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  Das Rattenloch  
 

PHOTOGRAPHIE Andreas Lobe

 


Die Schatten suchen das Licht. Stundenlang haben sie in ihrem Rattenloch ausgeharrt, jetzt lassen sie das Werkzeug fallen, drängen hinaus, mit Gemurmel und Gefluche, in Richtung Sonne, so schnell es auf Knien geht. Eingezwängt, den Bauch auf Stein, den Rücken an Stahl, quetschen sie sich aneinander vorbei, überholen einander, die Flinkeren die Langsameren, die Jüngeren die Älteren. Schwarze Gestalten in Lumpen. Schwarze Gesichter mit weit aufgerissenen Augen. Sekunden zuvor hat jemand ein einziges Wort gebrüllt: "Raus!" Das hat genügt. Sie prellen sich Gelenke an Metallstreben, torkeln, eilen weiter. Das Geräusch kriecht hinterher, es ist ein Rumpeln wie von einem fernen Gewitter, dumpf und durchdringend. Gesteinsbrocken, groß wie Schädel, groß wie Brustkörbe, splittern aus der Decke, platzen zu Boden. Plötzlich verstummt der Berg, ist Stille im Rattenloch, und man hört das schwere Atmen der Schatten. Für einen Moment halten sie inne. Dann räumen sie die Trümmer beiseite und drehen wieder um. Zurück ins Rattenloch. Zurück ins Überleben.

Es herrscht Krieg in 500 Meter Tiefe, sagen die Männer der dritten Schicht des Abbaugebietes drei des Almaznaya-Bergwerkes. Ein Krieg gegen die Kohle. Ihr Arbeitsplatz ist eine Mine im Osten der Ukraine und gehört zu den gefährlichsten in Europa. Jedes Jahr verlieren Hunderte von ukrainischen Bergleuten in maroden Stollen ihr Leben. Ein Drama, das in Westeuropa fast unbeachtet bleibt.

In Surferpose steht Andrej Timofejev, 22, auf dem Förderband. Wenn er lacht, bricht die dicke Staubschicht auf seinem Gesicht. Andrej fühlt die Wellen des Pazifiks, spürt das Surfbrett unter seinen Füßen. Er breitet die Arme aus. Sein Gesicht ist schwarz, seine Kleider sind braun und rissig. Mit zwei Metern in der Sekunde gleitet er durch vollkommene Finsternis. Einziges Geräusch ist das metallische Wimmern des Förderbandes, das ihn trägt, kilometerweit, vorbei an Stollen und Schächten, vorbei an Felstrümmern, Bergen von rostigem Schrott und schimmelndem Holz. Hinter Andrej sitzen 18 Männer, reglos kauernd, die Köpfe zwischen den Armbeugen versenkt. Nach sieben Stunden Arbeit nähert sich die dritte Schicht des dritten Abbau-Distrikts dem Sonnenlicht. Ein normaler Arbeitstag geht zu Ende. Der Stollen ist eingestürzt, aber wie durch ein Wunder sind die Bergleute noch am Leben.

Die Stadt des Untergrunds trägt alle Zeichen des Untergangs. Dobropoljie. "Gutes Feld". 80 000 Einwohner, 60 Kilometer nördlich der Provinzhauptstadt Donezk. Einst eine sozialistische Schönheit mit breiten Straßen, schattigen Alleen und weiten Parks, die zu Abendspaziergängen einluden. Dobropoljie am nördlichen Rand des Donezk-Beckens war eine Modellstadt. Man baute ihr einen Sportpalast und zwei Kulturpaläste. Ihre Busse bekamen elektrische Oberleitungen und ihre Einwohner mit die besten Gehälter der Sowjetunion. Auf alten Fotos erinnert sie an die Sternenstädte der Kosmonauten, privilegiert und abgeschirmt. Die Menschen feierten auf bunten Paraden ihre Stadt, ihre Kohle, ihre Fördermengen. Dobropoljie war der Klang unaufhaltsamen Fortschritts. Heute steht ihr Name für ungebremsten Niedergang.

Als erstes verfiel die Fabrik am Ortsrand. Sie hatte die Stadt mit Betonwänden für Plattenbauten versorgt. Dann verfielen die Plattenbauten, verrotteten die Leitungen für Frischwasser. Nur fünf Stunden am Tag tröpfelt in Dobropoljie etwas aus dem Wasserhahn. Dann verfiel das Abwassersystem. Schlimmer aber als der Gestank von Scheiße sind die Giftschwaden grauer Abraumhalden. Sie brennen Tag und Nacht, rauben die Luft zum Atmen, drücken der Stadt die Kehle zu. Eine Besonderheit der Kohle aus dem Donezkbecken: Sie entzündet sich nach einigen Wochen an der Luft. Ein Gas namens Lavo ist schuld. Hoch wie Mittelgebirge liegen die Halden rings um die Stadt. Im Westen, knapp hinter der Ortsgrenze, ragt der breite Rücken der Dobropolskaja-Mine auf, im Osten wachsen die Spitzberge der Almaznaya in den Himmel. Wer sie betritt, dem droht der Erstickungstod.

Es ist früher Abend, in Dobropoljie beginnt die letzte Höllenfahrt des Tages. Grauer Zigarettendunst wabert durch den Besprechungsraum, Schichtführer Ilja Gribok, 57, sitzt am Schreibtisch wie hinter einem Vorhang. "Sind alle gesund?" Draußen neigt sich die Sonne dem Horizont zu. Die Männer schweigen. Sie sind die dritte Schicht des dritten Distrikts und sitzen mit dem Rücken zur Wand, auf wackeligen Stühlen. Gribok fragt, ohne von seiner Personalliste aufzuschauen. Er raschelt in den Papieren. „Die Kohlefräse ist noch nicht repariert. Die Wartungsschicht ist noch unten.“ Es vergehen Minuten bis zum nächsten Satz. „Ihr müsst den Abbaustollen besser sichern. Die Stützschilder Nummer fünf und sechs sind zu niedrig. Dazwischen drückt der Fels hinein. Noch Fragen?“

Die dritte Schicht raucht eine letzte Zigarette auf dem gepflasterten Platz vor der Grubenverwaltung. Der rechte Gebäudeflügel ist seit kurzem eine Ruine mit ausgeglühten Fensterhöhlen, irgendein Trottel hatte vor einem halben Jahr eine glimmende Kippe in einen Papierkorb geworfen. Nikolaj Sluschajenko, 43, ist unter den hastig Rauchenden, ein alter Hase, langjähriger Fräsenfahrer. Ein Grüppchen weiter steht Andrej Timofejev, 22, seit vier Jahren dabei, zuständig für den Übergang der Förderbänder drei und vier. Hätten beide die Wahl, würden sie umkehren, würden sie nach Hause zu ihren Familien gehen, sie würden nicht zögern. "Ich hab mir schon viele Male gesagt, ich geh da nicht mehr rein, jedes Mal, wenn ich verschüttet wurde, nein, habe ich gesagt, nein, ich gehe nie wieder runter." Nikolaj zerquetscht mit der Stiefelspitze den Rest der Zigarette und tritt aus dem Tageslicht.

Kohleminen sind in der Ukraine Todesfallen. Das Übel begann zu sowjetischen Zeiten, als die Investitionen in die Minensicherheit drastisch zurückgefahren wurden, heute ist der Untergrund ein Katastrophengebiet. Das Arbeitsschutz-Niveau ist eines der niedrigsten der Welt. 1998 wurden 27 000 Unglücksfälle gemeldet, davon 364 tödliche. 80 Prozent der über 400 Minen in der Ukraine sind seit 20 Jahren ohne nennenswerte Modernisierung in Betrieb. Nur 57 Schächte arbeiten derzeit rentabel, viele der explosions- und einsturzgefährdeten Gruben müssten nach internationalen Kriterien sofort geschlossen werden. Während die Fördermengen in den vergangenen Jahren um die Hälfte sanken, stieg die Zahl der verbrannten, zerquetschten, zerplatzten Bergleute um das Fünffache. Alle paar Monate explodieren Bergwerke, werden binnen Sekunden komplette Belegschaften ausgelöscht.

Auf den ersten Kilometern Stollen schweben schneeweiße Flocken, ist der Boden dick mit Kalk bedeckt. Die Bergleute stapfen durch eine Winterlandschaft, fast lautlos, der Staub schluckt ihre Schritte. Die Kalkschicht schützt vor Explosionen, davor, dass brennendes Methangas den Kohlestaub entzündet. Szenen wie aus mittelalterlichen Städten, dort streute man Kalk gegen die Pest – und hielt den Tod doch nicht auf. Nikolaj schleppt mit einem Kollegen eine Tonne voll Maschinenöl, schwappend, baumelnd an einem Fichtenstamm, den beide schultern. Nachschub für die Kohlefräse. Sind die Arbeiter gut zu Fuß und fahren die unterirdischen Bergzüge pünktlich, brauchen sie eine Stunde bis zum Abbaugebiet. Rund zwei Stunden bräuchten sie, wenn sie sich an das Verbot der Direktion hielten, das Förderband als Taxi zu benutzen. Jeder weiß, dass die Fahrten auf dem Band lebensgefährlich sind. Auf dem langen Weg nach unten unterhalten sich die Männer über einen Bergmann, der am Vorabend in einer Nachbarmine von einem herabhängenden Eisenteil entzwei gerissen wurde. Solche Unfälle passieren auf den Kohlebändern häufiger, denn die Stollendecken sind ein Flickwerk aus Stahlplatten, Eisengittern und Holzverstrebungen. Jederzeit können sich Teile lösen. "Wenigstens war er sofort tot", sagt Nikolaj.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


Auf dem Flur zur Direktion hängt eine zehn Meter lange Schautafel, die über die Geschichte der Mine berichtet. Sie feiert jetzt hundertjähriges Bestehen. Ein belgischer Unternehmer hatte sie 1900 gegründet, nach der Oktoberrevolution hieß sie "Arbeiter-Bauern-Rote-Armee-Grube". Seit 1997 wird sie "Almaznaya" genannt – „Edelstein“. Besitzer ist eine staatliche Holding. Die Schautafel reiht Rekord an Rekord, zeigt, in welchem Jahr die 10 000ste Kohletonne, die 100 000ste, die millionste gefördert wurde. Die Chronik berichtet, dass die Deutschen den Schacht im Zweiten Weltkrieg zerstörten und fluteten, dass Frauen und deutsche Kriegsgefangene ihn später wieder ausbauten. Dass der Schacht eine der Stützen der Sowjetunion war und eine der Stützen der demokratischen Ukraine ist. Von Plackerei, von Staublungen und Toten erzählt sie nichts. Am Ende der Schautafeln befindet sich der Raum der Telefonzentrale. Dort laufen die Notrufe zusammen.

Die Kugel rollte langsam auf Nikolaj zu. Er hatte gerade mit seiner Kohlefräse den Abbau-Meter 160 passiert, als er sie entdeckte. Eine brennende Methangasblase, hell lodernd und wie von geleeartiger Konsistenz, schwebte mitten unter die Bergleute. Zwei wichen ihr aus, einem begannen die Wimpern zu brennen, drei andere warfen ihre Jacken über die Feuerkugel, erstickten sie schließlich. Zum Überleben brauchen die Menschen in der Mine jeden Tag viele kleine Wunder. Und mit jeden weiteren Tag des Verfalls müssen die Wunder ein wenig größer werden.

Die altersschwachen Ventilatoren in der Almaznaya-Mine sollen genügend Frischluft in das 128 Kilometer lange Stollensystem pumpen. Immer seltener gelingt das. Von Tag zu Tag steigt die Explosionsgefahr, unablässig strömt Methangas aus den Kohleflözen. Ein Funke, ein schlecht isoliertes Elektrokabel, und das gesamte Bergwerk explodiert. So geschehen im April 2000 in Krasnodon, 92 Tote, September 1999 in Donezk, 62 Tote, März 1998 ebenfalls in Donezk, 63 Tote. Darüber spricht man in der Almaznaya nicht gern. Der Bau des neuen Wetterschachts, in acht Kilometern Entfernung zum Förderschacht, wurde vor zehn Jahren gestoppt, weil das Geld ausging. Um mehr Geld zu scheffeln, wanderten die Kohlefräsen immer tiefer in den Berg. Der ukrainische Teufelskreis. Die Sicherheitsingenieure der Mine kämpfen einen aussichtslosen Kampf. Der neue Förderdistrikt 5, in dem die Kohle zwei Meter hoch lagert, müsste mit 3600 Litern Frischluft pro Sekunde versorgt werden. Die Ingenieure schaffen aber nur 2100 Liter. Drückende Schwüle herrscht in diesem Stollen, kleine Methanflammen schlagen manchmal aus der Kohleschicht. "Was sollen wir tun?" klagt ein Sicherheitsingenieur. "Ohne diesen Flöz können wir nicht leben." Nicht unter Tage in Almaznaya, nicht über Tage in Dobropoljie.

Als erster ist Andrej vom Förderband gesprungen, der Traumsurfer. Seine Füße versinken in knöchelhohem Staub. Sechs Stunden wird er im dunklen Stollen allein am Förderband stehen, seinen Teilabschnitt ein- und ausschalten, die Kohle flach aufs Band drücken. Der nächste Kollege, der dasselbe macht, arbeitet einen Kilometer entfernt. Andrej hat große blaue Augen, kurzes, frech gekämmtes Haar, eine Boxernase, obgleich er nie geboxt hat. Alle Männer seiner Familie sind Bergleute, und trotzdem bekam er es mit der Angst, als er vor vier Jahren seine erste Schicht begann. "Du bist hier umgeben von einer Menge Geräuschen." In der Ferne poltern Steine, irgendwo ein Hämmern, der Grubenwind, der durch die Förderband-Streben heult. Die älteren Bergleute machten Witze über ihn. Das sei der gute Schubin, sagten sie ihm, der Geist eines Grubenarbeiters, der junge Bergleute erschrecke. "Sie haben versucht, mir mit Schubin Angst einzujagen, und ich glaube, sie haben es geschafft."

Der Wahnsinn nistet unter Tage in vielen Ritzen. Vor sieben Jahren verschwand ein Bergmann aus seiner Schicht im Distrikt sechs. Die Suche nach ihm verlief erfolglos, er blieb verschollen. Jahre später stieß ein Reparaturtrupp in einem abgelegenen Stollen auf ein Bett mit einem verwilderten Mann unter der Decke. Von Ratten und Bergwasser am Leben gehalten. "Er dachte, er sei gestorben und der Stollen das Paradies", lacht Nikolaj, dessen Freund miterlebte, wie man den schreienden Untoten in die Nervenklinik zerrte.

Wenn Nikolaj, der Fräsenfahrer, zu seinem Arbeitsplatz kriecht, baumelt eine altertümliche Ausrüstung an seinem Oberkörper. Der metallene Selbstretter, der aussieht wie eine Schmetterlingspuppe und im Notfall Kohlenmonoxid aus der Luft filtern soll, eine Atemmaske, deren Filter längst unbrauchbar ist und ein sperriger Akku, der oft nur zur Hälfte aufgeladen ist, weil die Mine am Batteriestrom spart. Manchmal geht ihm während der Arbeit einfach das Licht aus. Dann hockt sich Nikolaj in die Dunkelheit und wartet auf Kollegen. 200 Meter muss der 43-Jährige bergauf robben. Mit einer Höhe von 50 Zentimetern gehört der Stollen im fünften Distrikt zu den niedrigsten Kohleförderstellen in Europa. Woanders wäre es unwirtschaftlich unter diesen Bedingungen Kohle zu gewinnen. Im Donezk-Becken gilt eine andere Mathematik.

55 Stahlschilder schützen die Bergleute, die gegen die Kohle wie unter einer römischen Phalanx zu Felde ziehen. Jedes dieser Schilde ist anderthalb Meter breit, rostig, an der Decke massiv, am Boden aus Metallstreben, auf denen zwei dicke Hydraulikpfeiler ruhen. Manchmal, wenn eine Ölleitung reißt, sacken die Säulen auf 30 Zentimeter zusammen. Dann muss sich Nikolaj flach auf den Bauch pressen, um von der Stahlplatte nicht zerdrückt zu werden. "Richtig schlimm", sagt Nikolaj, "wird es, wenn Schilder umkippen." Die Abstände zwischen den einzelnen Stahlplatten sind oft zu groß, nackter Fels ist dann über den Männern, riesige Steinplatten, die jederzeit wie Schlachtbeile hinab sausen können.

Das rechte Knie, beide Beine, beide Hände, sechs Rippen – im Laufe der Jahre wurde Nikolaj von vielen Steinen getroffen, nach und nach zerschmetterten sie nahezu jeden Knochen. Bei Wetterwechsel tun ihm alle Glieder weh. Einmal, als er wieder verschüttet war, bohrte sich sein linkes Knie in die Brust, er konnte nicht mehr atmen. "Ich war am Ersticken und musste an meine Kinder denken. Ich habe zwei Söhne. Mein ältester macht ein Fernstudium, er ist zu zart für die Grube, was sollte aus ihm ohne mich werden?" Nach seiner Rettung sammelten die Kollegen Geld für Verbandsmaterial, denn auch das war der Grubenverwaltung zu teuer. Nikolaj, der allmählich erblindet, der immerzu zwinkert, weil Tag für Tag Kohlesplitter ungeschützt in seine strahlend blauen Augen fliegen, will aber nicht klagen. "Unser Gehalt bekommen wir jetzt pünktlich."

Die dritte Schicht will die Maloche hinter sich bringen. Alle neunzehn Männer sind auf ihren Posten, Andrej am Förderband, Nikolaj an der Kohlefräse. Doch die Reparaturschicht bekommt die kaputte Fräse nicht in Gang. Die Mechaniker arbeiten nun schon seit 13 Stunden, unter Hochdruck und ohne Pause. Im Flöz klingelt das Telefon, der Vize-Direktor ruft von seinem Büro aus an, brüllt in den Hörer. Hinterher ist die Wartungsschicht extrem nervös, ihr Brigadist niedergeschlagen. Er wurde nach oben zitiert. "Die reißen mir jetzt den Arsch auf." Als zwei Stunden später die Förderschicht zusammen mit den Mechanikern die Maschine endlich hin bekommt, ihr Fauchen den ganzen Gang erfüllt, fällt das Förderband aus. Ein Zahnrad ist gebrochen. "Oh, wir hatten gewusst, dass es demnächst brechen wird," sagt Nikolaj, "aber wir hatten bisher keinen Ersatz."

Das Glück und die Bergleute sind weitgehend auf sich allein gestellt. Zu den wenigen Verbündeten der Grubenarbeiter zählen Ratten. "Unsere Lebensversicherung", sagt Nikolaj. Wo sie gemütlich flanieren, fühlt sich auch Nikolaj außer Gefahr. Wenn er beobachtet, dass die Ratten fluchtartig einen Stollen verlassen, dann flieht auch er. "Die Tiere wissen viel früher, wann der Berg kommt oder die Luft zu dünn wird." Die Bergleute hegen und pflegen daher ihre lebenden Seismografen. Andrejs Mutter gibt ihrem Sohn für seine Lieblingsratte "Larissa" stets eine Extra Portion Wurst mit nach unten. "Ich habe sie dressiert", erzählt er, "sie kann schon Männchen".

Eines Tages, als Nikolaj fräsend im Stollen lag, die Schicht war fast zu Ende, rannten die Tiere in Scharen an ihm vorbei. "Das war ein schlimmer Tag." Er schaltete die Maschine ab, schaffte es gerade noch, sich mit dem Rücken an die bröckelnde Kohlewand zu pressen, da wirbelten tonnenschwere Maschinenteile durch den Gang. Ein enormer Windstoß, alles zermalmend, jagte durch die Mine. Die Luft war plötzlich Staub, jeder Atemzug fühlte sich an, als sauge man Leim. Die Minenarbeiter kennen dieses Phänomen. Eine bereits ausgefräste Kohleschicht, 20 Meter breit, 200 Meter lang, war in sich zusammen gebrochen, die verdrängte Luft erzeugte eine mächtige Druckwelle. Die Männer warteten in ihren windgeschützten Verstecken einige Stunden, bis sich der Staub so weit gelegt hatte, dass Licht in die Dunkelheit drang. "Ich habe danach Männer gesehen, die wie Kinder schluchzten. Sie weinten und weinten. Ich weinte auch."

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


Im Duschraum tropft es aus den Hähnen mehr als es fließt. Irgendwie hat die dritte Schicht doch noch knapp das Tagessoll geschafft. 1000 Tonnen Kohle. Eine dicke braunschwarze Kruste überzieht die Kachelwände der Gemeinschaftsdusche, mühsam versuchen Nikolaj und Andrej die Nachtschwärze aus den Gesichtern zu reiben. Als Erinnerung bleiben schwarze Augenringe, besonders im Winter, wenn das Duschwasser knapp vorm Gefrieren ist. Viele Bergleute leiden unter chronischen Erkältungen, mit hohem Fieber zwingen sie sich in die Mine, in ständiger Angst, vom Brigadisten aus der Schicht genommen zu werden. Der Direktor zieht seit kurzem für fünf Krankheitstage einen Urlaubstag ab. Das soll die Arbeitsmoral heben.

Eine Stunde geht Nikolaj durch die Nacht von Dobropoljie nach Hause, zu Fuß, den Wäschesack geschultert. Sein Häuschen liegt am Ortsrand, im Grünstreifen zwischen Stadt und Abraumhalde. Ihm schmerzen die Knie, die Füße. Trotzdem ist er über den weiten Weg nicht unglücklich. Dort draußen hat er einen eigenen Brunnen mit gutem Wasser und einen großen Garten. Ohne den Garten könnte er das Fernstudium seines Ältesten nicht finanzieren. Doch die bescheidene Idylle bröckelt. Das Haus sackt ab, daumenbreite Risse öffnen sich in den Wänden. Unter Nikolaj und seiner Familie arbeitet die Mine Dobropolskaya. Eines Tages wird sie das Haus verschlingen. So mancher Kumpel, glücklich aus der Tiefe zurückgekehrt, wurde im Kohlerevier von seinen eigenen Wänden erschlagen.

Andrej kennt Leute, die ihr zu entfliehen versuchten, den Bus in die Provinzhauptstadt Donezk nahmen und rasch wieder in die Gegenrichtung fuhren. "Es gibt auch woanders keine andere Arbeit." Andrej träumt vom Surfen in Kalifornien, seine Utopie. "Albern. Unerreichbar." Andrej plant aber auch ernsthaft. "Wenn ich zu einer Menge Geld komme, werde ich Kühe züchten, werde ich Käse, Milch, Quark und Sahne machen. Ich würde einen so großen Garten haben, dass ich nicht mehr nach unten muss." Und wenn er dann noch Geld übrig hätte, würde er ein Aquarium kaufen. Zwei kleine Aquarien hat er schon. Nach Schichtende hockt er stundenlang davor und schaut den Fischen zu. Wenn der Tag in der Mine besonders quälend war, beobachtet er sie oft bis spät in die Nacht. Einmal hat er sich überlegt, ob die Fische unter ihrer Gefangenschaft leiden. "Sie leiden nicht," hat er beschlossen, "sie sind im Aquarium geboren und wissen nichts von der Freiheit. Sie haben sie ja nie gesehen."

 

   
 
       
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PHOTOGRAPHIE
Andreas Lobe, Reutlingen
Lobe470336@aol.com
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