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Pauschal zum Pol

 
 

PHOTOGRAPHIE Thomas Ulrich

Bis zu 30 000 Euro zahlen Touristen für die äußerste aller Grenzen – der neue Rummel am Nordpol.

 

 

 

"Gott sprach zum Menschen, er solle sich die Erde untertan machen. Dabei nahm er den Nordpol nicht aus." Sir John Barrow, 1846.

 

Hilfskoch Paul Ivanushkin fährt von seinem Klappstuhl hoch, entsetzt, das Gesicht zur Küchentür gewandt. Die Uhr über dem Herd zeigt 6.30 Uhr, früher Morgen. Unter seinen Füßen vibriert der Boden, er schwankt, als würde in der Tiefe ein gewaltiger Güterzug donnern. Zum Ausklang seiner Nachtschicht hatte der 25-Jährige im Vampirroman "Twilight" gelesen. Radiomusik dudelt gedämpft in der Küchenzeile. Ein fremdartiger Lärm übertönt sie jetzt von draußen, ein Ziehen und Reißen, ein Singen und Schreien. Paul Ivanushkin rennt zur Tür, drückt die Klinke und sieht: wie seine Welt zerbricht.

Er ist der Einzige, der im Camp "Barneo" um diese Zeit nicht schläft. 20 Wohn- und Wirtschaftszelte haben russische Techniker auf dem Treibeis der Arktis errichtet, zwei Kantinenmodule und eine 1,5 Kilometer lange Landebahn. Schwarze mit Schnee gefüllte Plastiksäcke markieren ihren Verlauf. Basisstation für Touristen und Wissenschaftler. Die wohl einsamste Behausung von Menschen auf dem Planeten. Paul Ivanushkin stürmt aus der Küche, in T-Shirt nur und dünner Hose, hinaus in ein strahlendes Weiß. Die Kälte von 35 Grad minus prallt auf ihn wie ein Faustschlag, der Wind sticht wie mit vielen Messern. Der Küchenhelfer kommt nicht weit. Einen Meter vor der Kantine hat sich der Boden aufgetan, zieht ein Riss mitten durch das Stationsgelände, und schwarzdunkles Wasser kräuselt sich in ihm. "Das Eis ist gebrochen!", ruft Ivanshkin in eines der Zelte, in dem sich ein Dutzend Touristen auf Feldbetten räkelt. "Das Eis ist offen!", brüllt er in ein anderes, denn er weiß, dass keine Zeit zu verlieren ist.

Einmal im Jahr, sechs Wochen lang von März bis Ende April, wenn am Ende des Winters das Eis am dicksten ist, macht ein russisches Privatunternehmen aus einem der lebensfeindlichsten Orte des Erde ein Urlaubsziel für Zahlungskräftige. Auf der Suche nach ihm opferten Generationen von Entdeckern über drei Jahrhunderte hinweg Leben oder Verstand. Jetzt lässt er sich umstandslos im Internet buchen. Neunzig Grad Nord. Der Traum vom Pol.

Der Spalt im Eis klafft bald so weit wie ein See. Ist so abgründig wie das Polarmeer, 4000 Meter bis zum Grund. Ungläubig schälen sich die Touristen aus den Daunenschlafsäcken, treten aus ihren auf 20 Grad geheizten Unterkünften. Einige suchen Schutz in bereitstehenden Helikoptern. Die Arktis hat begonnen, sich ein weiteres Mal zu sortieren. Wie ein gigantisches Räderwerk aus Eis, dessen Teile sich unermüdlich in immer neuen Kombinationen verzahnen. In dieser scheinbar starren Landschaft ist alles stets in Bewegung. "Keine Panik", beruhigen die russischen Techniker, die den Umzug auf sicheres Eis zu organisieren versuchen. "Es kann nichts passieren." Aber auch sie wirken angestrengt. Die gesamte Zeltstadt muss abgebaut und in 500 Meter Entfernung wieder aufgebaut werden. Um das Auseinanderdriften von weiteren Schollen zu verhindern, hält sich Hilfskoch Ivanushkin mit drei anderen an den Händen, eine Menschenkette, die sich quer über einen kleineren Riss spannt. Die Piloten der Hubschrauberstaffel pflocken Seile und Metallklammern in die Eiskanten, schinden Zeit für die Bergung des Kerosinlagers. Als es dann vorbei ist, die Angst, die Kälte, das Brüllen von Befehlen, nach einem Tag und zwei Nächten ohne Schlaf, hockt die Campbesatzung erschöpft vor Wodkagläsern. Der Souvenirladen ist wieder aufgebaut, das Büfett geöffnet, Suppe, Fischfilet, das Lächeln der ukrainischen Kellnerin Galina. "Esst!", sagt sie, "esst!" Der Pol, bereit für seine neuen Gäste.

Die Erde ist im Zeitalter der Interkontinentalflüge auf iPod-Format geschrumpft, alles ist erreichbar, in ständig kürzeren Abständen. Der Planet wird zum "global village", ein für den Menschen immer engeres Gefäß. Ein Nickerchen über dem Atlantik genügt heute, wozu er früher Monate brauchte. Schon scheint ihm der Globus zu klein geworden, immer mehr drängt er an dessen Grenzen. In Massen pilgert er auf den Everest, wie Ertrinkende sitzen Menschentrauben auf den Gipfeln der Berge. Der Mensch tummelt sich in den einsamsten Wüsten und auf den fernsten Südsee-Inseln. Der Pol ist die äußerste aller Grenzen. Gipfel des Globus, Endpunkt der Achse, um die er sich dreht, Schnittstelle der Zeitzonen, Ursprung und Ausgang.

Die Reise zu ihm gleicht einer Nahtod-Erfahrung, aus der Nacht Europas führt sie über Norwegen immer tiefer ins Licht, das anfangs nur ein Saum am Horizont ist und über dem 89. Breitengrad schließlich zum Brennen wird, das die Augen reizt, sie auf Dauer erblindet lässt. Er ist der Ort, der die Dimensionen von Raum und Zeit aufhebt, wo ein Jahr aus einem Tag und einer Nacht besteht, jeweils sechs Monate lang. Es gibt nichts mehr, was jenseits liegt, nur das All noch, das Unfassbare, die Grenzen des menschlichen Verstandes.

 


Den verfranzten Vollbart im Wind breitet er auf der Landebahn die Arme aus, Stationsleiter Victor Boyarsky, 60, Schnee umstoben. Rissig wie ein Gletscher ist das Gesicht des Russen, die Stimme rau. "Willkommen, ihr unglaublichen Leute!" Zwei Tage nach Auseinanderbrechen des Camps fliegen mit der Antonow 74 aus dem norwegischen Spitzbergen erstmals wieder Touristen ein. Eingepackt bis über die Nasenspitzen treten sie heraus auf ein Meter dickes Eis, unter sieben Kleidungsschichten, tapsig zunächst, nervös. Elf chinesische Unternehmer erscheinen in der Flugzeugtür, nach einer gestrigen Geburtstagsfeier noch nicht ganz ausgenüchtert. Ihr Führer Alan Chambers mit seinem neunjährigen Sohn Oliver, der verschüchtert aus seiner Daunenkapuze hervorschaut. Im Gepäck haben sie die Asche des Großvaters, die Chambers am Pol beisetzen will. Ihnen folgt ein schottischer Milliardär mit siebenköpfiger Entourage, der mit seiner Privatmaschine nach Spitzbergen geflogen ist, um dort in die Antonow zum Pol umzusteigen. "Ich möchte mir hier die Haare schneiden lassen", sagt er, und es ist kein Witz. Den Friseur hierfür hat er gleich mitgebracht. Unterschiedslos versammelt sie Boyarsky, ungeduldig antreibend, in der Touristenkantine, wo die Chinesen sofort vor den Souvenirregalen Schlange stehen, es T-Shirts gibt und Plüscheisbären. "Ihr unglaublichen Herrschaften", sagt Boyarsky erneut. "Wir versuchen alles, damit dieser Ort für euch sicher ist, aber ihr müsst uns dabei helfen." Er ermahnt sie, sich auf keinem Fall weiter als 50 Meter vom Camp zu entfernen, wegen der Eisbären und plötzlich auftretender Risse. Es sei verboten, außerhalb der gekennzeichneten Zonen zu pinkeln, die Zähne zu putzen. Nicht in Panik verfallen, rät er abschließend, komme was wolle, und am Pol nach Möglichkeit auf "exzessives Trinken" verzichten.

Hinter dem Schild "Information Desk" sitzt Boyarsky wie verschanzt, er hält im Gästezelt Distanz zu den Touristen. So sehr er sie braucht, sind sie ihm fremd, die Millionäre und Milliardäre, die nun fiebrig vor ihm das Kantinenessen löffeln. Ein Vermögen zahlen sie der "Vicaar Company", Boyarskys Nordpol-Unternehmen, pro Kopf bis zu 30 000 Euro. 450 Euro die Nacht auf Barneos Feldbetten. Seit 1997 hat er mit dem Betrieb der Station ein Monopol auf dem Pol. Der Mann ist hauptberuflich Direktor von Europas größtem Polarmuseum, eine von den Sowjets entweihte Kathedrale in Sankt Petersburg. Mit ihm muss sich gut stellen, wer ganz nach oben will. Er entscheidet, wer zum Pol darf und wer nicht, wer wie viel für wie lange zahlt. "Mach dir wegen den Chinesen keine Gedanken", legt er Alan Chambers die Hand auf die Schulter. Boyarsky hat den britischen Berufsabenteurer kurzfristig gebeten, die Unternehmer aus Shanghai und Peking auf Skiern die letzten Kilometer zum Pol zu führen, drei Tage lang, über Eisbrüche und Eisverwerfungen. Finanzkräftige Kunden. "Es ist einfach falsch", schüttelt Chambers den Kopf. Er gehört zu den in die Jahre gekommenen Berufsabenteurern, müde von den Alleingängen, die sich von Nordpol-Tourismus einen neuen Markt erhoffen. Eine halbe Stunde übte er mit den Chinesen auf Spitzbergen. "Die meisten von denen sind noch nie auf Skiern gestanden!"

Es gibt zwei Touristenklassen auf dem Eis, die der Tagesausflügler, die 8000 Euro zahlen, um mit den Helikopter die restlichen Kilometer zum Pol geflogen zu werden. Sie kommen manchmal nur mit dem Schminkkoffer. Die anderen reisen als Abenteuerurlauber an, die sich Expeditionsleiter buchen, jeweils einen Internet-Blog einrichten, um sich dann mit dem Helikopter fast auf den Pol fliegen zu lassen. Vom 89. Breitengrad wandern sie zum 90., wenn sie das schaffen. "Ich habe eine Scheißangst", sagt eine Amerikanerin, die aus dem Kantinenzelt hinaus ins Weiße schaut. "Du bist so ausgesetzt da draußen." Eng scharen sich die Gäste beim Aufbruch um ihre Führer. Ein Marsch in der Arktis gleicht einem Spaziergang im All. Trotz Satellitentelefon und Gesichtsmasken. Wer nicht aufpasst, bekommt Frostbeulen bereits auf der Lagertoilette. Der kleinste Fehler, ein vergessener Handschuh, ein kaputter Reißverschluss – die extreme Kälte verzeiht keinen.

Die Chinesen in den roten "Vicaar"-Jacken beginnen, nervös zu werden, als Alan Chambers sie zu den Helikoptern führt. "Alan", rufen sie ihm zu, "meine Schneebrille beschlägt!" "Alan", klagen sie, "die Skibindung drückt." Einer von ihnen kann nach nur wenigen Metern aus Erschöpfung kaum mehr seinen Schlitten ziehen. Der Brite herrscht sie an, die Fabrikbesitzer und Hegde-Fonds-Direktoren schweigen demütigt; diese Reise steht unter keinem guten Stern. Nacheinander lässt Stationsleiter Victor Boyarski die Gruppen hinaus aufs Eis fliegen, mit zwei sibirischen Hubschraubern, die sonst Ersatzteile für Gaspipelines transportieren. Eine Karte an der Kantinenwand zeigt täglich neu die Positionen der Teams, darunter auch ein schweizerisch-deutsches. Nur zwei werden ihr Ziel zu Fuß erreichen. Zu stark ist die Meeresströmung, die das Polareis in diesen Tagen Richtung Süden treibt. Für einige wartet die schwerste Herausforderung, wenn sie nach ihrem Rücktransport in Barneo in der Kantine sitzen: das Scheitern zu verkraften.

"Ein Schwächling", raunt man sich in der Kantine zu, "ein Weichei wahrscheinlich", als Victor Boyarsky abends einen Notruf entgegennimmt. Die Camp-Besatzung ist beim Essen, zum Dessert wird Pudding gereicht. Der Kunde huste, sagt sein Arktisführer durchs Telefon, ihn verlasse nach drei Tagen plötzlich alle Kraft. Wenig später, von einem Helikopter aus dem Eis geholt, sitzt der 38-jährige Engländer unter ihnen, Gründer eines erfolgreichen Telekommunikations-Unternehmens. Er vermeidet, jemanden anzuschauen, ist den Tränen nahe, stützt sich auf seine Unterarme. Boyarskys Sohn, der Camp-Arzt, der sonst in Sankt Petersburg Drogenabhängige behandelt, diagnostiziert akute Bronchitis, vielleicht einen Herzinfarkt. Der Brite verkaufte vor einigen Monaten sein Unternehmen millionenschwer, tauschte seine Vision zu Geld. Jetzt hat er versucht, es zurückzutauschen und Geld zu einer Vision zu machen. Doch dieser Handel ist geplatzt. "Ich habe gedacht, es hat einen Sinn", sagt der Brite erschöpft. "Aber es macht keinen Sinn. Hier ist nichts."

Was ist der Nordpol? Ein Punkt ohne Ausdehnung, ohne Länge, Breite, Stärke. Es ziert ihn kein Gipfelkreuz und keine Gedenktafel. Die Menschen streben einem Ziel entgegen, das allein in ihrer Phantasie existiert. Der Hubschrauber berührt das Eis zunächst nur mit der Spitze der linken Kufe, er tippt es an, zart und behutsam. Der Bordmechaniker springt hinaus, während die MI-8 noch über dem Boden hin und her schwingt. Er prüft mit einer Alustange die Festigkeit der Schneedecke, ist nicht zufrieden, winkt ab. Ein wenig versetzt versucht es der Pilot erneut, dann sackt er ein. Der Pol ist heute weich wie ein Federbett.

Die Pilger steigen das kleine Bordtreppchen hinab, sehen sich um, Eisrücken und Schneeverwehungen, sehen den Russen hinterher, der mit dem GPS-Gerät voraneilt. Er heftet den Blick auf die Digitalanzeige. Zweihundert, einhundert Meter, ein bisschen nach rechts, bisschen gerade aus, ein hüfthoher Eisrücken, kurz davor noch, dann können es alle betrachten: die N 90°00 00 00. Auf den Zentimeter genau. "The top of the world", sagt der Milliardär mit Friseur, der rasch einen Klappstuhl aufstellt, dem Mäzen eine Schürze überwirft und die Schere ansetzt. Wie immer pflocken die Russen den Wegweiser in den Boden. Entsprechend der Heimatorte der Kunden ist er mit austauschbaren Städtenamen und Entfernungen bestückt. Es wird lauwarmer Glühwein ausgeschenkt, der Champagner des Milliardärs ist zu dessen Verdruss im Helikopter eingefroren. "Ich rufe dich vom Nordpol an. Von der Spitze der Welt", telefoniert einer mit seiner Frau. "Ach, das ist ja schön", sagt sie, "wann kommst du wieder heim?"

Höhenrausch. Die Menschen fallen sich in die Arme, lachen, werfen sich in den Schnee. Manche ziehen sich nackt aus, schreien, springen in die Luft. Am Vormittag ließ sich ein russisches Paar trauen, ein Jahr zuvor verkündete ein Amerikaner über Satellitentelefon die Scheidung und warf seinen Ehering auf den Pol. Den ersten Geschlechtsakt, erzählen die Russen bereitwillig, gab es auch schon. Dem Milliardär weht immer wieder die Schürze ins Gesicht, dreimal muss der Versuch, ins Guinness-Buch der Rekorde zu kommen, abgebrochen werden. Drohender Erfrierungen wegen. "Raus aus dem Bild!", ruft er Leuten zu, die dem Pol zu nahe kommen. Die zwei russischen Betreuer, die wissen, dass sie etwas bieten müssen, laden zur "Runde um die Welt" ein. Nun halten sich alle an den Händen und kreisen um den Pfosten, über alle Kontinente hinweg, Himmelsrichtungen und Zeitzonen. Da ist das Eis, auf dem sie stehen, längst wieder über den Pol hinweggetrieben.

Fast jeder Tourist hat für seinen Aufenthalt hier eine Entschuldigung parat, als wäre der Besuch des Nordpols eine Unanständigkeit. Zu Hause ernten sie oft Kritik. So viel Geld auszugeben für einen Ort, den es nicht gibt. Deshalb ziehen die meisten sich zusätzlich den Mantel der Wohltätigkeit an, auch der Milliardär ist nicht nur zum Spaß hier. Er will auf einen Hilfsverein für krebskranke Jugendliche aufmerksam machen. Ein anderer sammelt Spenden für obdachlose Kinder in Washington, D.C., zwei Schwestern sorgen sich um Schwarzbären in China. Für die Saison 2011 ist Prinz Harry angekündigt, der will – wie es heißt – in die Arktis, um Gelder für in Afghanistan verwundete britische Soldaten zu sammeln.

Der Pol hält für alles her - nur die norwegische Bestsellerautorin Anne Ragde steht einfach dort, raucht und trinkt, und sagt zufrieden: "Ich bin hier, weil ich in den letzten Jahren Scheiße viel Geld verdient habe. Ich kann es mir leisten."

Blanke Gesichter auf dem Rückflug, in sich gekehrt starren die meisten auf ihre Handschuhe. Keiner spricht. Die Hysterie der Anreise ist mit einem Mal verflogen. Von nun an geht es nur noch abwärts. Die Basis am Nordpol bereitet sich in den nächsten Tagen -auf ihren Untergang vor. Die ersten Zelte werden eingepackt. So schnell Barneo entstand, verschwindet es wieder. Die beiden Raupenfahrzeuge, die zum Planieren der Landebahn dienen, lassen sie stehen. Sie werden im Sommer im Meer versinken. Eine letzte Passagiermaschine holt Ende April die Besatzung, noch einmal kreischen die Turbinen über den gefrorenen Ozean.

Nur der Müll bleibt zurück und die Stille.

 

 

 

 

 
             
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PHOTOGRAPHIE
Thomas Ulrich, Interlaken
www.thomasulrich.com