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PHOTOGRAPHIE Martin Sasse

Verbotene Hilfe

Ein Online-Tagebuch aus dem Katastrophengebiet von Burma  


17.5.2008
Ich gehe vor dem Soldaten auf die Knie, sinke nieder auf den Asphalt der Straße, die Birmas frühere Hauptstadt Rangun mit dem Irawadi-Delta verbindet. Mein Fahrer erschrickt, der Soldat lächelt peinlich berührt, bittet mich aufzustehen, doch ich verharre. „No permission“, hat er uns gesagt. „No foreigners.“ Er hat uns an seinem Checkpoint gestoppt, ist aus dem Unterstand aus Palmblättern herausgetreten und hat uns an den Straßenrand gewunken.

Hinter dem Kontrollpunkt, einige Kilometer weiter im Westen, beginnt die „Todeszone“, wie sie ausländische Katastrophenhelfer bündig nennen. Ein halbes Dutzend Städte und knapp 1000 Dörfer sind untergegangen, vom Wind weggerissen, überflutet. Sie sind aus den Satellitenbildern so gut wie getilgt. Während der acht Stunden, in denen der Zyklon „Nargis“ über Burma tobte, starben nach Schätzungen 100 000 Menschen, darunter vor allem Kinder und Frauen. Die Junta, die Birma regiert, entschließt sich daraufhin zu einem für Hunderttausende furchtbaren Schritt: Sie erklärt das Delta zum Sperrgebiet. Unterbindet ausländische Hilfe. Schneidet die Bewohner der Region ab von zig Millionen Euro internationaler Unterstützung.

Nur die eigene Regierung kann helfen, wollen die Generäle ihrem aufbegehrenden Volk demonstrieren. Die Mönchs-Märsche vergangenen September sind ihnen noch in beunruhigendster Erinnerung.

Hinter dem Checkpoint, der uns stoppt, verrecken die Menschen elendig, an Lungenentzündungen, Fieber und Durchfall. Es wird ein Ausbruch der Cholera befürchtet, einzelne Fälle davon gibt es schon, sogar in der Metropole Rangun. „No permission“, wiederholt der Soldat, und ich stehe wieder auf. Wir alle schweigen auf der Rückfahrt in die Stadt, auch Fahrer und Übersetzer. In Katastrophengebieten sind Medien manchmal eine Pest. Sie fallen ein in Scharen, werfen ihr grelles Scheinwerferlicht auf das Leiden. Sie rauben den Menschen oft die letzte Würde, die ihnen das Desaster noch ließ. Hier, im Delta des Irawadi, verhält es sich anders. Dringend braucht die Welt Bilder und Eindrücke aus der abgeriegelten Region. Damit das Drama, das sich in diesen Tagen dort abspielt, nicht vergessen wird.

Nur ein Viertel der Dörfer hat 14 Tage nach „Nargis“ eine notdürftige Versorgung bekommen. Der große Rest bleibt bislang sich selbst überlassen, häufig – heißt es – ist noch niemand zu ihnen vorgedrungen. Immer noch steht das Wasser bis zu vier Meter hoch und sitzen die Dorfbewohner auf Klosterhügeln, wohin sie nach der Flut flohen. Eine Versorgung aus der Luft ist unmöglich, die Regierung besitzt angeblich nur sechs funktionierende Helikopter.

Derweil belegen in Rangun die Mitarbeiter von Hilfsorganisationen aus aller Welt immer mehr Hotelbetten. Sie alle müssen als Touristen einreisen, einen offizielleren Status gewährt die Junta nicht. Auch das Technische Hilfswerk (THW) ist dieser Tage gekommen, mit eigenem Flug, 16 Mann und Wasseraufbereitungsanlagen. Ich treffe die hilflosen Helfer in den besten Hotels der Stadt, Luxus, der das Auge blendet. Fünf Sterne und noch ein Plus daran. Alleine der Flug von Frankfurt nach Rangun muss eine sechsstellige Summe gekostet haben. Auch sie haben nur ein Urlaubervisum bekommen. Und niemand glaubt, dass der teure Trupp jemals zum Einsatz kommt. Seit zwei Wochen sitzen die Vorauskommandos der internationalen Krisenmanager fest, allerdings nur die wenigsten in solch obszöner Pracht.

Die stämmigen THW-Männer, allesamt Ehrenamtler, brauchen den Luxus nicht, sagen sie mir. Ich glaube es ihnen. Respekt vor ihrem Engagement. Der Auswärtige Dienst allerdings hat bei der Ausarbeitung der Reise seinen Sinn für Geschmacklosigkeit bewiesen.

Es gab in Rangun heute nicht viele gute Nachrichten. Zu allem Übel sitzt der kleine Hilfskonvoi, den die deutsche Welthungerhilfe nach vielen Tagen Anlauf endlich ins Delta losschicken konnte, blockiert im Stau. „Auch das noch“, stöhnt Ralph Dickerhof im Hauptquartier der Organisation. Die Holzbrücke vor Bogale, eine Kleinstadt im Kerngebiet der Katastrophe, wurde für den Verkehr gesperrt, weil sie durch die vielen Transporter brüchig geworden ist. Sie muss in den nächsten Stunden geflickt werden. 240 Lastwagen haben sich vor ihr schon angestaut. Lieferungen, die auf der anderen Flussseite dringend gebraucht werden. Dazu ist vor wenigen Tag ein Rotkreuz-Schiff im Delta gesunken, die Fahrrinnen haben sich durch den Sturm völlig verschoben.

Das Wetter hebt die Stimmung auch nicht sonderlich. Es ist der Beginn des Monsun. Für die Menschen im Delta tickt die Zeit. Schwere Regenschauer prasseln gegen mein Hotelfenster.

 

19.5.2008
Er schwenkt den dürren Stock, droht, schlägt den Kindern, die sich an ihm vorbei schmuggeln wollen, hart auf den Hinterkopf. Der Chefkoch des Klosters Damakazip versorgt sonst 13 Mönche, heute stehen 3850 Menschen bei ihm um Essen an. Es summt auf dem Gelände, ein Stimmengewirr, Kinder schreien, Männer brüllen. Rauch von improvisierten Feuerstellen zieht über die Menschenmenge. Babys schlafen, eingewickelt in dünnes Tuch, auf nacktem Beton.

Ich habe in Rangun über den Fluss gesetzt und die Vorstadt Dalah besucht, illegal, der Zutritt ist Ausländern seit kurzem verboten. „Schafft uns endlich diese Regierung vom Hals“, sagen die Leute mir. „Es warten alle darauf, dass die Amerikaner kommen“, meint ein anderer, und er scherzt dabei nicht. Immer noch werden die Überlebenden im Birma überwiegend von Privatleuten versorgt, vor allem von buddhistischen Klöstern. Ein ganzes Land hat Zuflucht bei den Mönchen genommen.

Die Massenspeisung an diesem Mittag ist eine Schenkung von Frau Thiun Thiun. Die Frau eines Fischereikapitäns läuft aufgeregt entlang der Warteschlange auf und ab. Sie trägt eine Baseballkappe, ist geschminkt und hat sich fein gemacht. Sie hilft den Alten auf die Holzbänke, streichelt Kindern übers Haar. Tausend Dollar spendete ihre Familie für das Mittagessen, das Abendessen finanziert ein Juwelier aus Rangun.

So wechselt es jeden Tag. Eine enorme Welle der Solidarität durchläuft das ganze Land. Dieses Wochenende machen viele Firmen nicht frei, sondern stellen in ihren Büros Hilfspakete zusammen. Auch in meinem Hotel sind mir plötzlich vier Frauen aus einem Versicherungsbüro mit einem Gepäckwagen voller Reissäcke entgegen gekommen. Sie hinterließen auf dem grünen Plüschteppich eine lange Spur aus weißen Körnern.

Doch das Militär setzt ihnen Hindernisse, wo es nur kann. „Wir haben vor drei Tagen Lebensmittel im Wert von 5000 Dollar ins zerstörte Delta gefahren“, erzählen der Fischereichef und seine Frau. „Die Hälfte mussten wir den Soldaten geben.“ Der Mann, der selber 18 Mitarbeiter verlor, würde gerne in sein Heimatdorf reisen. Dort leben seine vier Schwestern und Brüder. „Ich bekomme keine Erlaubnis dafür“, klagt er. „Ich weiß nicht, ob meine Familie überlebt hat.“ 

Währenddessen herrscht eine heillose Verwirrung über die Opferzahlen. Die Regierung hat die offizielle Zahl auf 78 000 angehoben. Die Vereinten Nationen (UN) sprechen von 70 000 bis 200 000. Es gibt schon einzelne Pressemeldungen, die 250 000 nennen. Offenbar haben Kollegen einen neuen Sport entdeckt: Höher und höher. Zitiert werden stets nur die Maximalschätzungen der UN, die Minimalannahmen dagegen nie. Eine kuriose Methode.

Es gibt Fortschritte und Rückschläge. Herbe Rückschläge. Die Junta hat den Deal mit der UN platzen lassen, wonach ausländische NGOs ihre Flugzeuge selber löschen dürfen. Den Organisationen war erlaubt, die Fracht auf dem Rollfeld entgegen zu nehmen und in eigene Lager zu fahren. Das gilt ab sofort nicht mehr. Das Militär möchte die Ladungen wieder selber übernehmen.

Die UN stoppen alle Flüge, bis zu sieben waren am Sonntag davon betroffen. Wieder landen also nur noch Transporte aus China und Thailand. Auch Detlef Hiller von der Kindernothilfe hat in Deutschland die Verhandlungen über einen Charterflug deshalb abgebrochen. „Ich habe alles gestoppt. Wir müssen erstmal abwarten.“ Es können immerhin weiter Lebensmittel verteilt werden, die bezieht Hiller aus dem Landesinneren.

Gute Nachrichten von der Welthungerhilfe. Ihr Konvoi ist nach Bogale im Herzen des Krisengebietes im Irawadi-Delta durchgekommen. Die Brücken, gestern beschädigt, sind notdürftig repariert. Die fünf geliehenen Siebentonner haben in den vergangenen Stunden 15 Fahrten absolviert. 1800 Familien in 14 Dörfern im Süden von Bogale werden jetzt von der Organisation versorgt. Und fast stündlich erreichen ihre Mitarbeiter mehr Menschen. Ralph Dickerhof hofft, bald auf die Zahl 10 000 zu kommen.

Wir werden abermals eine kleine verbotene Landpartie wagen. Die Vorbereitungen haben den halben Tag in Anspruch genommen. Wieder wissen wir nicht, wie weit wir kommen.

 

21.5.2008
Ich bin ganz still, spüre den Atem des Fotografen, auf dessen Bauch ich liege. Draußen aufgeregte Stimmen. Das Geräusch zuschlagender Türen. Ich höre Schritte auf Asphalt, die uns umrunden. Es ist zwei Uhr in der Nacht. Wir reisen in das Katastrophengebiet Birmas, ins Irawadi-Delta, das die Regierung seit Wochen hermetisch abgeriegelt hat. Versteckt hinter Stapeln von Pappkartons haben wir dunkle Tücher über uns gezogen. Die Luft ist stickig, wir atmen Benzin. Einer der Kanister leckt. Ich befinde mich in einem Lkw, vielleicht auch in einem Reisebus, vielleicht sogar in einem Militärlaster, wo genau sage ich nicht. Es könnte auch sein, dass wir mit einen der vielen kleinen Stückgutfrachter ins Delta gefahren sind. Abwechselnd werden Beine und Arme taub, die Kanten von Kisten und Kanistern klemmen sie ab. So verharren wir für fünf lange Stunden, schmuggeln uns durch sieben Checkpoints. Durchbrechen den in den letzten Tagen immer enger gewordenen Sperrring, den die Militärjunta um Rangun gezogen hat.

Das Keuchen von Kindern empfängt uns, als wir unser Versteck verlassen. Das dunkle Husten von zwei kleinen Jungs, die im Matsch vor einer Palmhütte kauern. Morgengrauen. Enten gackern in einem Verschlag, begrüßen die aufgehende Sonne. Nur wenige Menschen auf der Straße. Ich bin 30 Kilometer vor Bogale, dem Kerngebiet des Krisengebietes, wo in manchen Flüchtlingslagern täglich Dutzende Kinder und Alte sterben sollen. Ich höre von einem Camp, in dem in zwei Tagen 50 Menschen ihren Krankheiten erlagen. Wir steigen jetzt in einen kleinen Nachen um, sechs Meter lang, ein Meter breit. Wir stoßen uns mit Stöcken vom Ufer ab und verschwinden lautlos in den weiten Flusswäldern des Deltas.

Die Baumwipfel schützen uns vor den Blicken von Militärhelikoptern. Unsere Begleiter haben Leute an strategisch wichtigen Orten platziert, die regelmäßig Kontakt mit uns aufnehmen, um über Bewegungen von Militär und Polizei zu berichten. Sehr viele Menschen arbeiten im Hintergrund, um diese Fahrt nicht zum Fiasko werden zu lassen – zum Fiasko für unsere Begleiter. Ich habe keine Angst um mich und den Fotografen Martin Sasse. Wir werden im schlimmsten Fall von der Polizei zum Flughafen eskortiert. Unseren Begleitern und ihren Familien aber droht langjährige Haft und Folter. Wir haben lange diskutiert, ob wir dieses Unternehmen wagen sollen.

Erst neulich ist in einem anderen asiatischen Land während meiner Arbeit für eine Reportage ein Informant verhaftet worden. Ein entsetzliches Gefühl. Doch unsere Begleiter in Birma machen den Eindruck, als wüssten sie, was sie tun. Hinter dem Sperrriegel des Militärs spielt sich eine der größten humanitären Katastrophen der letzten Jahre ab. Wir wollen verhindern, dass sie vergessen wird.

Es ist ein dunkelgrün schimmerndes Land, in das wir mit dem Boot eintauchen, kleine und kleinste Wasserläufe, so schmal oft, dass der Rumpf links und rechts an Wurzeln kratzt. Stege vor jeder Palmhütte, jede Familie besitzt eigene Bootsliegeplätze. Ich sehe Siebenjährige in maßangefertigten Kinderbooten, die neugierig zu uns herübergucken. Sie huschen über die Kanäle flink wie Wassermücken. Das Rudern wird im Delta fast so früh erlernt wie das Laufen. Mütter sind mit Töchtern zum Schneiden von Palmwedeln unterwegs. Überall flicken die Menschen ihre Häuser. Wir sehen viele Zerstörungen, aber noch sind wir weit von den schwersten entfernt. Die meterhohe Flutwelle hat es bis hierhin nicht geschafft. Die Hütten, die wir sehen, teilen sich die Familien mit Flutflüchtlingen aus dem Deltainneren.

Über die grünen Wipfel schiebt sich die schwarze Wand eines Wolkenkolosses. Was für eine Gewalt. Dem Zyklon folgt in Birma die Regenzeit, Tag für Tag schickt sie wahre Regenmonster übers Land. Auf uns fallen die ersten Tropfen. Es kommen Stunden, die ich verfluche, in denen Fluss und Himmel fast eins zu werden scheinen. Ich ziehe meine Regenjacke an, der Fotograf, der sie in der Hektik vergaß, sucht Schutz unter der Plane, die wir über unser Gepäck und die Lebensmittel gezogen haben. 30 Kisten voller Hilfsgüter tragen wir im Heck. Es wäre zynisch, ohne sie ins Delta zu fahren. Es ist bitterkalt. Ich halte meine blauen Fingernägel ins Flusswasser, um sie zu wärmen. Im Vergleich zum Regen ist es im Fluss badewannenwarm.

Ich treffe auf meiner Reise durch das Delta viele Menschen, denen die Katastrophe nur ein T-Shirt und eine kurze Hose ließ. Zitternd legen sie ihre Arme um die Schultern.

Nach vier Stunden auf den Seitenarmen erreichen wir den breiten Flussarm des Irawadi bei Bogale. Schweres braunes Wasser, auf dem reger Bootsverkehr herrscht. Unsere Begleiter haben uns die für das Delta typischen Strohhüte gekauft.

Wir müssen uns fürchten vor Militärposten an Land, Militärpatrouillen auf dem Wasser und nicht zuletzt vor Spitzeln, die überall sein könnten. Wir gehören zu den ersten westlichen Journalisten, die an der kilometerlangen Hafenkante der Distrikthauptstadt entlangfahren. Ich sehe Zerstörungen, die mich an das erinnern, was ich 2004 nach dem Tsunami auf Sri Lanka gesehen habe. Wälle an Schutt und Ästen, eingedrückte Häuser. In die Gassen wurden große Lastkähne und Fischerboote geschleudert, die Menschen drücken sich um sie herum, um an die Fähren zu kommen.

Ich höre auf, die an Land geworfenen Schiffe zu zählen, es sind unüberschaubar viele. Einige hängen noch an ihren Tauen. Eine zerstörte Polizeistation, reihenweise zerschmetterte Reisfabriken, eine der Haupteinkunftsquellen von Bogale, früher Reiskammer des Landes. Hin und wieder kleine Trupps von Arbeitern, die mit Hammer und Nägeln Reparaturarbeiten begonnen haben. Eine Wasserleiche, die den Fluss hinunter treibt. Dann drei hintereinander ankernde Militärtransporter, wir ducken uns in das Kielwasser unseres Bootes. Zigaretten rauchend lehnen Soldaten an der Reling.

An der anderen Flussseite legen wir an. Dort gibt es ein kleines zerstörtes Kloster mit einem traurigen Mönch und einer Familie, die sieben ihrer Verwandten verlor. Hilfe der Regierung hat sie noch nicht erreicht – wie viele im Delta. Der Mönch versorgt sie mit dem Nötigsten.

Wir warten hier eine Weile. Die Informanten unserer Begleiter wollen mit neuesten Informationen kommen. Es regnet immer noch. Verfluchter Regen.

 

22.5.2008
Ich ziehe die Schuhe aus, als ich das Kloster betrete. Meine nackten Füße gehen über Schutt. Es ist drinnen so dreckig wie draußen, Trümmer und Matsch bedecken den Boden des Gebäudes, das Dach wurde vom Zyklon abgerissen. Ein einziger Mönch sitzt niedergeschlagen in der Klosterhalle, drei Kinder umringen ihn.

„Nur dieses Gebäude hat den Sturm überstanden“, sagt er. Lichtungen klaffen jetzt dort, wo draußen im Palmenhain die Häuser des Dorfes waren. Hier und da kleine Steinanbauten, die die Flut nicht weggerissen hat. Die Gemeinde des Mönchs hat dennoch Glück gehabt, lediglich zwei Tote haben sie zu beklagen. Auf dieser Seite des Flusses bei Bogale stieg das Wasser nur um anderthalb Meter. Kinder und Frauen retteten sich vor der Springflut ins Allerheiligste des Klosters, zum goldenen Buddha, dessen Statue auf etwas höherem Grund gebaut ist. Das Wasser bis zum Hals haben sie überlebt.

„Alles was wir zum Essen haben, ist keimender Reis“, klagt der Mönch, bei dem mehrere Familien Zuflucht gefunden haben. Die Fetzen seines herabgewehten Blechdaches leiht er ihnen aus, damit sie improvisierte Unterstände gegen den Regen abdichten können. Obzwar fast in Sichtweite des großen Hafens von Bogale, eines der Zentren des Krisengebiets, wo Schiffsladungen von Reis umgesetzt werden, hat die gegenüberliegende Flussseite noch keine Hilfe erreicht.

Wir kehren in unser kleines Boot zurück. Hinterlassen den Familien einige unserer Lebensmittelkisten. Tuckern wieder Richtung Bogale, passieren die Wracks riesiger Personenfähren. Sie erinnern an Walfische, die an Land geschleudert wurden. Ihre Schiffsschrauben ragen in die Luft. Auf den Wiesen am Uferstreifen immer wieder frische Gräber beerdigter Wasserleichen. Zum Verbrennen der Toten – wie es der Buddhismus vorschreibt – fehlt trockenes Feuerholz.

Die Stadt Bogale ist das derzeit am strengsten abgeriegelte Gebiet des Katastrophengebiets. Soviel Militär. Überall Uniformen. Es ist unmöglich für uns, sie zu betreten. Die Deutsche Welthungerhilfe unterhält dort ein Lebensmittellager, ihre einheimischen Mitarbeiter verteilen von dort aus die Hilfe in mehreren Dörfern. Die fünf Deutschen, die die Aktion von Rangun aus koordinieren, haben diese Stadt bisher nur auf der Landkarte gesehen. Sperrgebiet. Für Ausländer so weit weg wie der Mond.

Einer unserer Begleiter holt in Bogale Informationen ein, er spaziert durch die Ruinen der Stadt. Wir würden gerne das Zentralkloster besuchen, in das sich in den vergangenen Tagen viele Tausende gerettet hatten. „Das Kloster ist leer“, berichtet er uns erstaunt. „Das Militär hat die Leute gezwungen, entweder in ihre Dörfer zurückzukehren oder in Flüchtlingslager ins Landesinnere.“ Die Soldaten fürchten die Macht der Mönche. Sie fürchten, dass sich im Schatten der Katastrophe zivilgesellschaftliche Strukturen in Birma herausbilden. Tatsächlich ist genau das der Fall. Von 50 Camps um Bogale sind nur drei von der Regierung eingerichtet worden, alle anderen werden von Klöstern und christlichen Gemeinschaften unterhalten. Das macht Hoffnung für die Zukunft.

Wir wollen weiter in den Süden, den Flusslauf Richtung Mündung hinunter, dort wo die meisten Menschen ums Leben kamen. 900 Dörfer unterhalb von Bogale sollen nicht mehr existieren. Hinweggewaschen von der Flut. Da erreichen uns sehr schlechte Nachrichten. Unsere Begleiter sammeln sich zu einer Krisenkonferenz auf dem Fluss.

Vier Boote treiben nebeneinander, die Steuermänner gestikulieren aufgeregt. Einer berichtet, er habe gestern zwei Gewehrschüsse in Bogale vernommen. Als er ihnen nachgelaufen sei, stieß er auf zwei Exekutierte. Ihre Leichen lagen auf der Straße. Die Umstehenden erzählten ihm, die Soldaten hätten die beiden erschossen, weil sie zwei Tage zuvor mit Ausländern gesprochen haben. Ein Gerücht? Ist das Militär zu solcher Brutalität fähig? Ich befürchte: Es ist dazu fähig.

Bootsfahrer, die den Süden erkundet haben, berichten davon, dass es für uns unmöglich sei, dorthin zu gelangen. Die fünf schnellen Motorboote, die die UN der Regierung kurz nach dem Zyklon übergeben habe, damit sie rascher in die zerstörten Dörfer komme, würden nun Ausländer jagen. Sie lauerten nun genau da, wo Tage zuvor die Kollegin von der ARD ihre Aufnahmen machte. „Schenkt unserer Regierung überhaupt nichts!“, empören sich unsere Helfer. „Sie verwenden sofort alles gegen ihr eigenes Volk.“

Unser Boot zieht sich wieder in die kleinen Seitenarme zurück. Der Regen hat zum Glück nachgelassen, manchmal sticht sogar die Sonne aus den Wolken. Auf dem Rückzug bewerfen unsere Begleiter die Hütten rechts uns links mit Hilfspaketen. Vieles landet im Wasser, ohne Zögern springen ganze Familien ins Wasser. Für mich eine unwürdige Prozedur. Unglaublich schnell kommen Ruderboote von den Ufern auf uns zugeschossen. Lachend heben die Menschen die Arme und betteln um mehr.

Eine Polizeipatrouille plötzlich hinter uns. Wir fingen gerade an, uns sicher zu fühlen. Mit starkem Motor verringert es die Distanz, es holt auf, kommt näher. Der Fotograf versteckt hastig seinen Kamerachip. Wir setzen wieder unsere Strohhütte auf, die unsere Helfer uns zur Tarnung gaben. Ob diese lächerliche Verkleidung etwas bringt? Ich fürchte das Schlimmste, als die Polizisten mit uns gleich ziehen, dem Bootsführer bedeuten, langsamer zu fahren.

Einige der Uniformierten lächeln, dann brausen sie an uns vorbei. Eine Weile glauben wir, sie wollten uns den Weg, irgendwo auflauern. Tatsächlich halten sie einfach Kurs und verschwinden nach einer Viertelstunde am Horizont. Ob sie uns nicht erkannt haben? Ob es ihnen egal ist? „Diese Einheit ist für die Personenkontrolle nicht zuständig“, sagt unser Begleiter und grinst. Oft ist die Polizei auf der Seite der Bevölkerung, erzählen Oppositionelle in Birma. Während der Mönchsmärsche im September schossen Soldaten auf die Menschen. Viele Polizisten weigerten sich.

Irgendwann an diesen Abend sitzen wir alle gemeinsam in einem chinesischen Restaurant mitten im Sperrgebiet. „So öffentlich?“, frage ich. „Kein Problem“, sagen unsere Helfer. Sie bringen Bier und Reis und Fisch. Müde, seit fast zwei Tagen ohne Schlaf, hänge ich über dem Plastiktisch. Pärchen lassen es sich schmecken in unserem Restaurant, die Leute lachen und witzeln, es herrscht Ausgehatmosphäre mitten in der Jahrhundertkatastrophe.

Ich sehe dann den Governeur des Irawadi-Deltas in der Tür. Ein hoher General. Umgeben von einem Dutzend anderer hoher Offiziere. Der Mann ist zuständig für die Abriegelung des Krisengebiets, mitverantwortlich für eine der größten Verbrechen, die Regierungen derzeit auf der Welt an ihrem Volk begehen. Unsere Begleiter essen ungerührt weiter, der General scheint uns nicht zu sehen. Geht mit seinem Hofstaat in einen Nachbarraum. Ich bin froh, als wir wieder in unserem Versteck hinter dem Gepäck liegen. In einem Laster. In einem Schiff. Was für ein Land. Ich verstehe dieses Birma nicht.

 

24.5.2008
Ich wache auf und gehe in die Bugspitze des Bootes, als wir einen aufgedunsenen Wasserbüffel rammen, der in der Flussmitte treibt. Ich ducke mich unter einer schwarzen Wand aus Fliegen. Fühle hunderte Insektenkörper an meinen Rücken hochjagen. Ich würge. Was für ein Morgengruß.

Wir sind ein weiteres Mal im Delta unterwegs. Das knallende Tuckern unseres Außenbordmotors ist dem Fotografen Martin Sasse und mir längst zur Vertrautheit geworden. Ein paar Stunden hatten wir nach der Reise nach Bogale Atem geschöpft. Noch einmal konnten wir den Komfort des Hotels in Rangun genießen, besonders den der Wäscherei. Ich bin an einem Straßenrand, wo Hunderte Sturmflüchtlinge auf Hilfslieferungen warteten, in ihre Kloake getreten. Bis zum Knie war ich mit zementgrauen menschlichen Fäkalien überzogen. Bei jedem Schritt quirlte Scheiße aus meinem Schuh.

Unsere Begleiter haben neue Erkundigungen eingezogen. Während wir uns im Hotel aufhielten, reisten ihre Helfer die größeren Wasserläufe des Katastrophengebietes ab. Sie fanden eine Schwachstelle im Kontrollsystem des Militärs. Das Flusssystem südlich der Stadt Pyapon, vom Zyklon so schwer zerstört wie die Gegend um Bogale. So gut wie keine Patrouillen auf dem Wasser, nur wenig Spähposten am Ufer. Wir verstecken uns erneut hinter Bergen von Gepäck, überwinden ein zweites Mal den Sperrring um Rangun mit seinen bis zu sechsfach hintereinander gestaffelten Kontrollstellen. Erkaufen uns erneut jeden Kilometer mit großer Nervosität.

Unser Boot kommt nicht weiter. Der Flussarm, den wir befahren, ist durch abgerissene Bäume und Trümmer zerstörter Häuser blockiert. Schließlich legen wir an. Lassen zwei Mann der Besatzung als Wache zurück und gehen zu Fuß weiter. Das erste Dorf, das wir erreichen, weist schwere Zerstörungen auf. Die Hälfte aller Bäume ist abgeknickt. Von 1200 Bewohnern sind zum Glück nur 37 ums Leben gekommen. Megaphone krächzen über die neu geflickten Palmdächer. „Die Mönche sind gekommen“, dröhnen sie. „Kommt zum Kloster! Die Mönche sind da!“ Drei Wochen nach dem Zyklon erleben wir im Dorf die dritte Lebensmittelverteilung, einmal sei die Regierung gekommen, erzählen die Leute, zweimal buddhistische Mönche. Die Stimmung ist aufgekratzt.

Umgerechnet zehn Euro Reis, Speiseöl und Salz gibt es pro Person. Die Hauptstraße, die Lkws passieren können, ist nicht weit entfernt, dazu können Schiffe wie das unsrige im Dorf anlegen. Nur zwei Siedlungen weiter aber, hören wir, soll noch gar keine Hilfe angekommen sein. Dorthin wollen wir.

Ich mache mich auf einen Marsch durch die Reisfelder, die verdorben wurden von Salzwasser. Die Kühe, die den Bauern bisher die Pflüge zogen, sterben an verdorbenen Wasser – wenn sie die Springflut ohnehin nicht schon dahingerafft hat. Ihre Kadaver liegen in den Feldern, die Verwesung verfärbt das Wasser lila-schwarz. Gleich nebenan ziehen die Dorfbewohner bereits schon wieder ihre Fischernetze durchs Reisfeldwasser. In Rangun esse keiner mehr Fisch, erzählte man mir. Aus Ekel vor dem, was Fische in den vergangenen Wochen gefressen haben mögen. Auf dem Land kann man sich diese Feinfühligkeit nicht erlauben

Es stellt sich uns ein Mann vor, Ende 30, Baseballkappe, dessen Familie knapp der Flut entkam. Er führt uns durch die Felder, am gleichen Wasserlauf entlang, an dem unser Boot anlegte. Der Strom ist hier mittlerweile zu einem schmalen Bach geworden, auf einer wackligen Holzbrücke überqueren wir ihn. „Diese Brücke hat mir in der Sturmnacht das Leben gerettet“, erklärt er und zeigt mit der Hand auf seine Brust. So hoch sei das Wasser gestiegen, als er sich auf die 3,50 Meter hohe Brücke geflohen habe. „Es gab ein Geräusch wie ein Gewitter, dann brach die Welle auf uns zu.“ Die Nachbarsfamilie, 22 Menschen, die anders als seine Frau und seine Kinder, nicht davon gelaufen sei, ist ausnahmslos ums Leben gekommen. Es lässt sich noch nicht einmal erahnen, wo ihre acht Gebäude standen. Unser Führer zeigt mit der Hand auf einen leeren Platz. Tief unter der Brücke, auf der er die ganze Nacht in Todesangst verbrachte, liegt nun wieder friedlich der Bach.

Die einfachste Art, in die entlegeneren Dörfer zu kommen, sei mit einem Nachen diesen Bach zu befahren. So rät man uns. Ich steige um in einen Stocherkahn, schmal und niedrig. Nur wenige Zentimeter trennen uns von der Wasseroberfläche. Meterhoch türmt sich Schutt am Ufer. Unsere Begleiter müssen armdicke Bambusstämme durchsägen, die den Weg blockieren. Es ist ein mühsames Vorankommen – und ein schreckliches. Der Rumpf unseres Bootes stößt immer wieder an Wasserleichen. Ihre Arme und Beine schleifen an unseren Holzplanken. Zwei Frauen auf der linken Seite, ein Mann auf der rechten. Immer wieder Kinder in T-Shirt und Shorts, in den gleichen Mustern, die auch die Lebenden tragen. Drei Wochen nach ihrem Tod beginnen die Fäulnisgase aus ihnen zu weichen, sie sind wieder etwas in sich zusammen gefallen, wirken ledern, wie mumifiziert. Weiß-gelbe Körper. Wo ihre Köpfe der Sonne ausgesetzt sind, sind die Zahnwurzeln freigelegt. Sie grinsen.

Ich fühle meine Magensäure. Wende den Kopf ab, wohin aber nur? In dem engen Bachbett gibt es kein Ausweichen. Die Menschen haben die Leichen von den Feldern in die Bäche geworfen, damit sie der Regen irgendwann ins Meer spült. „Warum bloß beseitigt ihr die Toten nicht?“, frage ich fassungslos unseren Führer. „Wir haben 60 Leichen aus unseren Dorf entfernt“, sagt er. „Alles Leute, die wir nicht kannten. Jetzt sind wir müde. Wir kämpfen jeden Tag um Essen und einen Platz zum Schlafen. Wir haben keine Zeit, die Toten außerhalb des Dorfes zu bergen.“

In einer kleinen Bucht liegen Mutter und Kind. Der Ruderstock unseres Führers sticht unversehens in aufgeblähte Brustkörbe. Zwischen den Menschen immer wieder die Kadaver von Tieren. Ein Baby, dessen Kopf von Fischen gefressen wurde. Und unzählige Kokosnüsse, die aussehen wie Schädel. Ich sehe so viele Kinderleichen. Die Schwächsten, die in der Flut am wenigsten Chancen hatten. In pelzigen Flocken löst sich das Fleisch von ihren Fingern. Viele der Kinder treiben auf dem Rücken liegend im Wasser. Mit weit ausgebreiteten Armen. Als wollten sie den Himmel begrüßen.

Ich kann meine Gedanken nur noch schwer kontrollieren. Brauche eine Pause. Bekomme aber keine.

 

26.5.2008
Wie viel Grauen erträgt der Mensch. Wie viel hält sein Lebenswille aus. Auf der Reise durchs Delta stelle ich mir oft diese Frage. Ich sehe lebende Kinder, die auf tote Kinder schauen. Ausdruckslos. Unter Schock, der nun seit drei Wochen anhält. Sie wandern auf den Feldern zwischen ihnen umher, derselbe zarte Körperbau, das gleiche Muster auf Short und Shirts.

Ihre Haut ist braun, die der anderen bereits zu einem papiernen Gelb verfärbt. Unser schmaler Kahn kämpft sich auf dem mit Trümmern halb verschütteten Bach voran, bis er zu eng wird. Wir müssen aussteigen, man reicht mir die Hand, damit ich beim Absprung vom schwankenden Boot nicht ins Leichenwasser falle. Der Fotograf Martin Sasse und ich versuchen in die entlegenere Dörfer vorzudringen, die bisher noch keine Hilfe erreichte. Von denen immer noch nur gerüchteweise bekannt ist, was dort in der Sturmnacht passiert ist.

Wir erreichen das Meer, aus dem zwischen dem 2. und 3. Mai das Unheil über die Menschen kam. Flache braune Wellen, die an grauen Küstenschlamm klatschen. „Das Wasser ist furchtbar schmutzig“, sagen die Dorfbewohner, die uns den Weg weisen. Der Meeresgrund sei seit der Sturmnacht aufgewühlt und noch immer nicht zur Ruhe gekommen. Nur wenige Fische fangen die, die es versuchen. Und wenige versuchen es, da den meisten Küstendörfern ein Großteil der Boote von der Flut genommen wurde.

Ich kann auf der See kein Schiff sehen, nur Männer, die mit Bambusstock und Netz daran im Wasser stehen, um Fische per Hand zu fangen. „Wir haben keine Ahnung, wo wir neue Boote herbekommen“, sagen die Dorfbewohner. 2000 Euro koste so ein Kahn, in Birma ein Vermögen. Doch ohne die Fischerei steht an der Küste die Existenz der überlebenden Familien auf dem Spiel.

Ich werde zum Deich geführt, der die Katastrophe hätte abwenden sollen. 47 Jahre alt, wenig verbessert seither und nur etwa 1,50 Meter hoch. Landeinwärts säumen ihn Wasserleichen. Wieder Männer und Frauen, sowie besonders viele Kinder. Im Gänsemarsch laufen wir auf dem Wall, den die Flut in Sekunden überwunden hatte. Der die Wassermassen so wenig aufhielt, dass sie ihn nicht einmal sichtbar beschädigten. Ein erbärmliches Bauwerk, das zeigt, wie sehr sich Birma bisher in Sicherheit gewogen hatte. Die Katastrophenstürme nahmen in der Vergangenheit stets Kurs auf Indien und Bangladesch. Nargis, erzählt man uns, zog als erster mit ganzer Wucht tief in den Süden. Deshalb konnte er dort so entsetzlich wüten.

500 Jahre alte entwurzelte Bäume, wahre Giganten ihrer Art. In den Parks der alten Hauptstadt Yangon liegen sie auf- und übereinander wie Mikadostäbchen. Wurzelteller, groß wie zweigeschossige Häuser. Nichts hatte ihnen in all den Jahrhunderten etwas anhaben können, bis mit Nargis erstmals einer der furchtbaren Nordwinde zu ihnen kam. Deshalb auch an der Küste die niedrigen Deiche. Deshalb gibt es in Birma auch keine Sturm-Schutzbunker wie etwa in Bangladesch.

Zu allem Unglück hatte das Militär den Küstenbewohnern erlaubt, die schützenden Mangrovenwälder abzuholzen. Sie halten Wind und Wasser ab, weshalb Projekte von „Brot für die Welt“ aus Deutschland in den letzten Jahren versucht hatten, sie wieder anpflanzen zu lassen. Nur ein kläglicher Rest ist von ihnen geblieben. Nargis hatte Birma so unvorbereitet getroffen wie es ein Land nur sein kann.

Es beginnt erneut zu regnen. Wieder Sturzfluten von oben, eiskalte Schauer, Blitze zucken. Im nächsten Küstendorf flüchten wir uns in eine der wenigen Hütten, die Nargis verschonte. Fünf Familien sitzen hier zusammen gekauert, wo sonst nur eine wohnte. Eine Mutter von sechs Kindern, deren Haus ebenfalls zerstört wurde, reicht mir Frotteehandtücher zum Abtrocknen. Eine andere bietet mir eine Plastiktüte an, in die ich meinen durchweichten Notizblock legen soll. Unser kleiner Trupp muss übel aussehen, vom Regen zugerichtet, ich bin gerührt.

Überhaupt sind die Menschen im Delta, ob in Not oder nicht, die herzlichsten, die ich bisher auf meinen Asienreisen getroffen habe. Ein bisschen Reis, Zwiebeln und Speiseöl haben unsere Gastfamilien von Regierung und Privatleuten bekommen, die Zuteilungen reichen aber bei Weitem nicht. „Wir haben Reis, aber nichts zum Kochen.“ Es gibt kein Feuerholz. Eine Mutter möchte mir ihr Neugeborenes in die Arme drücken, es hat Fieber. Ich bin kein Arzt, versuche ich ihr zu erklären, ich kann ihrem Kind nicht helfen. Ratlos schaut sie mich an.

80 von einstmals 240 Bewohnern sind in diesem Dorf gestorben. Zwei Drittel aller Hütten sind zerstört. Damit zählt das Dorf an der Küste zu den glücklicheren Gemeinden. Andere sollen vollständig von der Landkarte getilgt worden sein. Als der Regen nachlässt, führen sie uns an jenen Ort, wohin sich die meisten während der Flut retteten. Der kleinen Pagode hinterm Strand. Das halbe Dorf habe sich in die steinerne Umfriedung geflüchtet. Die Kleinen, erzählen mir die Frauen, hievten sie auf die Kuppel. Die goldene Spitze ragte aus schwarzem Wasser, bedeckt über und über mit Kindern. „Ich weiß nicht, was ich fühle“, sagt uns ein Mann, der mehrere seiner Kinder verlor. „Ich bin am Leben, ich weiß aber nicht, ob ich darüber glücklich oder traurig bin.“

„Ich würde ja gerne in ein Flüchtlingslager gehen“, sagt die Frau, die mir das Handtuch reichte. „Ich weiß aber nicht, wie ich das Dorf verlassen kann. Ich müsste lange in die Stadt reisen, um zu einem Lager zu kommen, und für diese Fahrt habe ich nicht das Geld.“ Denn zu Fuß die Landschaft zu durchqueren, ist nach dem Sturm immer noch fast unmöglich.

Wir wollen weiter, ins Nachbardorf, zwei Stunden von hier, wo die Not sogar noch größer sein soll. Die Familien, die wir verlassen, schauen uns zweifelnd an – und nach einer halben Stunde begreifen wir. Der Weg führt fast brusthoch durch die Wassermassen, die Pfade zwischen den Reisfeldern sind immer noch überspült. Immer wieder drohe ich, im Schlick stecken zu bleiben. Die mitlaufenden Bewohner des letzten Dorfes, das wir besuchten, nehmen uns an die Hände. Sie zittern dabei. Die vergangenen Wochen haben ihnen nur wenig Kraft gelassen. Hinter mir Wasser, vor mir Wasser, im besten Fall ein Fußbreit Schlamm, auf dem ich balanciere.

Den Menschen hier ist ohne den massiven Einsatz von Helikoptern nicht zu helfen. Die birmanische Regierung hat den Einsatz ausländischer Hubschrauber bislang mit dem Verweis auf ihre eigenen Ressourcen abgelehnt. Angeblich ganze sechs, die funktionieren, soll das Militär besitzen.

Auch wir werden die abgeschnittenen Dörfer nicht erreichen. Für zwei Kilometer brauchen wir eine Stunde. Am späten Nachmittag beschließen wir umzukehren.

 

28.5.2008
„Kehrt zu eurem Schiff zurück“, sagen uns die Dorfbewohner. „Es hat sich in der Gegend herumgesprochen, dass ihr hier seid. Hütet euch vor Wegelagerern. Meidet die Nacht. Wir warnen euch vor den engen Kanälen. Es könnte sein, dass Verzweifelte vom Ufer auf das Schiff springen und euch plündern.“ Der Fotograf Martin Sasse und ich beschließen, ihren Rat zu folgen. Wir waten durch die überfluteten Reisfelder und nehmen ein kleines Ruderboot, um auf einem Bach zurück zu unserem Schiff zu gelangen. Nur zwei Zentimeter trennen uns von den darin treibenden Leichen, so niedrig hebt sich der Rand des Nachen über das Wasser. Wir kommen abwechselnd an Familien vorbei, die ihre Hütten neu aufbauen, und an kleinen Gruppen von Toten, die Ellbogen und Bäuche über unsere Bootswand schieben.

Schickt uns Hilfe, bitten uns immer wieder die Leute im Delta. Wir sagen: Das dürfen wir nicht. Das verhindert eure Regierung. Wir legen wieder ab. Unsere Begleiter wiederholen das unwürdige Schauspiel, werfen Hilfspakete über Bord in eine flehende Menschenmenge. Mütter strecken die Arme, kleine Jungs weinen. Einige reißen sich die Instantnudeln und Erdnusschips gegenseitig aus den Händen. Viele springen in den Fluss, um den Lebensmitteln hinterher zu schwimmen. Die ganze Bootsbesatzung lacht. Klopfen sich auf ihre Oberschenkel. Während wir das Ufer entlang fahren, lassen sie Familie für Familie ins Wasser hüpfen. Auch buddhistische Klöster passieren sie. In großer Überraschung rennen die Mönche herbei, halten die Arme auf. Wir hinterlassen heute eine Spur an Leben, im Heckwasser, für einen kurzen Moment wenigstens.

In der Nähe der Stadt Pyapon ducken wir uns wieder hinter den Bootswänden. Militärposten am Ufer. Die Zerstörung, die wir im Hafen von Pyapon sehen, scheint sogar noch größer als die von Bogale. Eine ganze Fischereiflotte ist hier zerschmettert. Hunderte Pötte. Die Boote liegen auf dem Ufer, mit ihren Trümmern ineinander verzahnt wie Legosteine. Ich sehe einen Mann, der auf einem Steg steht, die Hände in den Hosentaschen, still auf ein im Fluss gesunkenes Schiff schauend. Sein ganzer Besitz vermutlich. Ich würde gerne mit ihm reden, doch das ist hier im Hafen zu riskant.

Zurück im Hotel erfahren wir, dass zwei französische Kollegen von „Le Figaro“ ausgewiesen wurden. Sie hatten versucht, oppositionelle Mönche zu treffen. Der Übersetzer einer israelischen Hilfsorganisation hat neulich nachts vom Geheimdienst Besuch bekommen. Die Männer fragten wenig freundlich, ob er nicht wisse, dass sich Birma aus eigener Kraft helfen könne. Danach bat der Mann die Israelis, von seinem Auftrag entbunden zu werden.

Die Generäle haben die Grenzen vorsichtig geöffnet. Unter massivstem internationalen Druck. Keiner weiß, wie viele Menschen sterben mussten, wie viele Kinder und Alte erkrankten, weil die Junta Hilfe von außen abgelehnt hat. 130 000 sollen durch die Katastrophe ums Leben gekommen sein. Ein Viertel der Dörfer, schätzt die UN, ist drei Wochen nach „Nargis“ von der Außenwelt noch abgeschnitten. Nur 42 Prozent der betroffenen Bevölkerung, das sind 2,5 Millionen, sollen Hilfe erhalten haben. Und immer noch, trotz Zusagen der Junta gegenüber der UN, vollzieht sich die Versorgung der Überlebenden schleppend.

Gerade wieder wurden etliche NGOs an den Checkpoints abgewiesen, weil sie keine Reiseerlaubnis vorzeigen konnten. Die Welthungerhilfe, seit vielen Jahren im Land aktiv, eine Organisationen, die wie keine andere Erfahrungen in Krisengebieten hat, wurde ebenfalls aufgehalten. Zwei deutsche Mitarbeiter haben sich auf den Weg gemacht, um ins Delta zu fahren. Sie wollen prüfen, inwieweit die Bauern nach der Salzwasserflut wieder Reis anpflanzen können.

Das World Food Programm hat Mühe seine zehn Helikopter durch zu bekommen. Bereits vier Hilfsorganisationen wie „Save the children“ sollen Reisegenehmigungen ausgestellt bekommen haben, ganz rasch sogar, teils über Nacht. Eine spektakuläre Geschwindigkeit für birmanische Verhältnisse. Die meisten aber warten noch. Noch ist auch völlig unklar, was die NGOs tun, die bisher nicht im Lande registriert waren. Das ist die überwiegende Mehrheit der Hilfswilligen. Wo stellen sie ihre Reiseanträge? Das scheint selbst die Juntaregierung noch nicht zu wissen.

Ein weiteres Problem verzögert die Hilfe. Die Visa-Abteilung der birmanischen Botschaft in Bangkok ist ausgebrannt. Ein Unfall, so heißt es. Ein für die Generäle willkommener. Die meisten Helfer reisen über Thailand ein.

Zugleich spielt sich im Norden Birmas ein weiteres Drama ab. Die christliche Minderheit der Mara hat sich dem Verfassungsreferendum der Generäle verweigert. Eine Rattenplage hat in den Vorjahren die Anbaugebiete zerstört, weshalb die Region von Lebensmittellieferung abhängig ist. In der vergangenen Woche, unbemerkt von der Weltöffentlichkeit, riegelte das Militär alle Zufahrtsstraßen zu den Maras ab. Alle Hilfstransporte werden zurückgewiesen. Eine Massenflucht nach Indien setzt ein. Von 75 Dörfern sind nur noch 45 bewohnt. Die deutsche Kindernothilfe versucht, das Gebiet über Indien zu versorgen. Lokale Mitarbeiter tragen 50-Kilo-Reissäcke in tagelangen Märschen ins sterbende Mara-Gebiet.

 Wir steigen in Rangun in unser Flugzeug. Es gibt Weißwein und Tomatensaft. Wolken bedecken das Land – und böse Träume. 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 
 
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PHOTOGRAPHIE
Martin Sasse, Berlin
SasseFoto@aol.com
www.laif.de