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PHOTOGRAPHIE Daniel Rosenthal

 

Die Knochenmühle

Das Blut der Arbeiter ist in China ein Standortvorteil: In keinem Industrieland können Firmen es günstiger vergießen.

 

 
Der Tod reißt an Herrn Yang, auf den Treppenabsatz drückt er ihn zu Boden. Den Hals hat er ihm abgeklemmt und die Lunge mit Eiter zulaufen lassen. Doch Herr Yang wehrt sich, würgt, stützt sich an der Wand ab. Er spannt jede Sehne. Hustet sich das Leben in die Brust. Weißer Schaum spritzt in Flocken auf seine Unterlippe. Herr Yang, noch keine 40 Jahre alt, keine 40 Kilo schwer, kämpft mit aller Kraft, nicht in sich zu ertrinken. Im Treppenhaus hallt das dunkle Husten und das helle Gurgeln, das aus seinem Inneren kommt. Die Zähne blecken im aufgerissenen Mund als wollten sie Luft beißen. Die Familie im Haus hält inne. Seine Frau hört auf, in der Küche das Gemüse zu putzen. Der Sohn starrt nur noch teilnahmslos in das Fernsehprogramm. Den Todeskampf des Herrn Yang kennen sie seit Monaten. Mehrfach am Tag und in der Nacht führt er ihn, zunehmend verzweifelt, und alle wissen: Bald verliert er ihn.

Die Fabrik hatte ihm gesagt, das wird wieder. Ein vorübergehendes Unwohlsein. Der erste Arzt, den er konsultierte, erkannte eine leichte Erkältung. Als Herr Yang Grippemittel nahm und es über Monate nicht besser wurde, sagte ein anderer Arzt, die Erkältung sei wohl etwas schwerer. Im Krankenhaus erklärte man ihn unvermittelt: „Wir können nichts mehr für Sie tun. Sie haben eine Staublunge.“ 13 Jahre lang sägte er in der Fabrik Schmucksteine zurecht, atmete Steinsplitter ein, ohne Maske, mit wenigen Zentimetern Abstand, von morgens sieben bis abends zehn. Sieben Tage die Woche, mit einem freien Tag im Monat. Europa und die USA hatte die Fabrik mit seinen Schmuck versorgt, es gibt dort Zehntausende junger Frauen, die Arbeit aus Herrn Yangs Händen am Dekolleté tragen. Liebesgeschenke, die Mütter ihren Töchtern kauften, Freunden den Freundinnen, und immer auch etwas vom Tod in Herrn Yangs Lunge hinterlassen haben.

Unser Reiseführer für diese Reportage in ein Land der Kranken und Krüppel ist Tu Men, einer seiner früheren Kollegen. Mit 60 anderen Steinschneidern der Schmuckfabrik „Lucky Germs“ leidet er unter der Staublunge und wird an ihr sterben. Anderthalb Wochen lang begleitet uns Herr Tu durch entvölkerte Dörfer und eine im Innersten zerstörte Gesellschaft. Als einziges Gepäckstück trägt er dabei eine kleine Umhängetasche.

Die Industrie tötet in China mehr Menschen als jede Seuche, 100 000 Arbeiter rafft sie nach inoffiziellen Schätzungen jedes Jahr dahin. Nirgendwo auf der Welt fordert eine Volkswirtschaft mehr Opfer. Sie ersticken in Kohleminen, werden von veralteten Produktionsmaschinen zerrieben, zerfetzen bei Explosionen in Chemiebetrieben. Die Zahl derer, die verletzt werden oder chronisch erkranken, geht in die Millionen. Es gibt unter unabhängigen Experten niemand, der sich zutraut, ihre Dimension realistisch zu schätzen. Die Globalisierung ist in China eine der größten Katastrophen unserer Zeit, eine Knochenmühle, die unablässig mahlt, gespeist von Millionen Wanderarbeitern. Ihr Blut ist ein Standortvorteil, denn in keinem Industrieland können es Unternehmen günstiger vergießen.

„In der Geschichte eines Landes muss immer eine Generation geopfert werden“, sagt Herr Tu. „Wir sind diese Generation.“

Die Krüppel kehren zum Sterben in ihre Dörfer zurück, die sie für ein besseres Leben verließen. Der lungenkranke Herr Yang ist vor zwei Jahren in seine Heimat in den Bergen der Provinz Sichuan gezogen. Er fand eine verwaiste Landschaft vor. Höfe verfallen, Pflanzen überwuchern sie. Nur Kinder und Alte bewohnen noch die Häuser, zwischen ihnen liegen die Siechen. Die meisten anderen haben sich dem großen Zug in die Fabriken angeschlossen. 200 Millionen Chinesen sind in den letzten Jahren vom Land in die Fabrikstädte gezogen. Die größte Wanderbewegung von Menschen in Friedenszeiten. Wohlstand wartet da auf sie, heißt es, und Freiheit von ländlichen Traditionen. Immer noch sind für viele Bauern die Boomstädte ein Sehnsuchtsziel. Herr Yang hat vor einem halben Jahr zu seiner Staublunge noch eine ansteckende Form der Tuberkulose bekommen. Beim Essen sitzt er getrennt von Frau und Sohn an einem Beistelltisch. „Er verliert jetzt wenigstens nicht mehr so schnell an Gewicht,“ schaut seine Frau zu ihm hinüber und weiß, wie falsch dieser Trost ist. Viel mehr Gewicht kann Yang nicht verlieren.

Nur noch wenige Tage wird die Familie in ihrem neuen Haus verbringen, das sie sich in 13 Jahren Fabrikarbeit ersparte. Herr Yang muss verkaufen. „Ich weiß nicht weiter“, sagt er zu unserem Reiseführer Herrn Tu. Die Abfindung für seine tödliche Krankheit, 12 000 Euro, ist längst aufgebraucht. Das Geld war schwer erkämpft. Bis zuletzt hatte der Direktor von „Lucky Germs“ versucht, Entschädigungszahlungen an ihn zu verhindern. Er verschwieg ihm, dass es gesetzliche Abfindungen gibt. Er leugnete vor Gericht, dass er jemals bei ihm gearbeitet habe. 90 Prozent der chinesischen Fabrikarbeiter in den Boomprovinzen besitzen keine Arbeitsverträge. Er schickte ihm die „schwarze Gesellschaft“ auf den Hals, Mafia-Mitglieder, die ins Dorf kamen, in sein Haus, und die Familie bedrohten. Doch die Steinschneider organisierten sich, 20 mit Staublunge gingen nach Peking, bettelten sich von Behörde zu Behörde, wie es dort jeden Monat Tausende tun. Sie hatten Glück. Als der Fabrikdirektor von oben genötigt wurde, eine Mindestsumme auszuzahlen, sagte er zum Abschied zu Herrn Yang: „Es steht dir nicht zu.“

Er ist nach einer Weile zu erschöpft zum Erzählen, Herr Yang legt sich in sein kleines Schlafzimmer. Seine Atemzüge hören sich an wie Messerklingen, die Fleisch schneiden. Es kehrt Stille ein im Haus, nur der Regen trippelt an die Scheiben. Es regnet seit Wochen. So viel Regen.

Im Dorf der Krüppel ist vor zwei Monaten ein neuer Nachbar eingezogen, drei Straßen von Herrn Yang entfernt, mit gebrochener Wirbelsäule, und ständig läuft ihm der Urin aus der Blase. „Wir bekommen fast nie Besuch“, sagt Hui Wu, 40, eine stämmige Frau mit gesenkten Schultern. Ihr Mann Wang Ke versucht, sich auf einer Holzpritsche aufzusetzen. Im Halbdunkeln des höhlenartigen Raumes mustert er mit großen Augen die Konturen der Besucher. „Die Leute finden uns nutzlos“, sagt seine Frau. Der Regen prasselt von außen auf das Metalltor, das ihnen zugleich Tür und Fernster ist. Die Rolle mit den kleinen Plastikbeuteln legt Hui Wu selten aus der Hand. Immerzu muss sie bereit sein, damit das Urin ihres Mannes aufzufangen.

Er schweigt, während sie erzählt. Sagt er etwas, langsam, nach Worten suchend, unterbricht sie ihn. Noch im vergangenen Jahr arbeitete das Paar in einer Stanzerei in der Großstadt Fuzhou. Immer erfolgreicher wurde das Unternehmen, mehr und mehr Aufträge kamen herein, Export, Amerika, und schließlich entschied der Besitzer, die Fabrik zu erweitern. Um Kosten zu sparen, ließ er seine Arbeiter die neue Halle bauen. Dreimal so groß sollte sie werden. Am 18. April 2006 brach der Rohbau mit Wang Ke auf dem Dachgerüst ein. Der 40-Jährige stürzte zwölf Meter. Seine Frau, die neben dem Rohbau Ziegeln geputzt hatte, zog ihren Mann aus den Trümmern, unverletzt, bis auf eine schwarze Beule auf dem Rücken. An dieser Stelle war sein Rückgrat gebrochen.

In der Nacht können sie nicht schlafen, er legt sich wund, sie muss ihn im Halbstunden-Takt drehen. Hui Wu hilft ihm mit dem Pinkelbeuteln, gibt ihm Einläufe, um seinen Darm zu entleeren. Sie cremt seine trockene Haut ein, wäscht ihn und kocht ihm das Essen. Sie haben niemanden, der sie unterstützt, sagen sie. Hui Wus Schwestern sind entweder weggezogen oder haben keine Zeit. Oder sind mit dem heimgekehrten Fabrikarbeiter-Paar verstritten. Arztkosten können sie sich keine leisten. Das Ehepaar hinter dem Metalltor ist vor der völligen Erschöpfung. Hui Wu haben die vergangenen Monate derb und aggressiv gemacht. In Wang Ke scheint nichts mehr geblieben als Verzweiflung.

„Was soll dieses Leben noch?“, ruft er in Zorn zu unserem Führer Herrn Tu. „Ich bin meiner Frau eine Last. Ich sollte mich umbringen!“ „Du darfst nicht aufgeben!“, spricht Herr Tu auf ihn ein. „Schau mich an. Ich sehe gesund aus, werde aber längst tot sein, während du noch lebst.“ „Der Tod ist doch besser als das hier“, gibt Wang Ke ihm zurück. Zum ersten Mal leuchtet etwas in seinen Augen. Die fensterlose Betonkammer, in der es nur nackte Wände gibt, ein Bett, zwei Pritschen und Neonlicht, hat er bislang nie verlassen. Er sieht nur fern. Sie könnte ihn im Rollstuhl in die Sonne schieben, aber das will er nicht. Er fürchtet die Menschen.

Über der Bettstatt des Gelähmten türmen sich vier Stockwerke neuer Wohnungen, die aus dem Dorf stammende Arbeiter kauften, aber nie bezogen. Die Hälfte steht leer. Hohle Betonwaben. In den kleineren Zentralorten auf dem Land in Sichuan ist in den vergangenen Jahre ein Bauwahn ausgebrochen. Trotz der Landflucht. Einer der vielen Widersprüche des neuen China. Die kleinen geduckten Lehmhäuser im Heimatort von Herrn Yang wurden abgebrochen, mehrstöckige, weiß verkachelte Betonbauten sind an ihrer Stelle in die Höhe gewachsen. Herr Tu, der noch in Shenzhen im Süden wohnt, ist nichts mehr vertraut. Die Wurzeln, die er hier hatte, sind heraus gerissen. Die einfachsten Sachen muss er erfragen. „Ich erinnere mich nicht mehr“, muss er schmerzhaft oft sagen. Er weiß zum Beispiel nicht mehr den Weg zum Bauernhof seiner Familie, auf dem er aufgewachsen ist und wo seine Kinder leben.

„Ich hatte euch früher erwartet“, schimpft der Vater von Herrn Tu. Es regnet immer noch in Strömen, der Pfad zum Haus ist in Schlamm aufgeweicht. Der Alte ruft auf der Terrasse des kleinen Bauernhofes die beiden Töchter und den Sohn zusammen, die Abstand zu ihrem Vater halten. Er und die Kinder stehen nebeneinander, schauen zu Boden, berühren sich nicht. Sie sind ihm erst nur selten begegnet, für den Sechsjährigen ist es heute das dritte Mal. Auch Herr Tu umarmt sie nicht. Seit ihrer Geburt leben die Kleinen beim Großvater, einmal in der Woche ruft Herr Tu bei ihnen an. Manchmal weigern sich die Kinder, am Telefon mit ihm zu sprechen. „Wie geht es in der Schule?“, fragt Tu, um irgendetwas zu fragen. Die Mädchen schauen zum Großvater. Sie sagen: „Gut.“

„Liushou ertang“ heißen die Sprösslinge der Wanderarbeiter in China. Die „zurückgelassenen Kinder“. 23 Millionen sollen Studien zufolge von den Eltern getrennt aufwachsen. Die Fabrikarbeiter an der Küste haben keine Bürgerrechte, die meisten halten sich dort nur mit einer vorläufigen Aufenthaltserlaubnis auf. Werden sie entlassen oder werden sie krank, erlischt sie, und gelten sie plötzlich als illegal, droht ihnen die Deportation aufs Land, in ihre Herkunftsregionen. China entledigt sich auf diese Weise der Arbeitslosigkeit und der Verelendung in seinen Boomtowns. In der Konsequenz haben 90 Prozent der Einwohner der Industriereviere keinen Anspruch auf Sozialversicherungen, medizinische Versorgung und öffentliche Schulen. Die Kinder der Fabrikarbeiter besuchen „illegale Schulen“, deren Niveau erbärmlich ist. Teuer sind sie zudem, deshalb lassen die meisten Eltern die Kinder bei Verwandten oder Nachbarn. „Ich träume nie von meinen Kindern“, sagt Herr Tu. „Es ist furchtbar. Ich habe kein Gefühl für sie.“

Er hat ihnen gesagt, er werde sterben. Seine Krankheit gehe in die letzte Phase. Der Sohn hat herum getollt, die Mädchen haben geschwiegen. Im August letzten Jahres starb die Großmutter, seither kümmert sich der Vater von Herrn Tu alleine. Doch auch der alte Mann ist am Ende seiner Kräfte. Der Junge tanze ihm auf der Nase herum, bei den Schulaufgaben könne er oft nicht helfen. Eine Nachbarin hat sich bereit erklärt, für die Kinder zu sorgen, sollte es der alte Herr Tu einmal nicht mehr können. Sie ist die einzige, die noch in der Nähe wohnt. Alle sind sie in den letzten Jahren weggezogen, die Häuser stehen leer. Die Möbel verrotten in ihnen, die Besitzer hatten kein Geld, sie mitzunehmen. Handtellergroße Spinnen weben die Höfe in graue Netze ein. Von einst 130 Personen, die im Dorf des Herrn Tu lebten, sind nur 30 geblieben.

So sehr verwaist ist das Land, dass in China die Preise für Lebensmittel steigen. Es gibt mittlerweile einfach zu wenig Menschen, die auf Reisfeldern arbeiten wollen. „Es hat in meinem ganzen Leben noch nie so lange geregnet“, wundert sich der alte Herr Tu. Der Mais fault auf den Feldern der Familie, das Gemüse auch. Sobald der Regen aufhört, muss der Alte die Ernte einholen, einen Helfer bräuchte er, sagt er mit Blick auf seinen Sohn. Im Dorf finde er keinen. Nach nur einer Nacht nimmt Herr Tu Abschied. Sein Anwalt erwartet ihn dringend in Shenzhen, Sitz seiner ehemaligen Firma. Nur dort kann er nach chinesischem Recht um Entschädigung kämpfen. Die Kinder werden sich später beklagen, dass ihr Vater ihnen keine Geschenke mitbrachte. Er hat es schlicht vergessen. Wenn er dann noch lebt, wird er in zwei Jahren wieder kommen. Auf dem Pfad hinauf zur Straße schaut er kein einziges Mal zurück.

Die Stufen zum Hohen Gericht kriecht Liu Bang-hua auf zwei Beinstümpfen und einem Rest vom rechten Unterarm empor. Er bleibt immer wieder erschöpft liegen, mit dem Gesicht auf der Treppe, dem Atem auf Granit. Dem ehemaligen Hochspannungselektriker ist nach einem Arbeitsunfall im Dezember 2000 nicht mehr geblieben als Kopf und Rumpf. Die Kriechgänge zum Stadtgericht der Provinzhauptstadt Chengdu in Sichuan nutzt der 29-Jährige als Mittel des Protests. „Ich krieche zu den Behörden“, sagt er, so entsetzlich zerschunden wie das Land, in dem er lebt. Liu will schockieren. Einen Selbsttötungsversuch im Verwaltungstrakt des Gerichts hat er bereits hinter sich. Kurz bevor er die Schachtel Nägel schlucken konnte, zerrten ihn Polizisten weg. Verzweifelte Opfer von Berufsunfällen entdecken in China den öffentlichen Suizid als letztes Mittel des Protests. Häufig berichten Lokalzeitungen von Selbstverbrennungen vor Firmen und Gerichten.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


10 000 Volt brannten eine halbe Stunde durch seinen Körper, als er kaputte Kabel auf einem Überlandmasten reparieren sollte. Durch ein Versehen war der Strom auf der Strecke nicht abgeschaltet worden. Nachdem Liu Bang-hua im Krankenhaus aufwachte, sah er, dass sie ihm seine Beine abgenommen hatten. Dann schlief er abermals ein, und sie hatten ihm den linken Arm abgesägt. Jedes Mal wenn er in den ersten Tagen nach dem Unfall aufwachte, fehlte ein neues Körperteil. 22 Monate verbrachte er in der Klinik. Die staatliche Elektrizitätsgesellschaft, für deren Subunternehmen er gearbeitet hatte, weigerte sich, Entschädigungen zu leisten. Nur ein Teil der Krankenhauskosten habe seine Firma übernommen, den Rest musste er sich von Verwandten erbetteln. Sechs Jahre musste er im Bett verbringen, weil das Unternehmen nicht bereit war, ihm Prothesen zu besorgen.

Mit seinem Armstumpf hakt sich Liu Bang-hua im Halsmuskel der Mutter ein, wenn sie ihn über den Hof zur Toilette trägt. Das Laufen auf Prothesen fällt ihm schwer, die Billigprodukte stechen hart ins Fleisch der Stümpfe. Die Eltern haben ihn aufgenommen, von einem Doppelbett in ihrem Bauernhaus aus führt er seine Prozesse. Einen gewann er, die Anerkennung seiner Verletzungen als Arbeitsunfall, vier verlor er, der sechste ist im Gange. Das Rechtswesen ist den meisten Wanderarbeitern ein Labyrinth, kein Ariadnefaden gibt es darin, sondern viel Korruption und jahreverschlingende Bürokratie. Das Gericht sieht es als nicht erwiesen an, dass Liu Bang-hua Beschäftigter der Firma war. Er hat keinen Arbeitsvertrag, wie die meisten in China, aber Lohnzettel und Ausweise. Doch immer wieder schmettert das Gericht seine Klagen ab und verhindert gleichzeitig, dass er sich an höhere Instanzen wendet. Einmal habe sein ehemaliger Chef ihn im Verhandlungssaal ins Gesicht geschlagen, vor den Augen des Richters, und dieser habe nicht eingegriffen. „Die Richter sind gekauft“, ist sich Liu Bang-hua sicher. Doch er versucht es weiter. Ein junger Jura-Student vertritt ihn als Anwalt. Andere übernehmen solche Fälle nicht, denn an Berufsunfällen ist nicht viel Geld zu verdienen. „Sehr unerfahren der Mann“, klagt er. Ein halbes Jahr nach Beginn des sechsten Prozesses habe der immer noch nicht erfahren, wer der zuständige Richter sei. Erregt zucken die Sehnen im Armstumpf, wenn Liu Bang-hua erzählt. Als wolle er ausbrechen aus der Haut, in die er von den Ärzten genäht wurde.

Es gibt erste Zeichen von Besserung in China. Die Arbeiter beginnen sich zu organisieren. 100 000 Demonstrationen zählten Nichtregierungs-Organisationen im vergangenen Jahr. Trotz des Verbotes von unabhängigen Gewerkschaften bilden sich mehr und mehr Schutzgemeinschaften. Sie beraten sich untereinander. Herr Tu ist Mitglied einer dieser Gruppen. Die Höhe der ausgezahlten Entschädigungen steigt allmählich. Es klagen aber nur wenige Arbeiter, weil sie das Geld für die Prozesskosten nicht haben. Und immer noch sind die Zustände in vielen Fabriken extrem lebensgefährlich. Auch Zertifizierungen internationaler Konzerne haben daran wenig ändern können. Immer noch steigt in China mit jeden neuen Auftrag, mit jedem Kauf im deutschen Schnäppchenmarkt, die Wahrscheinlichkeit von Berufsunfällen und chronischen Krankheiten.

Herr Yang spricht mit seiner Frau über den Tod. „Ich möchte, dass du später wieder heiratest“, sagt er mit dürren übereinander geschlagenen Beinen. „Dein Leben geht weiter.“ Das Paar sitzt im Esszimmer. Es regnet draußen immer noch. „Du warst mir eine wundervolle Frau“, sagt er und schaut dabei die Wand an. „Du kannst neu anfangen, du bist jung.“ Ein langes Schweigen ist dann im Raum. „Was wird nur werden?“, sagt er. „Wer wird die Schulden zahlen? Wer kümmert sich um die Großeltern?“ Gegen den Widerstand ihrer Familien haben sie geheiratet, eine echte Liebe, keine Selbstverständlichkeit in China, er aus armen Verhältnisse, sie aus wohlhabendem Hause. Jahrelang haben sie gegen ihre Väter angekämpft und schließlich gesiegt.

Jetzt sehen beide aus dem Fenster. Nach dem Mais beginnt draußen nun auch noch der Reis zu faulen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 
         
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PHOTOGRAPHIE
Daniel Rosenthal, Berlin
www.danielrosenthal.de