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PHOTOGRAPHIE Daniel Rosenthal

 

Chongqing

 

Neues China: Die größte Stadt der Welt, die im Westen niemand kennt.
 


Zum Himmel steigt er aus der Hölle. Sie ist stauberfüllt und lichtlos, heiß im Sommer, kalt im Winter. Säuglinge schreien in ihr. Der 23-jährige Chen Da Qiang streicht zum Abschied seiner Frau über die Schulter, sie wendet den Blick nicht vom Fernseher. „Ich muss los“, sagt er. Sie bleibt stumm. Er zieht die Sperrholzplatte der Tür hinter sich zu, tritt aus dem Lichtkreis der Glühbirne und wird sofort von Dunkelheit verschluckt. Es ist 12.30 Uhr, draußen helllichter Tag, Ende der Mittagspause. Chen findet seinen Weg durch ein Gewirr an Gängen, stolpert über leere Schnapsflaschen, springt über aufgerissene Leitungsgräben. „Wir streiten uns oft in letzter Zeit“, grübelt er. „Wir könnten es so gut haben.“ Er fingert am MP3- Player in der Jackentasche und weicht den Stellen aus, von denen er weiß, dass plötzlich Wasserfälle auf ihn herunter prasseln können. In der Dunkelheit stößt er überall auf Kochstellen. Hunderte Familien hausen hinter Plastikplanen, sie schlafen auf Baustellen-Styropor im Tiefgeschoss eines 32-stöckigen Wolkenkratzers, auf einer Ebene mit der Kanalisation, wo Ratten leben und Kinder. Dort steht die Wiege des neuen China.

Der Tag umfängt ihn mit ölig schlierigem Nebel, darin dreht er sich mit seinem Kran. 120 Meter hoch, rechtsrum, linksrum bis zur Dämmerung. Chens Turm ist umgeben von 24 weiteren Kränen. Deren Ausläufer unterqueren, überqueren sich, warten aufeinander, und manchmal kollidieren sie auch. Sie gießen den Himmel in Beton. Schichten Stockwerk für Stockwerk auf, Haus für Haus. Aufgereiht wie Basaltsäulen stehen die neuen Bauten, rauben sich die Sicht, selten schafft es ein Stück Horizont zwischen sie. Chen schaltet den MP3- Player ein und sieht auf eine Metropole, die so schnell wächst wie keine andere auf der Welt. Die 2010 Shanghai eingeholt haben will und 2017 Hong Kong. Der Ehrgeiz hat hier seine Hauptstadt und auch die Gier. Chongqing.

Das neue China trägt einen Namen, den in Übersee niemand kennt. Das Wirtschaftswachstum wirkt nirgendwo machtvoller als am Zusammenfluss von Jangtse und Jialing. Fast unbemerkt von der Welt hat sich in den vergangenen zehn Jahren weit im Landesinnern eine Stadt der Superlative entwickelt. Das Bruttoinlandsprodukt von Chongqing stieg im vergangenen Jahr um 15,3 Prozent, fünf Prozent mehr als in Restchina. Jeden Tag werden hier 137 000 Quadratmeter Gebäudefläche gebaut und wächst die lokale Wirtschaft um 12 Millionen US-Dollar. Jeden Monat verfügt der Bürgermeister für öffentliche Infrastruktur ein Budget von einer Milliarde Dollar. Jedes Jahr wandern eine halbe Million Menschen zu, wächst Chongqing um die Größe Dresdens. Die Stadt von der Fläche Österreichs, mit 32 Millionen Einwohnern nominell die größte der Welt, wird seit 1997 direkt von Peking verwaltet. Mit aller Kraft will die kommunistische Führung den Aufschwung in die Westprovinzen zwingen. Sie weiß, dass ihr Überleben langfristig davon abhängt, ob sie eine Spaltung zwischen reicher Küste und armem Binnenland verhindern kann. Bauen gegen den Untergang. „Wenn Chongqing gelingt“, sagt ein deutscher Diplomat, „dann gelingt ganz China.“

Der Kran von Chen wiegt sich im Wind, eine Nussschale auf Luftwellen, das war dem Bauernsohn anfangs unangenehm. Einen Meter schwankt er gen Süden, einen Meter gen Norden. „Mir haben beim ersten Mal hier oben die Knie gezittert“, gesteht er. Unter ihm liegen die grauen Schluchten von „Celebrity City“, das derzeit größte Bauprojekt Chongqings, 25 000 Appartements für 70 000 Menschen. 21 Buslinien erschließen das Areal, drei Hochbahnen und drei Schulen. „Der Kran ist mir ein guter Freund“, sagt Chen. „Modell Er`an-50. Fällt fast nie aus.“ Das tun mitunter die Menschen. Der Bauboom fordert seine Opfer, täglich fast und ohne Aufsehen. Sechs starben kürzlich in „Celebrity City“, als einem Kran das Lastenkabel riss und die Fracht eine Gruppe Arbeiter unter sich begrub. Bei einem anderen Unfall stürzte vor wenigen Wochen einer seiner besten Kollegen zu Tode. Beim Aufstieg ist ihm eine ölige Leitersprosse aus der Hand geglitten. In drei Stücke hackten ihn die Stahlstreben des Turmes beim Hinunterfallen.

Er liebt und hasst, was er tut. „Ein Scheusal“, sagt er über das Wohngetürm, dessen Rachen er mit Zement und Styropor stopft. Seit drei Jahren arbeitet Chen auf Höhenmeter 120; mit dem Geld, das er seinen Eltern schickt, haben sie im Vorort ein Haus gebaut. „Er`an-50“ gab seiner Familie bescheidenen Wohlstand. Er selbst kaufte sich vom Ersparten ein Motorrad mit Tiger auf dem Tank. Das einzige Motorrad im Untergrund-Slum der Bauarbeiter. „Dieses Motorrad!“, seufzt er. „Ich habe darüber viel mit meiner Frau gestritten. Vielleicht sollte ich es wieder verkaufen.“ Ihren zweijährigen Sohn, der bei den Großeltern aufwächst, besuchen sie alle paar Wochen. Mehr Zeit lässt ihnen die Arbeit nicht – lassen sie sich nicht. Denn in ein paar Jahren sei der Boom vorüber, glaubt Chen, dessen Frau ebenfalls auf dem Bau arbeitet. „Wir wollen jetzt so viel Geld wie möglich verdienen.“ Isolationsarbeiten sind heute dran, doch kommt über Walkie-Talkie die Nachricht „kein Nachschub mehr“. Chens Haken bleibt leer. Häufig geht ihnen nun Baumaterial aus. Die Konjunktur Chongqings läuft zuweilen so heiß, dass sie sich selbst erstickt.

Diese Stadt buchstabiert das Staunen neu. Das Zentrum erhebt sich leuchtend zu einem zweiten Manhattan, wie Mikado-Stäbe fallen auf der Halbinsel die Wolkenkratzer den Ufern zu. Das World Trade Center steht hier in Glas, das Chrysler-Building in Kopie. Hilton, Marriott, das Intercontinental wetteifern um Glanz. Wofür andere Jahrhunderte brauchten, schafft Chongqing in Jahren. Riesige Baugruben klaffen für neue Hochbahnlinien. Ein Theater des Hamburgers Architekten Meinhard von Gerkan ist in Bau, Bibliotheken, Museen, Parteigebäude der Kommunisten mit pharaonenhaftem Pomp. Die Luftverschmutzung ist doppelt so hoch wie in Shanghai, alle Pestilenzen Chinas sondern ihre Gifte ab. Chemie- und Schwerindustrie. Die Stadtverwaltung versucht sie loszuwerden, in die Vororte abzudrängen, tausende Unternehmen ziehen um, machen Wohnquartieren Platz. Nachts fahren Lastwagenkolonnen und verfrachten Konzerne. Der offizielle Stadtplan wird alle drei Monate neu aufgelegt, dann ist er veraltet. Einen immer größeren Kartenausschnitt wählen sie dabei, in die alten passt Chongqing nicht mehr hinein. Es sind 16 Brücken gebaut, für Autos und Eisenbahnen, und zehn weitere in Planung. Wie Wundklammern wirken sie, die ein auseinanderreißendes Land zusammenhalten sollen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


Die Wohnungen, die Kranfahrer Chen baut, verkauft Makler Yu Yichi* im Tagestakt. Man trifft den Mittvierziger abends im beliebtesten Gay-Club der Stadt. „Ich muss drei Wohnungen in der Woche losschlagen, ein großer Druck“, sagt er, Oberlippenbärtchen, Glatze, der seine Hand gerne auf die Knie junger Männer legt. Zusammen mit einem Kollegen trinkt er am Stehtisch sein Bierchen, schaut mäßig interessiert zum Transvestiten-Ballett auf der Bühne. In weiten roten Kleidern werfen die ihre Beine. Die Preise für den Quadratmeter sind im vergangenen Jahr um 100 Prozent gestiegen, sagt Yu. Viel Spekulation natürlich sei dabei, zwei Drittel stünden leer, fügt er an und dass er froh sei, dass die Polizei Schwule nicht mehr verfolge. In einer Stadt, in der vor 15 Jahren noch die meisten Menschen die Einheitskluft trugen, sind Gay-Bars im Straßenbild eine halbe Revolution. In einer Plüschecke nebenan feiert eine Gruppe Frauen in den 21. Geburtstag einer Lesbe. Sie knutschen mit Hingabe, Töchter und Söhne vermögender Eltern, die auch die anderen Party-Clubs von Chongqing bevölkern. Die Nächte am Jangtse sind schrill, hohe Flammen umzüngeln die Barkeeper, wenn sie die Feuerrinne ihrer Theke anzünden. Die Bedienung trägt Plüsch-BHs, auf den Tischen tanzen Pärchen den Geschlechtsakt. Ein Scotch in den neuen Clubs der Reichen kostet soviel wie der Monatsverdienst eines Arbeiters, Security-Männer mit Schusswesten schleifen Betrunkene heraus. Es kursiert die Partydroge Ketamin, das „Vitamin K“, das Berauschten Nahtod-Erlebnisse und das Gefühl vermittelt, sich aufzulösen. Das passt für Chongqing.

Die Welt beginnt diesen Ort zu entdecken. Wiederzuentdecken. Erstmals seit den vierziger Jahren, als sie die Kriegshauptstadt Chinas war und sich Chiang Kai-Shek vor den Japanern hierher zurück gezogen hatte, öffnen diplomatische Vertretungen. Kanada ist am Jangtse, Dänemark, auch Großbritannien. Internationale Konzerne tasten sich vor. Peking lockt mit Steuervergünstigungen, die Löhne sind zudem um ein Drittel niedriger als an der Küste. Ford lässt die Modelle Fiesta und Mondeo produzieren, ABB fertigt Generatoren, es gibt die Messegesellschaft aus Düsseldorf, das mit Chongqing eine Städtepartnerschaft unterhält, und Martin Roemheld - Ingenieur, PS begeistert, BMW. Er und der Projektleiter des Motorradherstellers Loncin starren sich ungläubig an. „Ich begreife es nicht“, sagt Roemheld verzweifelt. Er schaut auf die PowerPoint-Tabelle mit der chinesischen Kalkulation. „Wieso nicht?“, fragt sein Gegenüber gleich verzweifelt. Im Auftrag von BMW soll Roemheld ein Aluminiumgussteil in China herstellen lassen, erste Sitzung der 15-köpfigen Projektgruppe heute Morgen, Preisverhandlungen, aber noch versteht man sich nicht.

Wie eine Pokerhand fächern sich die chinesischen Ingenieure an ihrem Ende des Konferenztischs auf, Schultern übereinander geschoben, Köpfe zusammengesteckt, während es um Roemheld einsam ist. Zu Beginn hat er den Gussblock als Anschauung auf die Tischplatte gestellt, noch wird er in Osteuropa produziert. Kosten um 25 Prozent runter, jährlich, fordert Roemheld ein. „Dann brauchen wir eine langfristige Abnahmegarantie“, verlangt der chinesische Projektleiter. „Das geht nicht“, überkreuzt der Deutsche die Arme. „Wer weiß, wie sich die Weltwirtschaft entwickeln wird.“ Das deutsche Managerteam baut beim Loncin-Konzern die Fertigung des 650er-Motors von BMW auf. Bevor Roemheld hierher kam, gab es in China keine Fertigung von PS-starken Zweirad-Motoren. Diesen Wissenstransfer leistet BMW nicht ganz freiwillig. Der Hersteller ist unter Druck, weil der Absatz von Motorrädern stagniert. China soll jetzt den Preis richten. „Wir mussten denen etwas bieten, weil wir hier vor allem günstige Bauteile einkaufen wollen.“ Doch die Stückzahlen der Nobelschmiede sind Loncin zu gering, also gab BMW ihnen seinen Motor. Bezahlung in Naturalien.

Diese Hektik, stöhnt Roemheld manchmal. Dieses Tempo. Chongqing lebt in Atemlosigkeit. Es gibt keine Chongqing-Kenner, denn Chongqing erkundet jeder ständig neu. An der Spitze des Jangtse-Manhattans hat sich der Deutsche mit seiner Frau Annegret ein Appartement gekauft, 42. Etage, Flusslage, das Schlafzimmer ein gläsernes Halbrund, davor Hunderte neuer Hochhäuser. Flammenmeer aus Neon. Zugig ist es jedoch im Wolkenkuckucksheim. Die Stadt, die so schnell wächst wie keine andere, wächst ungedämmt. Wohnungen, kalt wie Kühlschränke, die Klimaanlagen heizen nur notdürftig. Roemhelds sitzen mit Skiunterwäsche auf ihrem Sofa. „Wir haben alles versucht. Wir kriegen die Räume nicht gemütlich.“ Die Stadt macht einen staunen, aber man schlottert dabei.

Unverdrossen spielt das Befreiungsdenkmal in der Fußgängerzone: „Der Osten ist rot, China hat einen Mao-Tse-tung hervorgebracht.“ Längst ist es von Luxusläden umgeben. Der Bürgermeister des Innenstadtbezirks geht für Jahre in Haft, weil er den Staat um einen dreistelligen Millionenbetrag betrog. Korruption frisst sich durch die Kommunistische Partei. Die Autowerke Jinguan bieten seit kurzem einen zum Hinrichtungsmobil umgebauten Reisebus an. Auf dem Jangtse hat ein Bordellschiff festgemacht, mit Whirlpool und besten Blick auf die Skyline. Die Lokalzeitung berichtet über eine Frau, die beim Benutzen eines öffentlichen Klos von einer Ratte in den Hintern gebissen wurde. Der Biss habe sich entzündet, sie verklage den Betreiber. Es sind extreme Jahre, Dürrekatastrophe 2006, Überflutungskatastrophe 2007. „Ich möchte nicht wissen, was jetzt kommt“, sagt Li Liang, 31, Manager, ehrgeizig, depressiv.

In einem kleinen Wasserbecken vor ihm zappeln große Fische, ringsherum stehen andere Manager, in Anzug und Krawatte, und halten ihre Angeln hinein. Fischen ist Trend unter den Reichen in Chongqing. Oft verhaken sich die Leinen, dann gibt es Geschrei.

Das Angeln macht dir den Kopf frei, sagt Li. Du vergisst den Stress schon beim ersten Karpfen. Er ist Betriebswirtschaftler, studierte in Oxford, ein trauriger Mann, der nur beim Fischen etwas lächeln kann. Die große Shopping-Mall, die er für seinen Boss betreibt, ist leer. Die Ladenmieten haben sie herunter gesetzt, das brachte keine Besserung. Jetzt reißen sie die Nachbargebäude ab, ein halbes Viertel, um mit mehr Fläche mehr Leute anzulocken. Die Bagger arbeiten schon, Staubwolken legen sich über die Stadt. Und Lis Boss verhandelt mit der Regierung bereits über den Bau des größten Wolkenkratzers von Chongqing, neben der Mall, über 400 Meter hoch, höher als das neue Marriot soll er sein und das Gelände arrondieren. „Ich habe Chancen, Manager des Hochhauses zu werden. Es könnte sein“, sagt Li, und er wirkt nicht fröhlicher.

Es gibt keine schmerzlose Metamorphose. Viele Menschen finden sich nicht mehr zurecht. Alte trauen sich nicht aus dem Haus, sie kennen ihre Umgebung nicht mehr. Die Selbsttötungsrate soll enorm steigen, doch darüber schweigen die Offiziellen. Im Schatten der Glasgiganten führt Li Liang Besucher in ein Viertel, das „Shibati“ heißt, die „18 Treppen,“ der letzte Stück Altstadt. Verschimmelt, verwanzt, ein Elendsquartier, das Krankheiten streut. „Eine Schande!“, klagt er, der woanders selber alte Straßenzüge abreißen lässt. Seine Mutter hat hier gewohnt und die Schwester ist hier geboren. „Wir müssen Shibati retten“, sagt er. „Wir müssen unsere Seele retten.“ Doch die Seele gibt bald eine gute Baugrube für den Ausleger des Kranes von Chen Da Qiang. Das neue Chongqing hat noch nicht entdeckt, dass es eine hat.

* Name geändert

 

   
 
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PHOTOGRAPHIE
Daniel Rosenthal, Berlin
www.danielrosenthal.de