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PHOTOGRAPHIE Heinz Heiss

 

Der direkte Weg zum Glück

Flatrate-Partys, 10-Cent-Drinks: Nie war der Vollrausch billiger. 

 

 

Das Biest wird er heute von der Kette lassen, und wieder weiß Tom Bunsel nicht, ob es ihn zerreißen wird. „Du bist nie sicher, ob du die Kontrolle behältst“, sagt der Kneipenwirt, der morgens mit einem Ziehen in der Bauchgegend aufgewacht ist. Über Magenkrämpfe stöhnt. „Eine Gratwanderung“, klagt der 31-jährige Bunsel über das, was er heute Abend wagen wird. Er wird Kohle machen, aber, sagt er, „die Scheiß Anspannung“. Dieser Tag ist Flatrate-Tag in der Stuttgarter Diskokneipe „Pfirsichbaum“. Für zwölf Euro so viel Alkohol, wie man will. All you can drink. Der Abend der Gier. Bunsel sagt, er sei in Deutschland der Erfinder der Billigparty. Draußen stehen 300 Menschen auf dem Trottoir an, die Hälfte unter 18, in Cliquen streng sortiert: kichernde Mädchen, von unsicherer Hand geschminkt, Buben mit Flaum und krustigem Eiter, Hänflinge, von denen einige im Suff zu Schlägern mutieren können. „Ich hasse Alkohol“, sagt Tom Bunsel über das Biest, das ihm die Kasse füllt. „Ich finde ihn ekelig. Es würgt mir sogar in der Kehle.“

Drei Zapfer erledigen noch eilige Handgriffe an ihren Anlagen, die Kellnerinnen sitzen auf einen Plausch zusammen, der letzte für die nächsten sechs Stunden. Zum letzten Mal ist der gepflasterte Boden zu sehen, am Ende wird hier der Wodka fingertief stehen. Das rote Licht der Diskokugeln wird sich in der Flüssigkeit spiegeln, darüber der Gestank von Kot und Erbrochenem aus den Toiletten ziehen. Chris, der Security-Mann, streift sich seine stichfeste Schutzweste über, so auch Bunsel. „Das gefällt mir überhaupt nicht“, flucht der 31-Jährige beim Abschreiten der Warteschlange. Zwei Blocks muss er laufen, um an das Ende zu kommen. Zu viele unbekannte Gesichter. Wie werden die im Rausch reagieren? Wird jemand wieder das Messer ziehen? Einige lassen schon beim Anstehen die Flaschen kreisen. „Der ganze Tag gefällt mir nicht“, murmelt er. Dann zieht er das Gitter auf, Metall kreischt auf schmierigem Betonboden: Das Biest ist los.

Nie war Deutschlands Nachwuchs nüchterner. In den vergangenen 30 Jahren ist der Anteil saufender Jugendlicher immer kleiner geworden. Die „Generation Suff“ ist eine Erfindung des Boulevard. Der Umsatz von Brauereien und Brennereien sinkt stetig, die Diskotheken kämpfen ums Überleben. Unbändig suchen sie nach Auswegen aus der Misere. Nach dem gescheiterten Versuch, den Alkoholkonsum der Jugend mit „Alkopops“ zu anzuregen, setzen viele Clubs auf Flatrates, 99 Cent-Partys, 49 Cent Partys, damit sich auch noch der schmalste Schülergeldbeutel den Vollrausch leisten kann. Sie sind Trendsetter einer katastrophalen Entwicklung. Zwar trinken immer weniger Jugendliche Alkohol. Aber die es tun, tun es immer früher und immer hochprozentiger. Jener 16-Jähriger in Berlin, der kürzlich beim Flatrate-Saufen an mehr als 4,8 Promille starb, ist da ein besonders tragischer Fall. Das Jugendschutzgesetz, auf das die Politik vertraut, ist nur noch eine Schimäre. Ein Trümmerhaufen aus Paragrafen, für die es keine Kontrolle mehr gibt. „Früher kamen unter 18-Jährige in keine einzige Diskothek“, sagt Peter Seitz, Betreiber des „Village“ in Stuttgart. „Jetzt sind sie überall die Könige. Die meisten von uns können ohne sie gar nicht mehr existieren.“

Die Hand fest am Tresen, versuchen sich die Jungs zu halten, die nachdrängende Masse schiebt sie mit dem Brustkorb über die Barkante. Die Ellbogen sticht sie ihnen in die Rippen, die Knie in die Hüften, die Gläser in die Stirn. Eine Luft zum Beißen, und von oben regnet es Spirituosen. Hier ein Schwall Wodka, da eine Welle Malibu-Kirsch. In der Brandungszone einer Flatrate-Party halten sich auf Dauer nur Enthusiasten. Methode Schraubstock. Früh kommen und für immer bleiben, heißt das Rezept, das einem Alkohol in schlaraffischer Fülle verschafft. Wer hinten steht, bleibt trocken. „15 Jacky-Cola in 40 Minuten“, protzt einer in der zweiten Reihe, „und ich fühle noch nix.“ Die Extremsportler vorn reichen Getränke nach hinten, wo Hunderte pressen. Die Barkeeper haben keine Ahnung, wem sie was ausschenken. Sie füllen zehn Becher in Doppelreihen, ununterbrochen für Stunden; zum Aufschauen, um ihre Gäste zu sehen, bleibt keine Zeit.

Noch nicht tot!“, brüllt der 17-jährige Markus um 21 Uhr im „Pfirsichbaum“ und stützt sich trotzig mit den Ellbogen auf die Tischplatte. „Ich bin noch nicht tot!“ Weiß wie Papier ist die Haut seiner Wangen, die Augen sind ausdruckslos, schwach pulsieren sie in einem Gesicht, aus dem hektisch der Schweiß drückt, als würde der Schädel von innen gebraten. „Mensch, Markus“, sagt ein Kumpel, der ihn an einem Tisch entdeckt, ganz alleine, bis auf einen Zehn-Liter-Eimer Sangria. „Tu mal langsam.“ Väterlich nimmt der um ein Jahr Ältere ihn in den Arm. Markus ist Kaufmannsazubi bei VW, Stefan, sein Freund, dasselbe bei Porsche. Es gibt 1000 Gründe für Jugendliche zu saufen. Einer mit Borstenschnitt, der zu Markus und Stefan stößt, hat Stress mit der Freundin. Ein anderer kommt mit dem Chef nicht klar. Bei Markus und Stefan stehen Prüfungen an, da wollten sie noch einmal feiern. Und das können sich die Azubis am Flatrate-Abend auch leisten. „Total fett“, sagt Stefan aus glasigen Augen, als Markus das erste Mal zum Kotzen geht. „Für 12 Euro Eintritt habe ich heute für 65 Euro gesoffen.“

Zu fünft sind sie in den „Pfirsichbaum“ gekommen, nach einer Stunde verabschiedet sich der Erste wegen Volltrunkenheit. Grußlos. Die Freunde rätseln und kübeln einen weiteren Wodka-Bull. „Ich hab schon mehr als der Typ, der in Berlin verreckt ist“, lallt Markus, als er zitternd vom Klo kommt. Braune Batzen von Erbrochenen blieben ihm als Souvenir am T-Shirt-Kragen. Ein nicht untypischer Halsschmuck im „Pfirsichbaum“ nach 22 Uhr. Zu Hause hat Markus bereits eine 0,75 Liter Wodka-Flasche geleert. „Ich vertrage den Zigarettenrauch nicht“, stammelt er und torkelt ein zweites Mal zum Reihern. Die Freunde schauen interessiert, ob er es bis zur Toilette schafft. Ein dritter Azubi der Tischrunde würde Markus nur zu gerne folgen, doch er traut sich nicht. Er ist sich nicht sicher, ob die Beine noch funktionieren.

1000 Liter Alkoholika wird Tom Bunsel bis zum Schließen des Lokals ausgeschenkt haben und ganze zwölf Liter Wasser. Dazu fünf Tassen Kaffee. Der vormals tote Donnerstag, an dem sich nur ein Dutzend Leute zu ihm verloren, sei mit der Flatrate nun Hauptumsatzträger. Die Menge macht`s. Bunsel, der im Profil einem Sektkorken ähnelt, hat privat wenig übrig für die Kundschaft. Wie jeder gute Dealer. Er verachtet seine Junkies. Alles Loser, im besten Fall Sonderlinge. Zum Beispiel der Typ, der immer nur zweimal am Schaum nippt und dann das Bier auf den Boden gießt, um sogleich ein neues zu bestellen, um wieder nur zweimal zu nippen. Oder die Rasenden, die alle halbleer herum stehenden Getränke wegtrinken. Oder Jürgen. „Der kommt immer mit seinen Schülern“, lacht Bunsel fröhlich einem rundlichen Berufsschullehrer hinterher. Betrunken tanzen Schüler und Lehrer zu sechst am Tresen, Jürgen schwört auf Wodka-Lemon, seine Schüler auf Wodka-Bull. Als „Sozialarbeit“ bezeichnet der Pädagoge das Saufen mit seiner Klasse. Er doziert mit schwerer Zunge, während allgemein der Wodka-Pegel steigt – in den Köpfen und auf dem Boden.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


Die Bar tropft, die Tische fließen über, die Pfützen auf dem Steinboden wachsen, kleinere vereinigen sich zu größeren, bis sie einen großen hochprozentigen See ergeben. Wie aufgequollene Wasserleichen schwimmen darin die Knabberbrezeln. Da alles umsonst ist, gibt niemand Acht, nichts zu verschütten. Gegen 22.30 Uhr ist auch der Markus weg. Genauso grußlos. Stefan und der Kumpel, der sich nicht traut, seinen Hocker zu verlassen, sind die letzten Aufrechten der fünf Freunde. „Das ist Scheiße mein Zustand“, hadert der auf den Barhocker Genagelte. „Beim nächsten Mal muss ich mehr vertragen können.“ Viele Jungs spricht man in dieser Phase des Abends besser nicht mehr an. Immer wieder brechen in den Winkeln der Partykneipe Rangeleien aus. Kurz nach eins feuert vor dem Eingang ein Jugendlicher aus Wut auf Bunsel eine Gaspistole ab. „Willst du mich rauswerfen wie einen Hund?“, geifert ihm ein anderer junger Besoffener ins Gesicht. „Du hast zu viel getrunken. Du musst gehen“, sagt Bunsel. Showdown. Die Bestie droht sich gegen ihn zu wenden.

Alkohol ist der direkte Weg zum Glück. Er legt eine Schnellstraße zu den Lustarealen des Gehirns und dockt an den Belohnungszentren im Kopf an, ohne dass der Mensch zuvor etwas Lohnendes getan haben muss. Ihn probieren jedes Jahr 750 000 junge Deutsche das erste Mal. Für zehn Prozent davon wird diese Begegnung verhängnisvoll. Es gibt in Deutschland 2,4 Millionen Alkoholiker und zehn Millionen Gefährdete. 42 000 Menschen sterben jährlich an den direkten Folgen, Hunderttausende an den indirekten. In der Altersgruppe der 15- bis 24-Jährigen spielt Alkohol sogar bei der Hälfte aller Todesfälle eine Rolle. Ihr Gehirn ist dem Nervengift noch schutzlos ausgeliefert. Das limbische System, Zentrum von Lust und Emotion, das impulsiv macht, dominiert bis ins 20. Lebensjahr das noch nicht ausgereifte Stirnhirn. Das ist zuständig fürs reflektierte Planen. Porschemotoren ohne Bremse, sagen die Neurologen über Pubertierende. Deshalb versucht in einer Partynacht der Staat, die Funktion der Bremse zu übernehmen. Die Polizei als ausgelagertes Stirnhirn. Ein zunehmend aussichtsloses Unterfangen.

Das Augenpaar, das sie nackt sieht, hilflos wie Embryonen, zusammengerollt, heulend, in ihre Kleidung urinierend und kotend, gehört der 24-jährigen Karolina Demke. Elf Monitore bauen sich vor der Krankenschwester auf, mit einem langen Holzstock schaltet sie sie ein und aus. Aus Mikrofonen sprechen Dutzende Stimmen zu ihr, die rausgelassen werden wollen, fragen wo sie sind, ihr Leben am Ende sehen oder um warme Decken bitten. Die Gestalten auf den Bildschirmen robben auf dem Bauch zum Klo. Mitleidslos sind die Zellen der „Zentralen Ausnüchterungseinheit“ des Stuttgarter Polizeipräsidiums ausgeleuchtet, niemand soll an seinem Erbrochenen ersticken, in der Umnachtung Suizid begehen. Wenn die Ausgenüchterten morgens entlassen werden, ist der Gestank von alter Pisse so unerträglich, dass ihnen im Zellengang Polizisten mit Desinfektionsmittel hinterhersprühen. An diesen Ort wird ein pummeliger Junge von Streifenpolizisten gebracht, 16 Jahre, Maurerlehrling, 1,6 Promille.

Der schnapsgerötete Sascha (Name geändert) wartet mit aufgerissenen Augen vor dem vergitterten Trakt. Die Schläge eines Arrestierten, der gegen die Tür tritt, dröhnen dumpf durch den Flur. „Gott weiß, was für Leute in der Zelle sind, in die ich komme“, steigt Angst im 16-Jährigen hoch. „Vielleicht schlagen die mich.“ Seine Freunde, beide 17, die auch von der Polizei mitgenommen wurden, werden zu ihren Familien gefahren. Nicht Sascha. Die Polizisten diskutieren eifrig. Zu Hause niemand erreichbar und in der Ausnüchterung keine Einzelzelle frei, wie für Jugendliche vorgeschrieben. Eine Hundertschaft Bereitschaftspolizei ist für die heutige Partynacht in die Stuttgarter Innenstadt verlegt worden, um das Jugendschutzgesetz durchzusetzen; jetzt kommt es bei den Zellen zu Engpässen. „Wir haben Probleme, die Eltern zu überreden, ihre Kinder abzuholen“, sagt ein Polizist. „Oft sind sie auch nicht in der Lage dazu, weil selber betrunken.“

Der erste Blick Saschas ist der aus dem kleinen Fenster, das von außen schwarz verklebt ist. Im noch weniger komfortablen Zellentrakt des Reviers Stadtmitte muss er schließlich die Nacht verbringen, mit einem Holzbrett als Schlafunterlage. Die Schnürsenkel der goldenen Sneakers muss er rausziehen, damit er sich nicht mit ihnen erhängt. In der Nachbarzelle ist das Notarztteam bei einem 23-Jährigen mit Schädelfraktur. Im Warteraum des Reviers laufen immer mehr blutüberströmte junge Partygänger ein, bald herrscht Gedränge. Liebespaare berühren sich zärtlich die Schürfwunden an Fingerknöcheln und Schläfen. Ein junger Kerl boxt im Spiegel die letzte Keilerei nach. Kinnhaken mit der Rechten, dann die Linke von tief unten. Nüchtern ist hier niemand. Überhaupt ist in der Stuttgarter Innenstadt an Partytagen nach ein Uhr nachts niemand mehr nüchtern – außer der Polizei. Die rast von einer Diskothekenschlägerei zur nächsten.

Das Gesetz ist um diese Uhrzeit endgültig Makulatur. Die Jugendlichen, die betrunken aus den Discos geworfen werden, besorgen sich Nachschub an den Tanken. Dort wird mit dem Verkauf von Alkohol wochenends mehr Umsatz gemacht als mit Benzin. Es wird nichts nützen, die Flatrate zu verbieten. Auch nicht die 10-Cent-Partys für jedes Getränk, auf die die Diskotheken dann ausweichen werden. Zu viele Quellen sprudeln. Nur eines würde wohl helfen: Alkohol über die Steuer extrem zu verteuern. Das täte allen weh. Das täte allen gut. Doch das wagt die Politik nicht. Dafür zechen auch die Erwachsenen zu gerne.

Der Rest von Saschas Clique ist im Streifenwagen auf den Weg nach Hause. Abholen wollte die beiden 17-Jährigen niemand. „Mein Leben ist gefickt, Alter“, sagt der eine. „Ich bin jetzt dran. Ihr kennt meinen Bruder nicht.“ Auch die zwei jungen Polizisten wirken niedergeschlagen. Sie wissen: Sie bringen die Jungs zu schwerer Prügel. Eine Beamtin begleitet den ersten im Wohnblock bis zum ersten Stock. „Bitte nicht bis vor die Haustür“, fleht der Junge eindringlich. Die Polizistin wartet auf dem Treppenabsatz und lauscht. Er verschwindet hinter der Wohnungstür, von wo sofort wütendes Gebrüll anhebt. Die Beamtin eilt hinterher, klopft, erklärt, es sei ja nix Schlimmes passiert, man solle den Jungen nicht schlagen. Der Bruder verspricht es höflich. Der nächste Delinquent ist derweil noch tiefer in die Rückbank des Streifenwagens gesunken. Dann muss auch er hinter seine Wohnungstür.

Um 8 Uhr morgens öffnet sich das Gitter für Sascha. Er schnürt seine goldenen Turnschuhe, lidverquollen, dünnlippig. „Ich habs durchstanden“, sagt er. „Der David nicht.“ Der ist vor zwei Wochen bei einer Rangelei betrunken auf die S-Bahngleise geworfen worden. 18 Jahre alt. „Der David“, erinnert sich auch der Schichtleiter, als Sascha die Wache verlassen hat. „Ich hab mit dem noch gesprochen.“ Die ganze Müdigkeit der Nacht ist ihm jetzt anzusehen. „Oft weiß man es. Aber bei dem hatte ich wirklich nicht geglaubt, dass er stirbt.“

Um 9 Uhr rücken im „Pfirsichbaum“ die drei griechischen Putzfrauen mit dem Dampfstrahler an. Tom Bunsel wird heute Abend wieder eine Party feiern.

Die Namen des Wirts und seiner Trinkstätte sind aus rechtlichen Gründen geändert. Die Polizei führt mittlerweile häufiger Kontrollen bei ihm durch, nachdem er zum wiederholten Mal dem Flatrate-Verbot der Stadt Stuttgart nicht nachkam.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 
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Heinz Heiss, Stuttgart
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