreich, dass der Pornosektor ein Drittel der gesamten Filmproduktion Japans ausmacht. Das „Shibari“, das SM-Fesseln, behauptet von sich, dass es Techniken aus dem Strafvollzug der Samurai kopiere. Schweigend, mit fließenden Bewegungen, schlingt Go Seil für Seil um weibliche Körper, im immer gleichen Rhythmus. „Man muss es zügig machen“, erklärt er. „So wie man einen lebenden Fisch zerlegt.“ Abgehängte Teile seines Team halten auf dem Teppich ein Nickerchen, ein Herr schnarcht geräuschvoll auf dem Sofa. Man ist unter sich. Meister Go zeichnet andächtig kleine Gemälde aus Hanf auf die Frauen, Knoten fabriziert er wie Skulpturen, Seilführungen filigran wie Tuschebilder. Jeden Freitag trifft sich seine Gruppe zum Proben für die nächste Show, seit 20 Jahren knotet Go in den Striptheatern Shinjukus. Nebenbei gibt er Unterricht. „Einen Moment“, sagt er zum schwebenden Transvestiten, als das Handy klingelt. Baumelnd bleibt der Schüler zurück, in labiler Schräglage, während sein Meister in seinem Rucksack das Telefon nicht finden kann.

Die Fesselfamilie ist durch schlimme Zeiten miteinander verbunden. Liebevoll kümmert sich der Meister besonders um eine der drei hängenden Frauen, immer wieder flüstert er der Schwebenden Nettigkeiten ins Ohr, sie lachen leise miteinander. Seit 12 Jahren sind Meister Arisue Go und Sklavin Uzuki Taeko auch privat ein Paar. Eine Liebe in Tokio. Die 33-Jährige schnitt sich vor einem Jahr auf offener Bühne in Shinjuku den Hals auf. Sie wandte sich zum bereits aufgegeilten Publikum und sagte: „Seht her! Das ist meine Traurigkeit.“ Seitdem, auch heute, kaum ist sie von der Decke abgehängt, nimmt sie Pillen gegen ihre Schizophrenie. Die Narbe am Hals ist ihr geblieben. Sie sei auf dem Weg der Besserung, sagt sie. Gemeinsam schauen sie der Selbstfesselung einer Frau zu, die wie sich eine Spinne an die Decke hängt. „Oooh“, entfährt es dem Meister immer wieder anerkennend, wenn ein Knoten besonders gelang. Tokio, sagt Uzuki Teako, die Solo-Einlage betrachtend, sei der einzige Ort, an dem sie leben könne. „Es ist fast ein Paradies.“ Nur hier sei es ihr möglich gewesen, ihre große Liebe zu finden. „Tokio“, sagt sie, „ist voller Liebe.“

Die Webdesignerin hat sich beim Singletreffen auf dem Land gelangweilt. „Die Männer werden von ihren Mütter dorthin geschickt.“ Neue Hoffnung setzt sie in eine Internetseite, von der ihr eine Freundin erzählte. Sie findet ihr Glück, bleibt sie unerschütterlich. Irgendwann. Miki Hashimoto kann ihre Kinder schon lachen hören.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 
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PHOTOGRAPHIE
Matthias Ley, Tokio
matthias@leyphoto.com
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