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PHOTOGRAPHIE Tobias Baur

 

Die Erlösung.

Wie Grant Washburn 10 Meter Wellen reitet.

 

 

Warum magst du Fliegenfischen nicht?“ fragt sich Grant Washburn manchmal. „Oder Segeln? Oder etwas anderes - irgendetwas anderes.“

Er reißt die Augen auf, mit jagendem Pulsschlag, zum dritten Mal in dieser Nacht. Albern, ärgert er sich und starrt auf die rote Digitalanzeige des Weckers. 3.40 Uhr. Diese widerliche Aufregung. Er ist hellwach. Der 37-Jährige schält sich aus dem Bett, lässt darin seine Frau weiterschlummern, schleicht sich leise vorbei an den Zimmern seiner Töchter. In der Küche, die Richtung Meer liegt, lauscht er lange in die Finsternis. Eine gewaltige Kraft haben die Hochsee-Bojen da draußen gestern gemessen, 1120 Kilometer vor Kalifornien, 40 Stundenkilometer schnell, unaufhaltsam wälzt sie auf das Festland zu. Im Laufe des Tages wird sie die Küste erreichen. Es wird ein Alptraum werden und ein Traum. Beides will Washburn nicht verpassen.

Der Familienvater gibt endgültig auf, etwas Schlaf zu finden. Er wird heute gegen Menschheitserfahrungen aus Hunderttausenden von Jahren handeln. Es ist noch dunkel, da steuert er den Van aus der Einfahrt seines Apartmenthauses in San Francisco. Die Ausrüstung samt Videokamera und Filmkassetten hat er bereits am Vorabend verstaut. Grant Washburn fährt den Highway 1 eine halbe Stunde südwärts, er lenkt das einzige Auto um diese Zeit, in Kurven eng an der Küste entlang. Immer noch in der Dunkelheit steigt er bei dem kleinen Städtchen Half Moon Bay auf eine Klippe, unter der es schmatzt und saugt. 40, 50 andere Schlaflose finden sich in der nächsten Stunde ein. Die Meldungen der Hochsee-Bojen locken sie aus ganz Kalifornien an. Eine stumme Versammlung hoch über dem Pazifik, man schweigt miteinander, bis sich die ersten Sonnenstrahlen über das Meer zu tasten beginnen. Und sofort wissen sie wieder, wie erschreckend flach so ein Ozean sein kann. Geschmolzenes Blei. „Drei Meter Wellen“, schätzt Washburn enttäuscht. Den meisten Surfern würden die genügen. Nicht Washburn. Er wartet auf größere.

Nordkalifornien ist nicht Hawaii. Hier gibt es nicht die süße Surferlieblichkeit mit Palmen und Mädchen und knappen Bikinis, sondern das genaue Gegenteil. Dieser Ort heißt Maverick, Außenseiter im Amerikanischen, rau und abweisend, kalt und knochenberstend, das Extreme des Extremen im Surfsport. Festungsgleich schiebt sich das Kliff hinaus in schwarzes Wasser, das es aus drei Richtungen umtost. Wie ein Enterhaken ragt es ins Meer, ein Windfänger für alle Stürme, die der Pazifik gegen die Küste mahlen lässt. An nur wenigen Punkten trifft die Gewalt eines Ozeans so ungebremst auf das Festland wie hier. Grant Washburn und die anderen halten in der Morgendämmerung Ausschau nach den größten bekannten Wellen, die auf der Welt gesurft werden.

Die ersten stürzen sich ins Wasser, ungeduldig, Bauch auf Brett, sie paddeln mit Händen und Beinen. Ein Zug der Schildkröten. Fast einen Kilometer müssen sie hinaus, dort bricht sich die große Welle. Die Menschen erwarten das Erscheinen der Giganten. Die Namen ihrer Surfbretter, mit denen sie sich hierher wagen, klingen nach Mordwerkzeugen von Großwildjägern. „Elefantenbüchse“ etwa oder „Nashornjäger“. Washburn verharrt auf seiner Klippe. „Anfängerfehler“, kommentiert er. „Die sind völlig ausgepowert, wenn die wirklich Großen kommen.“ Er ist einer der Erfahrensten in Maverick. Ein wettergegerbter Hüne, 1.95 Meter groß, Hände wie Schiffsschrauben, Brustkasten wie ein Motorenblock. Unter den fünf Millionen Surfern weltweit ist er einer von rund 100 Extremsurfern. „Hüter von Maverick“ nennen ihn manche. Wie kaum ein anderer lebt Washburn im Takt der Gezeiten.

Zwei Wege führen zum Adrenalin. Einige der Surfer gehen nördlich des Kliffs ins Wasser, in ihrer Bahn lauern Wirbel zurückflutender Brandung, weißschäumende Löcher, die alles in ihrer Nähe ansaugen. Die anderen wählen die Paddelroute vom Süden und schaufeln verbissen gegen eine Strömung an, die schon viele aufs Meer hinaus gezogen hat. Den Expressservice für die Bequemen besorgen örtliche Fischer mit kleinen Booten, hin und her wippen sie in der Brandung. Immer nah vorm Überschlag. Saison ist in Maverick zwischen Oktober und April, mit Höhepunkten in Dezember und Januar. Die „Vodoo-Wellen“, durch die das Riff Weltruhm erlangte, donnern an 20 Tagen im Jahr. Für heute werden zwei Staffeln von ihnen erwartet. Doch noch ziehen nur harmlose Whopper, gemütlich rund wie Walbäuche, unter den Wartenden hinweg. Heben und senken die Neopren-Gemeinde um drei, vier Meter, ein Spaß wie auf einem Kleinstadtrummel. Ein Gemenge wie im Freibad. Die Leute kreischen und jubeln. Natürlich wissen sie, dass aus Lustschreien in Maverick schnell Panikschreie werden. Aber genau deshalb ist die Stimmung so ausgelassen.

Der Sturm, der das Wasser in Richtung Kalifornien peitscht, Hunderte Kilometer entfernt, hat im Nordpazifik sechs Tage zuvor als Brise begonnen. Ein lokales Unwetter wuchs dort zum mächtigen Tiefdruckgebiet, eine sich langsam drehende Spirale, die das Meer ovalförmig auseinander treibt. Kleine Wellen vereinigen sich zu großen, trennen sich wieder, kommen erneut zusammen. Orkane, die zwischen Japan und Alaska Schrecken bringen, erscheinen in den Wettermeldungen der Surfverbände als Partyereignisse. Die Surfsaison 2005 in Florida wurde vom Killer Katrina gerettet. Es braucht aber mehr als einen Sturm. Nur etwa zwei Dutzend Strände sind weltweit bekannt, an denen die Wellen höher als zehn Meter werden. Es muss ein großer Ozean vor der Küste liegen. Ein Wässerchen wie die Nordsee reicht nicht. Der Ort muss die richtige Distanz zu den Stürmen haben, weit genug weg sein, damit die Wellen zur vollen Große anschwellen können, und nah genug dran, damit sie nicht wieder an Energie verlieren. Maverick erfüllt all das und hat noch ein Extra in Reserve: Eine Schlucht im Meeresboden fasst die Welle wie ein Kanal. Sie bricht nicht am Riff, sondern rast hindurch, mit über 30 Stundenkilometern, stellt sich noch einmal höher auf, wird vertikal, bis zu 30 Meter hoch. Eine schwarze Wand, über die weiße Gischtschlieren laufen wie Geiferfäden aus einem tollwütigen Hundemaul.

Das Handy klingelt bei Washburn auf der Klippe, jemand, der bei ihm eine einzelne DVD bestellen will. „Die nächste Episode von Große Wellen und Großen Geschichten.“ Mühsam versucht sich der Familienvater mit dem Drehen von Surfvideos zu ernähren. In San Francisco klappert er die Restaurants an den Touristenmeilen ab. Hie und da schlägt er an Gäste Filme los. Den Beruf des Zimmermanns hat er aufgegeben, er will sich ganz dem Surfen widmen. Washburn hat einige spektakuläre Szenen jener Kinofilme gedreht, die auch in deutschen Kinos liefen. „Riding Giants“ etwa. Das IMAX-Projekt „Wild California“. Er gründete eine kleine Produktionsfirma, behauptet, das umfangreichste Maverick-Archiv auf Videokassette zu haben. „Ich versuche, jede der ganz großen Wellen mitzukriegen.“ Mal filmt er auf dem Wasser mit einer Helmkamera, mal vom Jet-Ski, dann wieder von einem speziell angefertigten Surfbrett aus, auf dem die Kamera fest installiert ist. An den „big days“ arbeiten ihm mehrere Freunde zu, bezahlt manchmal, unbezahlt meistens. Sie stehen hinter Kameras auf dem Kliff, schultern sie auf einem wild umherschaukelnden Boot zwischen den Wellen, halten sie aus einem Helikopter, der über den Gladiatorenspielen kreist. Viele Aufnahmegeräte liegen zerschmettert auf Mavericks Riffboden. „Die Kamera“, sagt Washburn, „kann plötzlich vom Freund zum Feind werden. Sie richtet sich gegen dich, wenn dich die Welle vom Brett reißt. Sie kann dich grün und blau schlagen.“

Es ist nur wenige Monate her, da stanzte sich ein befreundeter Surferfilmer mit der Videokamera das Gebiss aus. Weil er die Gefahr kennt, schleudert Washburn die Ausrüstung mit ganzer Kraft von sich, wenn er beim Filmen ins Schlingern gerät. Fünf Kameras hat er in den letzten Jahren auf diese Weise versenkt. In 15 Jahren kam er auf gerade einmal 50 Filmstunden. So mühsam ist dieser Broterwerb. So schwierig, sich auch wirtschaftlich auf der Welle zu halten. Die Konkurrenz ist hart, „Big waves“ sind längst zum Kult avanciert. Es werden Filme gedreht über Surfsenioren, Frauen, die surfen, Meistersurfer, Surfwettbewerbe, Surffilmemacher. Jede große Welle ist kurz nach ihrem Zerstäuben schon als Videoclip im Internet. „Oh!“, kreischen auf ihnen die Menschen verzückt, wenn die Woge wieder schäumt. „My God!“ Die einzigen Wortbeiträge. Beinahe wie im richtigen Porno.

Die Welle bricht in der Mitte, an ihrem höchsten Punkt, und rollt in der „Tube“, einer mithin haushohen Röhre, nach beiden Seiten aus. Die Röhre ist die Heldenhalle der Surfer, nur die Großen schaffen es in sie hinein, und nur die Größten unter den Surferfilmern, wie Washburn, folgen den Extremsurfern mit ihrer Kamera. Umschlossen von den Wänden einer Walze, des in sich kollabierenden Pazifiks, fünf Stockwerke hoch, Niagarafälle, die hinter dem Brett niederkrachen, einen Meter dahinter, oft nur Zentimeter dahinter, oft darüber.

Der Druck lässt ohne Gehörschutz das Trommelfell platzen, Gelenke kugeln aus, Knie, Schultern, das rasende Wasser überdehnt den Körper. In Finsternis öffnet der Verschlungene seine Augen. Prallt beim Versuch aufzutauchen gegen den Meeresboden. Hält den Atem flach, stößt sich in die andere Richtung, viermal, das Licht wird graugrün, sieben Züge, die Kehle drückt sich zu, drei Züge, Panik jetzt, und der Surfer bricht durch die Wasseroberfläche. Taucht auf, saugt Luft, und wird sofort von der nachfolgenden Welle in neue Tiefen gerissen, wirbelnd, haltlos, eingekringelt jetzt wie ein Embryo. Die durchschnittliche Zeit dieser „Hold downs“ – auch das wurde gemessen – beträgt 19 Sekunden, manchmal auch länger, manchmal zu lang. Helden steigen in Mavericks Flut, Geister entsteigen ihr. Zitternd, bleich, Blut hustend. Es gab bislang nur einen Toten. Ein Wunder.

Washburn geht zum Lunch in die Half Moon Bay Brewery. Der Treffpunkt der Big-Wave-Surfer. Von der Haiattacke letzte Woche erzählt man sich hier. Immer mehr von ihnen lauern in den Wellen, einen 25-Jährigen hat es jetzt erwischt. Unverletzt ist er geblieben, aber in seiner 500 Dollar teuren „Neptune Gun“ steckt nun ein Haizahn. „Wenn ich das Brett bei Ebay versteigere, bekomme ich das Geld für vier neue“, frohlockt er in Interviews der Lokalzeitungen. Washburn ist zuletzt vor drei Jahren ein Hai gegen die Leiste geprallt. Beide hatten in der Welle ihren Halt verloren. Er bestellt zwei Burger. Beim Warten hält er den Atem an. Teil seines Trainingsprogramms. Er hat sich zum Ziel gesetzt, fünf Wellen unter Wasser zu überstehen, ohne ohnmächtig zu werden. Mehr als einmal hatte er beim Sturz in die Brandung das Gefühl: „So ist es also, zu ertrinken.“ Washburn reißt den Kiefer auf, zieht Luft. Drei Minuten, 25 Sekunden zeigt die Stoppuhr. Zu wenig für Maverick, sagt er sich. Draußen sind die Wellen nunmehr auf fünf Meter angewachsen. Er wartet auf größere.

Das Meer ist ihnen nicht genug, jetzt muss es auch der Himmel sein. Die Wellenreiter rüsten sich zu Gipfelstürmern. Immer besser werden die Bretter, ihr Material, Schnitt, ihre Finnen, immer höher die Wasserberge, die mit ihnen erklommen werden können. Dreieinhalb Meter waren einst die Grenze, heute beginnen sie bei 15 Metern unreitbar zu werden. Schon hat ein Surfausrüster einen Wettbewerb für die 30-Meter- Marke ausgelobt. Das „Tow-in-Surfing“ ist erfunden, das Surfen vom Jet-Ski aus. Wassermotorräder chauffieren Surfer auf die Gipfellagen, auf die man nicht mehr durch bloßes Paddeln kommt. An einem Seil ziehen sie den Surfer vor die Brandung. „Na, los!“ rufen die Jet-Ski-Piloten in Maverick überheblich den Paddlern zu. „Macht schon! Rauf auf die Welle!“ Der Frieden ist dahin auf Mavericks Monsterkämmen, Traditionalisten bekämpfen die Dieselfraktion. Gegenseitig macht man sich die Plätze in der Wartezone streitig. Washburn, bisher Galionsfigur der Paddelpuristen, wechselte vergangenen Winter die Seiten. „Ich will in meinem Leben einmal die 30 Meter reiten. Und ich habe dafür nur noch zehn Jahre, in denen ich fit genug bin.“

Die Wellenfront ist offenbar nach Süden abgedreht. Das dräut Washburn nach dem Lunch. Er nimmt wieder seinen Platz auf der Klippe ein. Die fünf Surfbretter, frisch gewachst, liegen noch unangetastet im Van. Die Videokamera hat noch keine Sekunde aufgezeichnet. Das Warten verschlingt viele Tage im Jahr, viele Wochen. Ein Maverick-Ritt dauert dagegen maximal 40 Sekunden. „Dreimal länger als in Waimea auf Hawaii“, schwärmt Washburn.

Eine Schaumkrone plötzlich. Washburn springt auf. Sie durchpflügt die Linie der im Wasser treibenden Surfer, wird zur Wand, lauter Jubel hallt auf die Klippe, einer schafft es dort unten. Elegant gleitet er über den Wellenkamm, acht Meter hinab, in das tiefe Wassertal, durch Fahnen sprühender Gischt, und setzt sich an den Bug des Brechers, und schießt mit dem Brecher der Küste entgegen. Reines Glück. Dem Menschsein enthoben. Erlösung. Endlich.

„Ich fühle mich komplett in Gottes Hand“, beschrieb diesen Augenblick eine der wenigen Frauen, die Monster surfen. „Ich lasse völlig los, und Engel halten meine Arme.“

Es kommt nur diese einzige Welle. Washburn bleibt unerlöst und packt seine Kamera wieder ein. Die Bojenmeldungen sind auch für den nächsten Tag vielversprechend. Er fährt nach Hause. Highway 1. Stau diesmal. Er wird erneut schlecht schlafen und nachts am Küchentisch der Brandung lauschen. „Die Wellen heute waren nur der Beginn.“ Washburn wartet auf größere.

 

 

 

 

 

 

 

 

 
 
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