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PHOTOGRAPHIE Theodor Barth

 

Der letzte Feldzug

Wie der Volksbund 60 Jahre nach Kriegsende in Russland die Armeen von gestern ausgräbt

 

Das Leder bricht er mit einem Knacken. Igor Patagin umgreift den Schaft mit der linken Hand, die Sohle mit der rechten. Im Schraubgriff zertrümmert er den Stiefel, der aufplatzt wie eine Kokosnuss und seinen Inhalt auf die Wiese wirft. Der Schenkelknochen rutscht heraus, die Fußknochen fallen, einige Zehenstücke kullern zurück in die Grube. Der 25-Jährige flucht leise, und wühlt in der frisch aufgegrabenen Erde. Sie ist durchsetzt mit Holzsplittern, die einstmals Sargwände waren. Die Wehrmachtsstiefel muss Igor knacken, weil nur die Knochen Platz haben im neuen Sarg. Standardmaß 50 mal 80 Zentimeter, ein Pappmodell. Es ist ein Abend im August. Die vier Kollegen haben ihre Spaten längst in den Wagen geräumt, rauchen ihre Zigaretten, doch für Igor soll dieser Tote heute nicht sein letzter sein. „Einen muss ich noch“, sagt er, nur drei hat er gefunden, ein schlechter Tag, denn er wird nach Akkord bezahlt, 4,15 Euro pro Mann. Ein Kopfgeldgräber.

„Gehen wir später noch zum Fluss?“, ruft er aus der Grube den anderen zu. Knochenstaub auf seiner Haut. Igor will abends immer ins Wasser.

Er kennt mit denen, die er ausgräbt, kein Mitgefühl. Sie sind zu Tausenden. Sie sind für ihn einer wie der andere. Igor beginnt an der Grasnarbe mit schwungvollen Spatenstichen. Doch mit jedem Zentimeter, den er sich dem Tod nähert, verliert er an Tempo, bis er schließlich fast ganz erstarrt, nur noch vorsichtig mit einem Messer kratzt, mit einem Schäufelchen scharrt. Die Stiefel holt er als Erstes heraus, dann hat er für seine Füße eine Standfläche im Skelett und arbeitet sich zur Hüfte vor. Hastig wirft er einen Ledergürtel mit Bajonettschaft über den Grubenrand. „Eine junger Mensch“, sagt er holprig auf Deutsch, als er die beiden Oberschenkel in der Hand hält. Bei unter 25-Jährigen ist der Gelenkkopf noch nicht zusammengewachsen. Sie stopft er wie alle anderen Knochen in einen Plastiksack am Grubenrand. Einen Rosenkranz mit Silberkreuz bekommt er plötzlich zu fassen, den legt er in ein kleines Tütchen mit der Aufschrift „Nachlass“. Es folgen Rippen, mehrere Hände voll, wie Fischgräten ragen sie aus seiner Faust. Schließlich, als er die Grube schon wieder zuschütten will, die Erkennungsmarke.

3./ Inf(antrie) Ers(atz) Bat(aillon) 236. Nummer 2084. Sie gibt dem Skelett einen Namen. Verzeichnet in den Listen der Wehrmacht. Franz Fromme. 19 Jahre alt. Geboren am 12. Juni 1923, gestorben am 22. Oktober 1942, hier bei Woronesch, Zentralrussland, friedliche Provinz heute, damals Weltenbrand mit 20 000 Toten täglich.

Der kleine Laster mit den 14 Gebeinen auf der Ladefläche, der heutigen Ausbeute, schaukelt der Schlafunterkunft entgegen. Einer leer stehenden Hütte, ohne Bad und Klo, in einem sterbenden Dorf, aus dem die Menschen in die Städte fliehen. Die Männer arbeiten im Auftrag des „Volksbunds Deutsche Kriegsgräberfürsorge“. Hauptsitz Kassel mit 529 hauptamtlichen Mitarbeitern. In Deutschland beinahe in Vergessenheit geraten, ist er im Totenreich ein Titan. Der Volksbund betreut die Ruhestätten von zwei Millionen auf 827 Soldatenfriedhöfen in 45 Staaten. Dem Grauen versucht er eine Ordnung zu geben. Eine militärische. Er gliedert das Entsetzen in Reihen und Blöcke. In den meisten Ländern ist seine vornehmste Pflicht nunmehr das Rasenmähen, anders in der ehemaligen Sowjetunion. Erst seit ihrem Zusammenbruch 1991 kann dort nach deutschen Soldaten gesucht werden. Jedes Jahr werden Tausende Angehörige über den Verbleib ihrer Familienmitglieder informiert – die sie immer häufiger nicht mehr kennen. Jedes Jahr gräbt der Volksbund ganze Divisionen aus, bestimmt die Identität der Toten, bettet sie um auf gewaltige Gedenkfriedhöfe.

Diesen Samstag haben sie den zentralen Friedhof für den Kaukasus eingeweiht, Fassungsvermögen 30 000 Mann. Der Bundesverteidigungsminister hatte seine Teilnahme kurzfristig abgesagt. Die Afghanistankrise, wie es heißt. Ein Krieg wirft auf den anderen seinen Schatten.

Es raschelt, als sie im letzten Tageslicht die Toten in Beuteln in den alten Schweinestall bringen. Ihr Zwischendepot, auf dem Weg zum neuen Sammelfriedhof Besedino bei Kursk, der 2009 vom Bundespräsidenten eingeweiht werden soll. Der Stall umfasst 200 Leichen, fünfmal haben sie ihn schon gefüllt und geleert. „Pelmeni!“, ruft Michail Komov, 45, euphorisch aus der Küche. Im Topf sprudeln Teigtaschen; nur ungern überlässt Komov, ehemals Schuldeneintreiber einer Wodkafabrik, das Kochen anderen. Zwei Monate ist die Gruppe jetzt in der Einsamkeit stationiert, von dort schwärmen sie aus zu wechselnden Friedhöfen, die längst nicht mehr als Friedhöfe zu erkennen sind. Sie zu lokalisieren braucht oft lange Recherchen. Die Holzkreuze wurden herausgerissen, von den Deutschen, die ihre Verluste verschleiern, von den Sowjets, die faschistische Ehrenmale zerstören wollten. Die Erdhügel wurden eingeebnet. Es sind heute Getreidefelder, Wiesen, wie die am Ortsrand des Weilers Nowossilskoe, wo sie in diesen Tagen graben. Es sind Kinderspielplätze und Parks in Großstädten. Straßenränder, Sümpfe. Der Tod liegt unter dieser Landschaft wie eine zweite Haut.

„Warum ich nach den Toten suche?“, fragt Michail Komov nach einigen Gläsern Wodka. Igor liegt bereits müde auf seiner Pritsche, ein anderer ist für den Toilettengang mit dem Spaten ins Feld. „Ich habe es versprochen“, sagt Komov. „Ich habe als Kind meiner Großmutter gesagt, irgendwann werde ich Opa finden.“ Bis zu ihrem Tod 1991 hatte sie auf ein Lebenszeichen gehofft. Als er 13 war, fand er seinen ersten Toten. „Ich fand meinen mit zehn!“, ruft Igor von der Pritsche. Komov trat Suchvereinen bei, Männern, die in ihrer Freizeit nach russischen Gefallenen graben. Er suchte in Nordwestrussland, in Kaliningrad, auf der Krim. Sein Haus in Woronesch ist voll mit Militaria. Vor einem Jahr machte der Kosake die Passion zu seinem Beruf, ließ sich als Scout anstellen von der Kriegsgräberfürsorge. Sucht jetzt Deutsche, die Feinde von einst. Und nebenher seinen Großvater, den er nie kennen lernte. Komov wuchs bei der Großmutter auf, er ist ihr einziger Enkel. „Sie hat nie wieder geheiratet.“ Er sitzt am Tisch, alleine mittlerweile, zusammengesackt, den Kopf zwischen Türmen aus Schultern. Er weint. Igor schläft.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


Ein Telefonkabel stoppt am nächsten Morgen die Arbeit bei Nowossilskoe, mitten durchs Skelett hat es geführt, wo es Igor mit dem Spaten kappte. „Igor“, sagt der wütende Komov, „hat ein Talent dafür.“ Das Dorf ist ohne Anschluss, zum wiederholten Mal. Der anderen Arbeitsbrigade, die für den Volksbund bei Woronesch arbeitet, fünf Mann stark, stellt sich unterdessen der Priester in den Weg. „Das hatten wir nicht vereinbart! Ihr solltet außerhalb des Zaunes bleiben!“ Der Pope fürchtet um die Blumenrabatte vor der Kirche. Im Krieg nutzten die Deutschen den Altarraum als Lazarett, 707 von ihnen drängen sich in Ladne um den Gottesbau. „Wir haben schon 180 aus der Erde geholt“, ruft der Vorarbeiter, „sollen wir die anderen einfach hierlassen?“ Der Pope geht von Grube zu Grube. Otto Hermann, 20 Jahre, Granatvolltreffer Gesicht. Paul Lange, 23 Jahre, Infantrieschuss Brust. Noch nach 60 Jahren kriechen ihnen Maden aus den Beckenknochen. Ihre aufgebrochenen Stiefel liegen auf dem Erdaushub. „Es ist ja gut“, sagt der Priester. „Nehmt sie alle mit.“

Direktive 41, ausgestellt am 5. April 1942. Hitlers Befehl für die „Operation Blau“. Eroberung Stalingrads. Besetzung der Ölquellen des Kaukasus. Planungen, die Briten im Iran und Irak zu schlagen. Die Wehrmacht kämpft, nicht für Deutschland, sondern für einen Wahn. Zwischen Juni 1942 und Januar 1943 sieht sich die Provinzstadt Woronesch plötzlich mittendrin. „Stalingrad des Nordens,“ nennt Michail Komov seinen Heimatort. Wie an der Wolga fraßen sich hier die Armeen fest. In Deutschland ist das längst vergessen, in Woronesch nicht.

Igor Parachnevitch wartet im grauen Garagenlabyrinth einer Woronescher Plattenbausiedlung, beigefarbene Anzugshose, weißes Hemd, er muss nachher noch ins Büro. Er hat Michail Komov angerufen. Parachnevitch läuft in seiner Freizeit mit einem Metalldetektor alte Schützengräben ab. Mehrere Garagen hat er für seine Fundsachen angemietet, Waffen aller Art, Stapel von Helmen, mit Einschusslöcher und ohne. „Das ist Aloysius Wagner“, sagt er und zeigt auf eine gelbe Einkaufstüte vor dem Garagentor. „ Granatvolltreffer.“

Totenübergabe. Komov füllt ein Formular aus, der Finder unterschreibt. Er habe den Wagner schon vor Jahren geborgen, die Kopie der Erkennungsmarke der „Deutschen Dienststelle“ in Berlin geschickt, der Nachfolgebehörde der Wehrmacht. „Es ist schade, dass sie ihre Toten nicht abholen.“ Von Beruf ist er Kriminologe, in Woronesch zuständig für die Untersuchung von Schmauchspuren. Und er muss jetzt eigentlich ins Büro, doch zeigt er Komov nun noch einen anderen Deutschen. Die Fahrt führt entlang der alten Front, heute Autobahn mit haushohen Werbeplakaten. Ein Gemüsefeld dann. Eine Baumgruppe, zwei Büsche, den Spaten in der Hand irrt der Kriminologe eine Weile auf und ab. Er fürchtet schon, den Deutschen wieder verloren zu haben, da beginnt er zu graben. Die Einkaufstüte, in die er „141“ der Infantrie-Ersatzkompanie 7 vor fünf Jahren legte, ist verrottet. Wurzeln haben den Toten erneut umwachsen, Komov reißt mit Macht am Oberschenkel, die Erde will ihn nur unwillig ein weiteres Mal lassen. Sechs Zähne sammelt er zum Schluss noch auf, ein letztes Wirbelfragment mit der Spatenspitze.

Der Schädel von „141“ liegt am Ende diesen Tages im Schweinestall der Arbeitsbrigade. Die Hälfte der Gesichtsfläche ist unterhalb der Nase abgeschlagen, von einer Granate vermutlich, kein Kinn mehr, keine Kiefer. Es gibt Verletzungen, die sind auch noch im sterilsten Stadium der Verwesung unsagbar grauenhaft. Sollten die Angehörigen des Vermissten ermittelt werden können, werden sie vom Volksbund darüber nichts erfahren. Die Ausgräber finden neben den Knochen oft Eiterschläuche und Spuren von Amputationen. Sie finden Telefonkabel, mit denen Leichenfetzen ins Grab gezogen wurden, weil sie niemand mehr anfassen wollte. „Er starb einen schönen Soldatentod“, hatte die Wehrmacht den Hinterbliebenen geschrieben. Auch der Volksbund will es dabei belassen.

Der Zeitdruck wird immer größer, unter dem die Planer der Kriegsgräberfürsorge stehen. Ihre eigenen Mitglieder schwinden, 150 000 haben sie in den vergangenen zehn Jahren verloren, nahezu die Hälfte. Die Spendengelder gehen jedes Jahr um bis fünf Prozent zurück. Die Enkelgeneration interessiert sich für die Russlandkrieger kaum mehr. Gleichzeitig steigen im Land die Kosten, mittlerweile auf 100 Euro für jeden Gefallenen. Es sterben in Russland die Zeitzeugen, die die Lage der Friedhöfe beschreiben können. Fast immer kommen zudem dem Volksbund die Plünderer zuvor. Viele Leichen wurden bereits vier-, fünfmal gefleddert. Vor großen Hotels werden die Erkennungsmarken feilgeboten, Panzerfahrer rangieren am höchsten im Kurs. Die Namen der Toten drohen auf den Souvenirmärkten zu verlöschen. Die Kasseler steigern deshalb die jährlichen „Umbettungen“ von jetzt 33 000 auf 40 000. Zusätzliche Arbeitsbrigaden wollen sie aufstellen, 350 000 bis 2015 bergen. Eine große letzte Kraftanstrengung – und doch nur ein kleiner Teil der Gräber.

Der Einzige noch, der im Dorf zu den Deutschen führen kann, ist Wassili, der König, wie sie in Stare Olschanka nennen. Es heißt, er habe als Kind gesehen, wie die Wehrmacht einen Friedhof anlegte. Seine Frau steht in der Tür, als Michail Komov nach ihm fragt. „Ihr Deutschen!“, schreit die 75-Jährige. „Ihr habt unsere Milch genommen! Unser Haus! Meine Mutter wolltet ihr erhängen, und im Nachbarort habt ihr 1000 Juden lebendig begraben! Ich kann dieses Volk nicht verstehen!“ Komov, der Kosake, versucht zu beruhigen. Dass die Toten ihre Strafe erhalten und die Deutschen sich geändert hätten. Sie die Russen inzwischen achteten. Sie in Deutschland die Gräber von zwei Millionen Sowjetsoldaten pflegen. Komov muss den Alten häufig die Wut nehmen, bevor sie ihm helfen. So weigerte sich in Orlovka vor zwei Monaten die stellvertretende Klinikdirektorin der Kreispsychiatrie, 200 Soldaten exhumieren zu lassen. Die Deutschen hatten die 700 Insassen sofort nach ihrem Einmarsch erschossen, die jüdischen Ärzte wenig später. Wieso sollte sie den Mördern irgendeine Ehre erweisen, fragte die Direktorin. Komov stimmte sie um, irgendwie, auch die Stiefel dieser Soldaten hat Igor mittlerweile gebrochen.

Als Wassili in der Tür erscheint, hat er Angst, in das Auto von Komov zu steigen. Ein alter, zittriger Mann. „Hier an der Straße“, sagt er. „Da haben sie Salut geschossen.“ 100 bis 200 lägen wohl hier. „Nein, du irrst“, sagt eine Nachbarin. „Gegenüber sind die begraben.“ Es geht hin und her, die Erinnerung beider ist nicht mehr die beste. Vermutlich, sagt Wassili, hat man sie in den 70er- Jahren unabsichtlich in den neuen Straßendamm eingebaut. „Lassen Sie die Toten doch da“, sagt er auf der Rückfahrt zu Komov. „Lasst sie in Ruhe. Ihr werdet bei denen auch überhaupt keine Wertsachen finden.“

Der letzte Feldzug einer Armee. Der Bagger ist bestellt. Der Fahrer hat seine Kamera mitgebracht, denn so etwas hat er noch nicht gesehen. Die Knochen, die aus dem Schweinestall geholt wurden, lagern nun in einem weiteren Zwischendepot bei Kursk, 150 Kilometer entfernt. 2 800 Soldaten haben sie hier angesammelt, in einem dunklen Getreidelager, meterhoch. Die Männer der Arbeitsbrigade versinken in Gebeinen. Links und rechts stemmen sie sich auf Schädeln ab, sie klettern auf den Knochenbergen. „Wo ist Staroe Garochowo?“ Namen von Gräberfeldern werden gerufen. Wie Zuckerrüben stapeln sich die Köpfe bis zur Decke.

Die Friedhöfe, die sie exhumierten, werden in Gruppen zum Gedenkfriedhof Besedino gefahren. Nachdem vor Jahren ein Angehöriger darüber erschrak, dass die Toten in nichts als den „Umbettungshüllen“ begraben wurden, sind die Arbeiter nun angewiesen, die Beutel in schwarze Pappsärge zu legen. Die erinnern an Kindersärge. Die Planer in Kassel haben sie zu klein konzipiert. Die Särge beulen aus. Der Bagger schiebt Erde über sie. Unter dem Gewicht platzt die Pappe auf, Knochen in Plastik quellen heraus. Dann fällt auch Erde auf sie. Der Krieg ist zu Ende, der am nächsten Morgen für Michail Komov wieder beginnt. 

 

   
 
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Theodor Barth, Köln
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