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PHOTOGRAPHIE Franz Killmeyer

 

Das grüne Grauen

Der Winter, als den Kitzbüheler Alpen der Schnee ausging

 

Das ist der Moment, den sie auf der Fleckalmhütte in Tirol mehr als alles andere gefürchtet haben. Den sie hinauszögerten, wochenlang, soweit es irgend ging. Nun scheint er gekommen: Es gibt nichts mehr zu tun.

Der Koch lässt in der Küche seine langen Arme baumeln, blank geputzt ist das Inventar. Seine Kollegin raucht vor der Tür. „Es reißt an den Nerven“, sagt sie. Der alte Hüttenwirt, Sebastian Hochkogler, wandert unruhig durch das Haus. Knorrig wie Wurzeln sind seine Hände, die ein Leben lang arbeiteten und jetzt nicht wissen, wie ruhen. „Was sollen wir denn bloß machen?“ fragt er. Sohn Thomas, 33, sieht mit dem Fernstecher ins Tal, an dessen Hängen sich nichts bewegt, kein Mensch, kein Tier, die Landschaft, wie erstarrt, liegt in schmutzigen braunen Grün. Die allerletzten Schneereste beginnen zu verschwinden. „Ein Wahnsinn“, sagt er.

Es ist Mitte Januar, eigentlich Hochsaison an einer der wichtigsten Skiabfahrten der Kitzbüheler Alpen. In 1334 Meter Höhe, auf einem ausgesetzten Berggrat, warten acht Angestellte und die fünfköpfige Wirtsfamilie auf Skifahrer, die nicht kommen - seit sechs Wochen, weil sie nicht kommen können. Unerwartet sichtet Hochkogler doch noch einen Menschen auf der matschigen Zufahrtsstraße. „Unser Oberstammkunde!“, ruft er, aufgeregt drängt das Küchenpersonal ans Fenster. Es ist heute der neunte Gast.

Die Wintersport-Industrie ist in großen Teilen lahm gelegt, Hotels, Lifte, Skischulen; die Alpenländer ächzen unter einem nicht enden wollenden Herbst. Statt zweistelliger Wachstumsraten zweistellige Plusgrade auf Gipfellagen. Hier und da blüht es auf den Skipisten. Die warmen Luftströme vom Atlantik treffen besonders hart die Österreicher, deren Tourismus zur Hälfte vom Wintersport abhängt. Er wiegt milliardenschwer und wird in 4,5 Prozent des gesamten Bruttoinlandsprodukts gemessen. Die Touristiker üben sich in Krisenmanagement und preisen ihre Kunstschneequalitäten, doch klimatologische Studien sehen den Skizirkus zunehmend in Gefahr. Schnee droht in den Alpen unter 2000 Metern zum raren Gut zu werden, immer mehr Skiorte können sich seiner nicht mehr sicher sein. Der Temperaturanstieg war hier in den vergangenen Jahrzehnten dreimal größer als im globalen Mittel. Eine jüngst veröffentlichte Untersuchung der OECD rechnet mit einem dramatischen Abschmelzen der Wintersportlagen. Von heute 666 würden lediglich 400 überleben, wenn es im Jahresschnitt um weitere zwei Grad wärmer wird – was bis 2050 wahrscheinlich ist. Auch das weltberühmte Kitzbühel, nur 760 Meter hoch, steht auf der Streichliste der Klimaforscher. In diesen Winter hat es dort bisher nur einmal nennenswert geschneit.

Es scheint kaum ein Bergdorf so erfolgsverwöhnt wie die 8500-Einwohner-Gemeinde, in der fast so viele Zweitwohnsitze wie Hauptwohnsitze gemeldet sind. In dessen edelsanierter Fußgängerzone die Büros von Immobilienmakler dominieren, der Quadratmeter auch schon mal zu 10 000 Euro gehandelt wird. Reicher und reicher ist Kitzbühel in den vergangenen 20 Jahren geworden, Treffpunkt der Münchner, Wiener und neuerdings auch Moskauer Schickeria, Ausgangspunkt zu einem der größten Skigebiete der Alpenrepublik.

Eine Parallelwelt aus High Tech überzieht die Bergmassive mit 56 Liften, 60 Abfahrten, 168 Kilometer Pisten, 50 Hüttenrestaurants, und bisher kam jedes Jahr irgendwo ein Neues hinzu. Notdürftig sollen Schneekanonen die Hauptverbindungsachsen befahrbar machen, doch selbst für Kunstschnee sind die Temperaturen jetzt unüberwindbar. Das Hahnenkamm-Rennen vom 26. bis 28.Januar steht auf der Kippe. Kitzbühels Existenzgrundlage ist heuer zur dünnen Krume geschmolzen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


Der Himmel über der Fleckalmhütte, der sie sonst üppig nährte wie ein einziges großes Euter, gibt nichts mehr her. Blau und bleiern lastet er auf dem Dach der Hochkoglers. Die Skihütte der Bauernfamilie hat seit der Saisoneröffnung am 8. Dezember noch keinen Skifahrer gesehen. „Die Terrassentische sind heute Morgen etwas angelaufen“, erzählt Sebastians Frau Cecilia. Die 63-Jährige ist unentschieden, ob sie das als gutes Zeichen nehmen soll. „Im Keller scheint es auch etwas kälter als gestern.“ Sie stickt in der leeren Küche Tiroler Volksartmuster auf Gardinen, leidenschaftslos. Winzigste Wetterveränderung nimmt die Besatzung des abgeschnittenen Tourismus-Vorpostens wahr. Die Piste, die bisher ihre Lebensader war, ihnen Prominente brachte wie Franz Beckenbauer, Jutta Speidel, Arabella Kiesbauer, besteht oberhalb der Hütte aus Eis und unterhalb aus Gras. Darüber schweben Tausende Menschen in den Gondeln der Fleckalmbahn, die das Tal mit dem höher gelegenen Hauptskigebiet verbindet. Zum Greifen nah scheint für die Hochkoglers der Geldstrom der Touristen, sie hören ihr Lachen, sehen ihr Winken, und doch ist er unerreichbar.

„Sie lassen uns im Stich“, sagt Thomas Hochkogler verbittert. Nach dem Eintreffen des Oberstammgastes ist auf der Zufahrtstrasse niemand mehr in Sicht. „Sie schicken uns keine Kanonen. Wir kommen immer als Letzte dran. Wir von der Fleck sind Bürger zweiter Klasse.“ Für das Ausbleiben des Schnees macht er weniger den Winter verantwortlich als die Kitzbüheler Bergbahnen AG. Die ist am Berg stets die oberste Autorität. Sie entscheidet, wann und wo der Schnee fällt. Und je weniger sie produzieren kann, desto heftiger ist der Kampf um seine Verteilung.

Der letzte Verteidigungsring des Wintersports liegt 450 Höhenmeter über der Fleckalmhütte, mühsam hält dort der Ingenieur Richard Profanter die Stellung. „Passt auf“, schärft er den Flottenführern der Pistenbullies bei der Abendbesprechung ein, „dieser Winter verzeiht keine Fehler“. Zu verletzlich ist der weiße Zuckerguss, den die Männer immer wieder neu auswalzen. Jeden Abend kratzen Profanters Schneeraupen die Mulden auf den Pisten aus, die die Kanten der Skier tagsüber füllten, um damit erneut die Steilhänge zu planieren. „Die Schaufel ein bisschen zu tief gestellt und schon stößt du auf Erde“, klagt Profanter. „Das braucht unglaublich Konzentration.“ Nur ein Minimum des begehrten Kristalls haben die 485 Schneekanonen und Schneelanzen auf den Berg werfen können. Ab vier Grad minus schalten sie sich automatisch an, doch so kalt war es bislang selten. „Wenn wir keine Fehler machen, schaffen wir es über den Januar“, predigt Profanter seinen Männern Moral. Das Skigebiet in St. Johann und das in Brixen am Hang gegenüber, berichtet er, haben am Vortag kapituliert und den Betrieb vorerst eingestellt. „Uns aber gibt es noch!“

Die Schneimeister, wie man sie taufte, haben den Berg zur Schneefeste umgebaut. Riesige Speicherseen ließen sie in die Flanken graben, Munitionsdepots für die Kanonen, gesteuert von Computerzentralen. Im Herbst, wenn das Wasser in die Speicherseen gepumpt wird, 1000 Meter ganz vom Tal hinauf, sinken die Pegel der Flüsse. Und als wäre das nicht Aufwand genug, muss Profanter das Wasser künstlich abkühlen, weil auch die Flüsse zu warm geworden sind. „Das weiße Gold“, sagt der Ingenieur zum Schnee. Es ist allmählich so kostspielig wie die Kristallkollektionen von Fiona Swarovski, die am Kitzbüheler Schwarzsee prachtvoll residiert.

Ein Kubikmeter „technischer Schnee“ kostet zwischen 2,80 Euro und drei Euro. Im Schnitt erzeugen Profanters Schneimeister pro Saison bis zu 1,5 Millionen davon. Hundertprozentig wollen die Kitzbüheler ihre Skiberge beschneien, die Konkurrenz macht es ihnen vor, bald aber können sie die Kosten nicht mehr alleine tragen. Nutznießer wie Hotels und Restaurants sollen ihren Obolus entrichten. Das sorgt in der Region für viel Diskussion. Die OECD warnt unterdessen vor der Aufrüstung: Mit Technik sei der Schnee in mäßigen Höhenlagen nicht zu retten. Besser sollten die Wintersportorte ihr Kapital in einen touristischen Strategiewechsel investieren. Das ist die traurige Ironie: Die Skigebiete stemmen sich gegen die Effekte des Klimawandels und beschleunigen ihn durch den enormen Energie-Einsatz der Beschneiung nur noch mehr.

Die Fleck kann auf Hilfe nicht hoffen. Aufgegebenes Terrain. Profanters Schneimeister haben genug damit zu tun, die Hochlagen nicht zu verlieren. „Die Fleck ist ein Appendix!“, warnt Profanter vor einer Verzettelung der Kräfte. „Ein Wurmfortsatz des Kerngebiets. Wenn die Kanonen wieder arbeiten, wird die als Letzte beschneit. Wenn alles andere fertig ist.“

450 Höhenmeter tiefer wird das Warten zur Strapaze, jeden Tag etwas mehr. „Ein Appendix!“, schnaubt Thomas Hochkogler. „Den gebe ich seinen Appendix!“ Fassungslos wiederholt er es den ganzen Tag, ein Montag, der ihm noch weniger Gäste bringt als der verlorene Sonntag. Zwei arbeitslose Pisteure sind heute mit dem Auto heraufgekommen, niedergeschlagen sitzen sie mit Hochkogler am Tisch. Die Bergbahn benötigt nicht mehr so viel Personal, um die geschrumpften Schneeflächen zu pflegen. Und auch die Glücklichen, die noch eine Anstellung für den Winter fanden, spüren schmerzhaft die milden Temperaturen. Einige verdienen bis zu 1000 Euro im Monat weniger als im schneereichen Vorjahr, da jetzt sämtliche Überstunden wegfallen. Früh wenden sich die beiden Pisteure wieder Richtung Tal. Draußen kämpft Hochkoglers Außenlautsprecher gegen die Tristesse an. „I will Schi foan!“, hallt es trotzig über die Wiese, die einmal eine Piste war. Schwierigkeitsgrad übrigens: rot-blau.

Die Saison geben die erfolgsverwöhnten Kitzbüheler trotzdem nicht verloren, noch sei der Winter jung. Doch selbst die Zuversichtlichsten würden ihre Zuversicht verlieren, müsste der örtliche Ski-Club das Hahnenkamm-Rennen absagen. „Der Potenzbeweis für unsere Schneesicherheit“, heißt es im Ort. Das einzige Rennen, das in den USA live übertragen wird. Höhepunkt des Weltcups. Sorgenvoll blicken die Gamsstädter auf ihren Haushang, die Streif, die in Fetzen hängt, zerrissen in braune und weiße Stücke. Die Leute recken die Köpfe, in Gruppen stehen sie auf Balkonen und mustern mit Fernstechern den Patienten. „Streif unter Wasser“, diagnostizieren Lokalzeitungen nur zwei Wochen vor dem Termin. Regen setzt dem Rest-Weiß zu. Fieberhaft arbeiten die Veranstalter vom Skiclub an einem 300 000 Euro teuren „Schneerettungsprogramm“. Kitzbühel will das Wetter mit einem Kraftakt bezwingen, vier Helikopter werden geordert, um vom Großglockner gefrästen Schnee an die Streif zu fliegen. 30 Sattelschlepper bringen ihn von Österreichs höchstem Berg, chauffieren weiße Haufen durch einen ansonsten steingrauen Ort. Eisberge auf Rädern. Tagelang knattern Rotoren über den Hoteldächern, der Klang der Krise. Sie lärmen am Hang und tragen Netze voller Schnee. Das österreichische Bundesheer rückt gar mit Soldaten an, um Kitzbühel etwas Winter zu bewahren. Es geht um zu viel. Immer schwerer ist es geworden, das Rennen gegen einen möglichen Ausfall zu versichern. Die Skiclub-Verantwortlichen stöhnen. Diesmal wäre es fast nicht gelungen, eine Versicherung zu finden. Die Prämie steigt zudem jedes Jahr um weitere 20 Prozent. Zu viel Geld ist im Spiel für zu wenig Schnee.

„Immerhin nimmt der Regen ab“, flötet die Radiosprecherin in die leeren Gasträume der Alm. Eine Köchin, eigentlich zuständig für die Salate, schrubbt die ohnehin sehr saubere Treppe, eine andere, auf Süßspeisen spezialisiert, saugt Staub. Alle Angestellten kommen aus Deutschland. „Ich kann die nicht entlassen“, flüstert Thomas Hochkogler. „Es ist hinterher teurer, ein neues Team einzuarbeiten.“ Im Tal hingegen rotieren Kellner und Köche. Die Cafes freuen sich über beste Geschäfte, über Tortenhunger statt Apres-Ski. Hallenbäder und Saunen sind gut gefüllt.

Wieder einmal peitscht Sturm die Berge, sämtliche Lifte stellen den Betrieb ein. Auch die Fleckalmbahn steht, von allen Zubringern reagiert sie am empfindlichsten auf Wind. Die Betreiber der Bergbahn überlegen gar, die Trasse zu verlegen. Erst kürzlich waren die Passagiere stundenlang in ihr gefangen. Wild schüttelte es die Menschen in den Gondeln, viele mussten sich übergeben, Kinder schrien. Hochkoglers hörten das Gebrüll, rannten aus ihrer Hütte, konnten aber nur hilflos hinaufsehen und aufmunternd winken.

Die Stürme häufen sich in den Kitzbüheler Bergen. Die Alpen sind ganzjährig im Ausnahmezustand. „Normales Arbeiten ist nicht mehr möglich. Wir laufen pausenlos dem Schadholz hinterher“, klagt Kitzbühels Waldaufseher Alois Erber. Während Lokalpolitiker und Touristiker noch nicht an einen Klimawandel glauben mögen, denn milde Winter habe es früher auch gegeben, beobachtet er eindeutige Zeichen. Die Eiche etwa, Wärme liebend, die früher nicht höher als 900 Meter wuchs, findet er jetzt schon auf Höhe der Fleckalm. Borken- und Rüsselkäfer setzen seinen Setzlingen seit wenigen Jahren bis hinauf an die Waldgrenze zu. Hänge rutschen, weil es über Kitzbühel immer öfter regnet. Insgesamt doppelt so viel Arbeit bereitet ihn der Temperaturanstieg. „Es wird wärmer bei uns“, sagt er. „Das ist klar.“

„Ich habe euch oft gesagt, ihr sollt die Türen nicht zuwerfen“, schimpft Thomas Hochkogler nach einem weiteren Tag ohne Gäste. Familie und Personal sitzen beim Abendessen, die Köpfe gesenkt. „Benehmt ihr euch so auch, wenn ihr auf dem Amt seid?“ „Wir werfen die nicht zu“, wehrt sich eine Kellnerin. „Ich höre es doch durch das ganze Haus!“ Allmählich droht der Hüttenkoller. Das Kühllager ist nach zwei Monaten noch randvoll, 120 Getränkefässer, 70 Fässer Weizenbier, davon erst vier aufgebraucht. Das Radio meldet, die Schneefallgrenze werde auf 2700 Meter sinken. So hohe Berge gibt es in Kitzbühel aber nicht. Morgen will Thomas Hochkogler wieder etwas tun. Die Frage ist nur: was? 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 
       
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Franz Killmeyer, Wien
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