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Das bedrohte Paradies.

Wie der Nationalpark Berchtesgaden Opfer des Tourismus wird.

 

 
 

Risse jagen unter mir auseinander, krachend schießen sie in alle Richtungen. Andere kommen aus weiter Ferne auf mich zu, wie rasende Blitze, und spalten plötzlich den Grund unter mir. Ich gehöre nicht in diese Welt, denn niemand gehört hierher. Immer tiefer führt mich der Jäger Andreas Pfnür in sie hinein. „Niemals umsehen“, rät er. „Nicht hinter dich schauen, nicht neben dich.“ Konzentriert das Gleichgewicht halten. Wir sind auf Fahrrädern unterwegs auf dem zugefrorenen Königssee, über 200 Meter tiefen Wasser, Postkartenidyll sonst und Alptraum jetzt. Ziel Hunderttausender Touristen und nun fast menschenleer. „Wenn Nebel aufkommt, müssen wir nah am Ufer bleiben. Man geht ja schnell verloren“, sagt Pfnür, der sich jeden Wintermorgen auf dem Weg macht zu den sechs Kilometer entfernten Wildfütterungsplätze. Die liegen am Ende des Sees. Über Land führt kein Weg dorthin. Was letzte Woche eine gemütliche Bootspartie war, wird auf Eis zur Nervensache. „Die Fragerln“, warnt der Berufsjäger vor den Spannungsfugen, über die wir behutsam unsere Räder schieben. Über Nacht hat sich der Nationalpark Berchtesgaden dem Menschen verschlossen. Er ist das raueste aller deutschen Schutzgebiete. Das ist sein Reiz und sein Problem.

Nur zwei Pässe im Norden und einer im Süden führen in den äußersten Südosten der Republik. Wer sie überquert, von Bad Reichenhall oder von Salzburg kommend, steigt in Berchtesgadens sanften Talkessel ab, sieht vor sich die schroffen Gebirgsstöcke von Watzmann und Hochkalter. Lange war die Region isoliert, über Jahrhunderte regiert von Fürstpröbsten, ein streng konservativer Kirchenstaat zwischen Bayern und Österreich. In diesen abgelegenen Winkel Deutschlands gelangten Neuerungen stets Jahrzehnte später, Industrialisierung, Gipfelsturm, Tourismus. Vielleicht deshalb überdauerte hier ein ausgedehntes Stück Alpen, das größtenteils sich selber überlassen blieb, in dem der Mensch nur Zaungast blieb. In dem es keine Höfe gibt und keine Dörfer. Wo mächtige Schotterströme durch Täler fließen und nicht der Straßenverkehr. Es Gebirgsmassive gibt, durch die keine markierten Klettersteige führen. Das Yellowstone Bayerns, heißt es. So viel Wildnis wie im Nationalpark Berchtesgaden ist nirgends in Deutschland.

Die Oberschenkel zittern, als ich das Ufer des Königssees erreiche. Zum Eis-Radfahren, weiß ich jetzt, braucht es Seiltänzerqualitäten. Jäger Pfnür ist auf der Halbinsel St. Bartholomä längst dabei, aus dem Stall Heu fürs Rotwild zu holen. Über uns verschwindet die Ostwand des Watzmanns in niedrig hängende Wolken, 1800 Meter Kalk, die höchste der Ostalpen, einer der berüchtigtsten Knochenbrecher, an dem über hundert Bergsteiger zu Tode stürzten. Ende der Sechziger Jahre drängte das Berchtesgadener Tourismusgewerbe darauf, eine Seilbahn hinauf zu bauen. Eine GmbH war bereits gegründet. Wie die Zugspitze sollte nun auch Deutschlands zweithöchster Gipfel ausgebaut werden. Es kursierten Pläne über Berghotel, Kioske, Liegeterrassen, sogar an ein Gipfelschwimmbad war gedacht. Der bayrische Naturschutz durchkreuzte das Vorhaben. 1978 wurde der Nationalpark gegründet, auf 210 Quadratkilometern, um allen Begehrlichkeiten für immer einen Riegel vorzuschieben. Jäger Pfamür wirft mir eine Heugabel zu. „Damit du auch einen Job hast.“ Ganz ohne Menschenhand geht es selbst in einen Nationalpark nicht.

Viele Berchtesgadener schätzen ihn auch heute nicht sonderlich. Die Topographie zwingt sie ohnehin in Tallagen, der Nationalpark engt sie in ihren Bewegungsspielraum weiter ein. Wörter wie „Fremdherrschaft“ machen immer noch die Runde, nach den Fürstpröbsten hätten nun die Naturschützer aus München die Regentschaft übernommen. Jahrhundertelang war Holz der wichtigste Wirtschaftsfaktor, jetzt lässt man es einfach stehen, verrotten, den Wald wieder zur Wildnis werden. „So ein Saustall!“, schimpfen viele über die scheinbare Unordnung im Schutzgebiet. Als in den 90ern mit der Gründung des Biosphärenreservates ein Großteil des Landkreises einbezogen wurde, erschienen Karikaturen in den Lokalzeitungen, die den Berchtesgadener im Indianerreservat zeigten. Die Viertelmillion Euro, die für Umweltprojekte im Biosphärenreservat jährlich zu Verfügung stehen, wollte bisher keiner. So populär ist das Projekt. Die Mittel verfallen, jetzt schon das dritte Jahr.

Noch scheint nicht entschieden, ob die Natur im Nationalpark tatsächlich eine dauerhafte Zuflucht hat. Fritz Eder, 49, einer von 18 Rangern, arbeitet sich mit Tourenskiern das Watzmannkar hinauf. Er durchsteigt dabei sämtliche Vegetationszonen zwischen Tal und Tundra, den dichten Fichtengürtel, die helleren Lerchen, er lässt Bergahorn hinter sich, Eberesche, die weiten Latschenfelder, bis nur noch Schnee bleibt und Geröll. Fast täglich patrouilliert der gelernte Maurer im Schutzgebiet, irgendwo zwischen 500 und 2700 Metern. 5000 Höhenmeter macht der Mann in der Woche. „Die neuen Skistiefel drücken“, flucht er. „Ein Scheißdreck, immer gegen den kleinen Zeh.“ Im Winter hatten die Berge bislang ihre Ruhe. Seit Skitouren und Schneeschuhe in Mode sind, ist es auch damit vorbei. Dort, wo die Seilbahnbetreiber ihren Skizirkus aufziehen wollten, tummeln sich jetzt die Individualtouristen. Quer durchs ausgewiesene Schutzgebiet für Raufußhühner rauschen sie gen Tal. Das Programm „Skibergsteigen – umweltfreundlich“ mit dem Deutschen Alpenverein zeigt noch keinen messbaren Erfolg. „Der Tourengänger“, klagt Eder, „ist schwer zu stoppen. Da helfen ein paar Schilder nichts.“ Dabei sind die Populationen von Auerhuhn und Schneehuhn schon jetzt unter Druck. Eder spricht Frevler unterwegs sehr bedachtsam an. „Ich habe schon Freunde wegen meiner Arbeit verloren. Ich lebe hier. So einfach ist das nicht.“

„Habe die Ehre!“ sprintet Rangerkollegin Carmen Kraus forsch an uns vorbei. „Heute so langsam“, neckt Eder ihr hinterher. Eine kleine Satellitenschlüssel ragt aus ihrem Bergrucksack heraus. Kraus läuft mit GPS die Routen der Skitourengänger ab, um ihren Verlauf zu vermessen. Damit die Nationalparkverwaltung im Bilde bleibt über das Wanderungsverhalten des Menschen.

Der drückt immer massiver in das Schutzgebiet. Auf Skiern kommt er und auf Bergschuhen, auf Mountainbikes und an Gleitschirmen. Unberührte Natur will er erleben. Die Ufer des Königssee okkupiert er sommers mittlerweile als Badestrand, Handtuch an Handtuch liegen fröhliche Familien, mit Sonnenschirm dazwischen. Das wilde Biwakieren nimmt zu. Die Ranger registrieren mehr und mehr Reste großer Lagerfeuer und Müllablagerungen. Videokameras auf Berghütten und Wanderparkplätzen zeichnen jetzt auf, wie viele Touristen wann wohin gehen. Die Erlanger Geographin Sabine Hennig, die winters auf Tourenski die Videobänder auswechselt, betreibt Touristenforschung. Ein neues Feld im Nationalpark. Niemand weiß, wie naturbelassenen eines der strengsten Schutzgebiete Deutschlands überhaupt noch ist.

Es wäre an der Zeit, häufiger Streifengänge zu machen, sagt Eder, aber das schaffen die 18 Ranger nicht. Mehr Hausmeister als Hüter reparieren sie die Blitzschäden am Klettersteig der Watzmannüberquerung, überholen die Sicherungen in einer der längsten Höhlen Deutschlands, der Salzgrabenhöhle. Sie betreuen Klimastationen und wissenschaftliche Feldversuche wie Käferfallen. Kurz vor dem Winter haben Eders Kollegen turnusmäßig die Steinadler-Horste untersucht, sich abseilen lassen, auf schwindelerregenden Felsvorsprüngen mit wackeligen Reissigtürmen, wo sie Proben nahmen von Beutetieren und Kot. „Es wimmelt da vor Milben“, graust es Eder. „Du musst dir immer sauber die Strümpfe über die Hosen ziehen.“

Nichts können die Ranger daran ändern, dass auch den Adlern ihre Brutruhe abhanden kommt. Im angrenzenden Hochgebirgsübungsplatz der Bundeswehr, auf der Reiter Alm, herrscht Hochbetrieb. Seit Deutschland am Hindukusch verteidigt wird, absolvieren Hubschrauberpiloten aller Armeegattungen hier ihre Gebirgsflugausbildung. Kreuz und quer rattern Rotoren übers Schutzgebiet. Noch scheint der letzte überlebende Vertreter der großen Raubvögel nicht beeindruckt, doch die Nationalparkverwaltung schaut nervös auf ihn. „Wenn man es merkt, ist es oft zu spät.“

Lawinen drohen hinter Ramsau ins Tal zu brechen, die Straße ist gesperrt. Der Morgen des nächsten Tages. Fritz Eder und Carmen Kraus, heute ein Team, stöhnen. Ein Umweg von 30 Kilometern. Beide müssen auf die Reiter Alm, ein bis zu 2200 Meter hoher Bergsockel, um Schneemessungen vorzunehmen. Unterwegs macht Eder Boxenstopp im Outdoor-Laden. „Der Stiefel drückt“, klagt er der Verkäuferin. Die kennt ihn schon. „Drückst oder reibst?“ fragt sie.

Inferno steht nachmittags auf dem Arbeitsplan. Der Schnee schmirgelt die Haut, sie brennt. In Minuten werden auf der Reiter Alm die Augenbrauen zu Strichen aus Schnee. Während es unten im Tal nahezu windstill ist, toben auf dem Plateau die Urgewalten. Wie Raddampfer schieben sich Fritz Eder und Carmen Kraus durch hüfttiefen Neuschnee. Das GPS haben sie wieder dabei, um die Messstangen unter den hohen Verwehungen orten zu können. Die Daten werden an die bayrische Hochwasserzentrale gehen. Die Reiter Alm ist ihr Frühwarnsystem.

Das größte Unwetter dräut dem Nationalpark aus dem Münchner Umweltministerium. Das will den Berchtesgadener Etat um 30 Prozent kürzen. „Mir gelang es nicht, die Bedeutung des Parks bei den Politikern zu verankern“, ist Leiter Michael Vogel ratlos. Eine Infostelle hat er schon geschlossen. Das Umweltbildungsprogramm wird er zurückfahren, die Ranger noch seltener auf Kontrollgang schicken. Der staatliche Naturschutz streckt immer mehr die Waffen.

Die Gondel der Bundeswehrseilbahn, mit der Eder und Kraus von der Reiter Alm zurück ins Tal reisen, schwankt im Wind. Für eine Fahrt ist der Sturm eigentlich zu stark, aber der Chef der Gipfelstation will nach Hause. Mit beißender Schnapsfahne wirbt er um Vertrauen: „Leute, kein Problem.“ Ich schließe die Augen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 
 
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