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PHOTOGRAPHIE Frank Schultze

 

180 000 Deutsche leben ohne Krankenversicherung.

Und raus bist du.

 
Peter Fischinger fällt. Das rechte Knie knickt ein, und das Bein gibt nach. Den Mund reißt er auf wie verblüfft. Er greift in die Luft. Einmal, zweimal, dann endlich bekommt er eine haltende Hand zu fassen. „Geht schon“, brabbelt er erschrocken. „Geht schon“, haspelt er erleichtert und lässt die Hand nicht mehr los. Die Welt des 70-Jährigen, die er sich in 35 Jahren Arbeit erschuf, die kleine Kunstgalerie in Stuttgarts Mitte, hat keinen sicheren Boden mehr. Auf amputierten Stümpfen balanciert er durch die Verkaufsausstellung. Er vibriert am ganzen Leib, Mensch und Ersatzteil, Prothesen und Krücken, so zerrt die Schwerkraft an ihm.

Das erste Bein verlor der Diabetiker vor vier Jahren, knapp unterhalb des Knies haben sie es ihm abgesägt. Das zweite Bein nahmen ihm die Ärzte vor einem Jahr ab und 20 000 Euro dazu. Bis heute überwies er das Geld nicht ans Krankenhaus, er hat es nicht. Eine Reha hätte er machen sollen, dringend rieten ihm die Ärzte. Zusätzlich drei Wochen Klinik und weitere 6000 Euro Kosten. Er weiß nicht, wovon sie bezahlen. Einen wie Fischinger dürfte es hierzulande eigentlich gar nicht geben. Sprechstundenhilfen starren ihn entsetzt an, und Ärzte fragen ratlos: „Sind Sie wirklich unversichert?!“ So geht es mittlerweile vielen in Deutschland: Leben auf eigenes Risiko. Krank ohne Krankenkasse. Eine Reportage aus dem Land der Vogelfreien.

Das Netz, das wir die Gesellschaft bisher unter sich wähnte seit der Gründung der Bundesrepublik, wird löchriger. Die Menschen purzeln hindurch, an den Maschen aus Paragrafen und Garantieleistungen vorbei, und staunen. Dachten sie doch: Ihnen könne das nie passieren. Ein Irrtum. Der Bundesregierung zufolge verdoppelte sich in den vergangenen zehn Jahren die Zahl unversicherter Menschen auf 188 000. Die Dunkelziffer, schätzen Sozialverbände, liegt weit höher. Es gibt viele Gründe, warum Leute in den Vorsorgeabgrund fallen. Wer etwa auf Grund zu hohen Restvermögens kein Arbeitslosengeld II bekommt, ist seit Hartz IV unversichert. Wer als Privatversicherter zwei Monatsbeiträge säumig ist, ist unversichert. Wer als Familienversicherter geschieden wird und nicht daran denkt, sich innerhalb einer Frist von drei Monaten selbst zu versichern, ist unversichert. Wer beim Aufnahmeantrag in die Privatversicherung Krankheiten verschweigt oder falsch angibt, ist unversichert. Wer unversichert bleibt, bis er älter als 55 ist, der Altersgrenze für die Gesetzliche, bleibt unversichert. Lebenslang.

Berlin, Prenzlauer Berg, Boom-Viertel der Wiedervereinigung. Die Ärztin, die nichts kostet, nur ein bisschen Frieren, draußen vor der Schiebetür, wo die anderen stehen, macht sich zögernd an die Wunde. Sabine Regling beugt sich über rote Blutkruste auf weißgelbem Eiter. „Das ist ja unschön“, murmelt sie zum Patienten, der ihr stoisch zwei aufgerissene Arme entgegenstreckt. „Ne Rolltreppe runtergefallen“, murmelt er zurück. Das Arztmobil der Caritas macht Halt am Ostberliner Helmholtzplatz. Er behandelt die, die sich ohne Kasse den Arzt nicht mehr leisten können. „Für Mediziner sind die Krankheitsbilder attraktiv“, sagt der Zivi vorn am Steuer. „Die stoßen hier auf Dinge, die kriegen sie sonst nur im Lehrbuch zu sehen.“ Der weiße Mercedes Sprinter pendelt durch die Hauptstadt, eine Praxis auf Rädern, Lumpensammler des Gesundheitswesens. Obdachlose gehören zu seiner Klientel, aber auch abgestürzte Bauunternehmer und ehemalige Regierungsräte. Und keiner von ihnen kommt nur wegen eines Schnupfens. Regling löst vorsichtig die Haut vom Arm.

Es ist keine Zeit zu verlieren, sagt die Ärztin den Patienten. „Das muss ausgeschabt werden. Sonst riskieren sie die Arme.“ Die Sache ist ambulant nicht zu machen. Regling greift zum Handy und wählt die Nummer einer befreundeten Kollegin. Die hat eine chirurgische Praxis und schneidet auch mal ohne Bezahlung. „Kannst du mir wieder einen Gefallen tun?“ Im Wagen hängt eine ganze Telefonliste mit Fachärzten, die im Notfall auf ihr Geld verzichten. „Ja, ja, ich mache auch vieles umsonst“, ruft Segling entnervt ins Telefon, als es wenig später darum geht, einen Radiologen aufzutreiben. Der steht noch nicht auf der Liste, und der junge Mann mit kaputtem Rücken bräuchte einen nach Reglings Diagnose. „Wissen Sie, dem Burschen geht es nicht gut. Aber dann lassen Sie es halt. Wunderbar.“ Drei Praxen hintereinander wollen nicht. Das Geld sei ohnehin knapp bei ihnen, wimmeln sie die Bettelnde ab. Es geht um 150 Euro. Segling knallt das Handy auf die Ablage. Hilflos. Wie ihr Patient.

Berlin-Steglitz, Mietskaserne, Türen ohne Namensschilder. Niemand spricht darüber, unversichert zu sein, oft wissen selbst Freunde nicht davon. Es klingt asozial. Es ist auch asozial. Das Anstehen bei Berlins neuen Armenärzten, zwischen Berbern und Illegalen, erträgt Renate Jusch (Name geändert) nicht mehr. Die Mutter zweier Kinder büßt seit Jahren für einen Fehler, den sie in den Wirren ihrer Scheidung beging. „Ich habe es nicht gewusst. Mir hatte es keiner gesagt.“ Durch die Trennung verlor sie den Familienversicherungsschutz und versäumte es, sich binnen der 3-Monatsfrist freiwillig weiterzuversichern. Arbeit, über die sie gesetzlich versichert worden wäre, fand die Bürokauffrau keine. Immer nur Aushilfsjobs. Das zweite Kind hat sie schon unversichert zur Welt gebracht, per Kaiserschnitt für 4000 Euro. Sie brauchte Jahre, um die Summe abzubezahlen. Jetzt ist Jusch wieder schwanger, achter Monat. Wieder droht die Kreissaal-Rechnung – die Jusch nicht begleichen kann.

Bleibt die Heirat. Eine Krankenversicherungs-Zwangsehe. Jusch ist in Deutschland kein Einzelfall. Im Grunde will sie nicht, ihr Lebensgefährte auch nicht. Wenn sie aber heiraten, ist sie wieder in der Familienversicherung. Lange hatten die beiden gezögert, zu lange, nun ist nicht mehr viel Zeit. Das Baby kommt. Der erste Versuch, gemeinsam den Eheantrag beim Stieglitzer Standesamt abzugeben, scheitert. Das Amt hat ein Computerproblem. Der zweite scheitert, weil der Freund von Jusch länger im Betrieb bleiben muss. Danach hatte das Amt schon zu. Der dritte klappt. In vier Tagen, zügiger gehe es nicht, beteuert die Behörde, werden sie getraut. Jusch bangt, ob das Kind so lange durchhält. „Ich habe ein komisches Gefühl.“ Es wird ein Heiraten gegen die Zeit.

Die medizinische Grundversorgung wird allmählich mürbe. Zu der demoskopischen Katastrophe kommt nun die Wirtschaftskrise. Im Strudel der Pleiten endet der Krankenschutz von immer mehr Handwerkern, Webdesignern, Außenhandelsvertreter. Sie verschanzen sich in den Trümmern ihrer Selbstständigkeit. Verweigern sich bis zuletzt dem Sozialamt. Stellen lieber die Beitragszahlungen an die Kasse ein. Lassen die Kinder unversichert. Klammern an der Hoffnung, es werde besser, bald schon. Diese Hoffnung ist bester Nährboden für Krankheiten. Sechsmal so viele Dienstleister sind unversichert als noch vor zehn Jahren. „Wir müssen etwas tun“, mahnt Volker Wissing, Bundestagsabgeordneter der FDP. „Wir müssen die Leute wieder pflichtversichern.“ Eine ungewöhnliche Position für einen Liberalen. Aber Wissing kennt im eigenen Bekanntenkreis zu viele, die in letzter Zeit aus der Versicherung fielen.

Freudenstadt, Musterländle, Vorort, ein herausgeputztes Einfamilienhaus mit Teich davor. Diese Unruhe macht dich krank, sagt der Handelsvertreter Norbert Mahler. Du hast sie im Auto, auf Spaziergängen, nachts. Manchmal steckt sie auch seine Frau an, dann liegen beide wach. Alles wirkt, als könne es zersplittern, jederzeit, das Leben ganz fragil wie aus Glas. Dem Betriebswirt wurde kurz nach Abschluss eines Neuvertrages vor zwei Jahren von der Halleschen Nationalen gekündigt. Die Hausärztin hatte der Versicherung auf Nachfrage mitgeteilt, dass beim 42-jährigen Mahler die Gefahr eines Infarkts bestehe. Das war der Halleschen zu riskant.

Es werben 309 Versicherer in Deutschland um Kundschaft und keiner will den Norbert Mahler. Dabei ist er ein richtiger Sicherheitsfanatiker, hat zwölf Versicherungen, eine Wegeversicherung, eine Haftpflichtversicherung für die West-Highland-White-Terrier-Dame Daisy. Sein alter Perserkater war sogar krankenversichert. Nur selber ist er es nicht. Er hätte das nötige Kleingeld. Der Vertrieb von Bauzubehör läuft gut. Dem 145 Kilo schweren Mahler, geschlagen mit etlichen Allergien, Wassereinlagerungen in den Gelenken, schmerzenden Knien und übersäuertem Magen, gelingt es nicht, sich krankenzuversichern, weil er zu viele Krankheiten hat.

Noch einmal schöpfte er Hoffnung, als neulich ein Vertreter von Signal ankündigte, zu einem Beratungsgespräch ins Haus kommen zu wollen. „Da lässt sich doch was machen“, hatte er am Telefon seinen Berufsoptimismus versprüht. Der Termin war gestern. Der Signal-Mann hat ihn kurzfristig abgesagt. „Ich bringe Sie unter!“, versprach auch ein Versicherungsmakler, angeblich Experte für Härtefälle, und offerierte dann von Axa einen Vertrag für Standardleistungen für 1600 Euro monatlich. Zu teuer, selbst für Mahler. Bei der Barmenia hatte es einmal geklappt. Ein halbes Jahr lang war er dort versichert, bis sie ihm rückwirkend wieder kündigte. Der Vertreter, sagt Mahler, habe ihn überredet, beim Vertragsabschluss 45 Kilo zu verschweigen. Das war`s dann.

Die Zukunft ist ihm zur Falle geworden. Der Mann weiß, er wird mit den Jahren nicht gesünder. Alle paar Wochen besucht der Handelsvertreter einen Freund in einem Altersheim im Schwarzwald. Der frühere DJ ist erst 32 Jahre alt und hatte nie daran gedacht, sich zu versichern. „Fahrlässig!“, schimpft Mahler. „Ich habe ihn immer gewarnt.“ Vor zwölf Jahren kam der Freund bei Glatteis von der Strasse ab und ist seither gelähmt. Nur den Kiefer könne er noch bewegen. Abgeschoben in die billigste Verwahranstalt, liege er inmitten von Greisen in einem abgedunkelten Raum. „Zweimal am Tag kommt einer rein. Er sagt, zieht mir eine Plastiktüte übern Kopf. Ich will nicht mehr.“ Mahler Albtraum. Verstört kommt er von diesen Besuchen zurück in sein schönes Einfamilienheim. Einen letzten Versuch will er jetzt unternehmen, doch noch eine Gnadenkasse zu finden: in der Slowakei.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


U
ngarn, Grenze zu Österreich, Mosonmagyarovar, Ziel von Unversicherten und Schnäppchenjägern aus ganz Europa. Die Hoffnung zieht in den Osten. Es ist Ende Dezember. Zahntouristen mit hochgezogenen Mänteln drängeln sich in den wenigen Cafés. Immer wenn sich die Tür öffnet, bläst von der Strasse ein sibirischer Wind herein. In der Kleinstadt mit 32000 Einwohnern arbeiten 156 Zahnpraxen mit 400 Zahnärzten rund um die Woche. „Seit anderthalb Jahren steigt die Zahl der Patienten ohne Versicherung erheblich“, beobachtet Frank Kammann, 48, Zahnarzt aus Augsburg, der hierher auswanderte, weil in Ungarn bessere Geschäfte zu machen seien. Einen Briten hat er gerade unter dem Bohrer. Der hat in der Stadt ein Zimmer für ganze zehn tage gemietet, um das Gebiss generalzuüberholen. Auch Norbert Mahler gehört zu seinen Kunden. Mit dem Billigflieger reist er aus Stuttgart für 29 Euro ins nahe Bratislava. „Happy Dent“ nennt sich Kammanns Praxis ganz schmerzunempfindlich. Hier gibt es Gebissarbeiten zu 30 Prozent der in Deutschland üblichen Preise. Das zieht viel Verzweiflung an und auch viel Fäulnis.

Den Ekel hat sich der Augsburger abgewöhnt. Er riecht den Gestank nicht, der in den aufgeklappten Rachen hängt. Sieht den braunen Schleimbelag der Zahnreihen mit dem nüchternen Blick eines Abrissunternehmers. „Die Leute kommen in einem immer schlimmeren Zustand.“ Er kennt welche, die Schmerztabletten nahmen, über Monate hinweg, weil sie das Geld für die Wurzelbehandlung nicht hatten. Sieben bis zehn Zähne muss der Wahl-Ungar häufig am Stück ziehen, weil nix zu retten ist. „Eine Frau mit zwei kaputten Kiefern ist neulich aus Regensburg mit dem Zug zu mir gefahren. Die konnte nicht mehr richtig essen. Sie hatte aber nur Geld für die obere Zahnreihe dabei.“ Kreditkarten werden bei Kammann übrigens nicht genommen. Nur Cash zählt hier.

Stuttgart, Stadtmitte, zwischen Puff und Parkhaus. Das blaue Aquarell von Max Ackermann hätte ihn über den Monat gerettet. Die Hände gefaltet, sitzt Fischinger im Rollstuhl und betrachtet das Bild. „Ein paar Tausend könnte es bringen.“ Der Herr mit Krempenhut, einziger Kunde heute in Fischingers Galerie, der lange mit sich rang, ist eben zur Tür hinaus. Ohne den Ackermann. Die Geschäfte des Galeristen sind miserabel, und zwar seit langem. Die Kunst, die ihm in den Achtzigern ein kleines Vermögen einbrachte, hat es ihm in den Neunzigern wieder genommen. „Der Markt ist völlig am Boden.“ Das Absterben des ersten Beines, die Fehlzeiten danach, ließen seine Rücklagen schrumpfen. Schließlich schaffte er es vor zwei Jahren nicht mehr, im Monat die 225 Euro Krankenversichungsprämie zu bezahlen. Daraufhin kündigte ihm die Kasse

Zwischen gesetzlicher und privater Krankenversicherung wird Fischinger zerrieben. 40 Jahre Iduna liegen hinter ihm. Nie, sagt er, sei er vor den Amputationen ernsthaft erkrankt. Über 100 000 Euro zahlte er in dieser Zeit in den Kassentopf, eine schöne Altersrücklage, die er jetzt der Iduna überlassen muss. Andere Versicherer nehmen ihn mit 70 Jahren nicht. In die Gesetzliche darf er nicht. Sein Rechtsanwalt, spezialisiert auf Wirtschaftsrecht, streckt die Waffen. „Das ist eine tragische Geschichte.“ Die Gerichte sind gegen den Galeristen. Krankenleistungen über Sozialhilfe kriegt er keine. Er besitzt zwar fast nichts mehr, alle Kunst gehört den Banken. Für Sozialhilfe aber müsste er sein Unternehmen auflösen. Das will er nicht. Muss er aber vielleicht irgendwann. Denn nun steht auch noch eine Augenoperation an.

 

   
 
             
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Frank Schultze, Dortmund
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