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PHOTOGRAPHIE Toby Binder

Das Sterben der Mütter


In vielen Ländern der Welt gibt es für Frauen nichts gefährlicheres als: schwanger zu werden. Die Geschichte einer Geburt in Sierra Leone.



 


"Du löscht sie aus wie einen Traum in der Nacht."
Psalm 90,5.

 

Ihre Fingernägel kratzen über die Wand, die schwarz und speckig ist von den Händen unzähliger Frauen. Sie krallen im Putz, brechen kleine Körnchen aus ihm und ziehen von oben nach unten eine helle Bahn. Haltlos fällt der Arm hinab auf den gekrümmten Körper. Die 20-jährige Fatmata Kammal windet sich auf einem Bettgestell, ausgezehrt, mit zitternden Beinen, in der 41. Woche schwanger. Sie dreht den Kopf steil in den Nacken und würgt die Kiefer auseinander. "Gott komm näher," keucht sie, "lieberlieberlieber Gott." Die Wehen haben vor zwei Tagen begonnen, sie blutet seit zwei Wochen, und schon längst hätte Fatmata das Baby bekommen sollen. Der Boden unter ihrem Bett ist bedeckt von Urin, Erbrochenem und blutiger Watte. "Pressen!", rufen die alten Frauen, ihre Geburtshelferinnen, die jetzt immer nervöser auf die Schwangere schauen. Drei von ihnen haben sich in dieser dunklen Kammer versammelt, dem Ort, an dem sich das Leben und der Tod berühren.

"Pressen!", rufen die alten Frauen. Das Kreischen Fatmatas dringt durch die Fenster auf den Dorfplatz hinaus und mischt sich ins fröhliche Kindergeschrei der Provinz Kailahun im Südosten Sierra Leones. Es ist Anfang März, ein Montag, kurz nach 14 Uhr. Eine halbe Stunde zuvor hatte ein neunzehnköpfiger Tross aus Mutter, Tanten und Geburtshelferinnen die Schwangere zum staatlichen Gesundheitsposten des kleinen Zentralortes Bandajuma gebracht. Ein Steinhaus mit halbzerrissenen Aufklärungsplakaten und einem Gemüsebeet zur Selbstversorgung der Krankenschwester. Die Familie war am späten Vormittag vom sechs Kilometer entfernten Nachbarort Yendema hierher aufgebrochen. "Wir müssen nach Bandajuma zur Schwester Hawa", drängten die Frauen. "Nur Gott und Hawa können noch helfen."

Das Sterben der Mütter ist eine der größten Katastrophen unserer Zeit, kaum eine fordert so viele Opfer. Sie erzeugt keine Schlagzeilen - aber Millionen von Witwern und Halbwaisen. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation sterben 536 000 Schwangere jedes Jahr, mehr als die Hälfte davon in Afrika. Während 2008 in Deutschland bei 682 514 Entbindungen 36 Frauen ums Leben kamen, registrieren Hilfsorganisationen die weltweit höchste Müttersterblichkeit im westafrikanischen Sierra Leone. Eine von acht überlebt dort die Geburt nicht. Die Frauen gehen an Infektionen zugrunde, sie verbluten, weil die Nachgeburt in ihnen vergessen wurde. Sie krepieren an und mit ihrem Baby, weil sie keinen Kaiserschnitt bekommen. Weil ihre inneren Organe versagen. Weil unwissende Geburtshelferinnen mit den falschen Medikament zur falschen Zeit die Wehen einleiten. Oder der Weg zum nächsten Krankenhaus einfach zu weit ist. Hier in Sierra Leone gibt es nichts, was für eine Frau lebensbedrohlicher ist als: ein Kind in sich zu tragen.

Die Füße knickten ihr ein, als Fatmata hinter dem mächtigen Colanuss-Baum, der ihr Dorf überragt, den Pfad in die Wälder nahm. "Du willst doch nicht hier im Busch gebären?!", trieben sie die alten Frauen voran, wenn die Schwangere vor Erschöpfung auf die Knie sank. Fatmata selber wurde von ihrer Mutter auf einer Bastmatte zur Welt gebracht. Sie lebt seit anderthalb Jahren mit dem Bauern Fomba Kamor, der ihnen am Ortsrand eine kleine Lehmhütte baute. Stumm läuft der 29-Jährige dem Zug der Frauen hinterher. Er ist ein verbissener Arbeiter, wie kaum ein anderer im Ort, der alles aus seinen Feldern herausholen will. Kasava-Pflanzen bauen Fomba und Fatmata an, Reis und Palmfrüchte. Für beide ist es die zweite Ehe, auch das zweite Kind. Zur Zeit scheint es nicht so gut um ihre Beziehung bestellt, Fomba und Fati streiten sich häufig. Sie ist eifersüchtig, er wirft ihr vor, bei der Feldarbeit faul zu sein. Nach der Geburt, hofft er, wird etwas mehr Frieden einkehren. Wird es alles besser werden.

Der Weg schickt sie durch drei Sümpfe, auf schmatzender Erde, durch die bei jedem Schritt das Wasser drückt. Es riecht nach Verwesung und Moder auf diesem Pfad, der oft nicht breiter ist als zwei Paar Sandalen. Ameisen bissen ihre Beine wund, Wurzeln ließen sie stolpern. Zwei Stunden dauerte es, bis sie den Fluss erreichten, fünf Meter breit, über den nur eine quer liegende Palme führt. Braunes Wasser wälzt unter ihr, auf ihrem Stamm muss jeder für sich alleine balancieren. "Es ist nicht mehr weit", sagten die alten Frauen. Fatmata kauerte sich ans Ufer und weigerte sich weiterzugehen. Schlug um sich, wenn sie jemand an die Hand nahm. Wand sich unter einer Wehenwelle. Raffte sich dann auf, setzte ihre Füße vorsichtig auf die Palme und stand schließlich vor Schwester Hawas Tür. Meistens ist die nicht da, aber Fatmata hatte Glück. Hawa war da. Doch auch sie weiß jetzt nicht, was tun.

Das Kind ist lange überfällig. Es ist zu groß und Fatmatas Becken zu zierlich, sieht Schwester Hawa. Folge einer Mangelernährung in ihrer Kindheit. Den Wehen gelingt es nicht, das Baby durch dieses schmale Nadelöhr hindurchzuzwängen.

Das Hörrohr drückt sie sanft auf die Schwangere, die Blicke der beiden Frauen treffen sich über dem Bauch. Unter dem tosenden Herzschlag der Mutter erlauscht Hawa den leisen des Kindes. "Es lebt noch", sagt sie. Zwölf Dörfer mit knapp 15 000 Einwohnern betreut die 29-Jährige. Ein ganzes Netzwerk aus solchen Gesundheitsposten liegt über Sierra Leone. Laut Gesetz müssen alle Frauen im Umkreis bei Hawa gebären, doch ist ihre Station weit weg von den meisten Dörfern. Tatsächlich kommen sie nur in Notfällen zu ihr. Sie hat eine Ausbildung von ein paar Monaten absolviert, bei der ihr einige medizinische Grundsätze beigebracht wurden. Monatlich 50 Dollar zahlt ihr das Gesundheitsministerium, selten bekommt sie das Geld. Hawa stülpt die Hände in ihr einziges Paar Gummihandschuhe. "Ich möchte fühlen, wo der Kopf des Babys ist", sagt sie und greift in die Scheide Fatmatas. Die Handschuhe sind eben noch von den alten Frauen zum Aufwischen von Erbrochenen benutzt worden, und sonst wäscht Hawa sie vor Gebrauch mit Seife ab. Dieses Mal hat sie es vergessen. "Es ist noch sehr weit drin", sagt Hawa und verlässt den Raum.

"Mamie", wimmert Fatmata und packt eine Geburtshelferin, zerrt sie am Hemd zu sich heran. "Hilf mir!" "Ich kann dir nicht mehr helfen", sagt Mamie Momoh, 50, hartkantig, glasiger Blick, die sie durch die ganze Schwangerschaft begleitete. "Du musst es alleine tun, du und Gott." Momoh hat ebenfalls seit zwei Tagen nicht geschlafen, heute nichts gegessen. Sie gehört der Berufsgruppe an, der das Müttersterben in Afrika hauptsächlich angelastet wird. Die Geburtshelferinnen haben selten eine Schule besucht, vererben ihr Wissen durch die Generationen. Sie machen viele Fehler, arbeiten nur mit Hörrohr und nackten Händen, aber sie sind die einzigen, die sich kümmern. Auch jetzt. Denn meistens ist Krankenschwester Hawa nicht zu sehen. Im Grunde mag sie ihren Beruf nicht, er widert sie an, das erzählt sie jedem. Aber er ist einer der wenigen, für den sich Frauen in Sierra Leone schulisch ausbilden lassen können. Hawa liegt mit ausgestreckten Beinen vor dem Haus und sieht, wie die Sonne hinter dem Horizont versinkt.

Die Nacht fällt über das Land, das schon vor Jahren aufhörte, zu existieren. Nach dem Bürgerkrieg und bis zu 200 000 Toten ist Sierra Leone wie ausgelöscht. Ein Staatsgebilde, niedergerissen bis auf die Grundmauern. Zwischen 1991 und 2002 wurde die Vorzeigenation Westafrikas mit ihren Musteruniversitäten von Armeen aus Kindersoldaten zermalmt. Unter Drogen hackten sie den Menschen die Hände ab, die Arme, schnitten ihnen die Lippen von den Mündern. Fatmatas Familie rettete sich nach Liberia, ihr Mann Fomba ging nach Guinea. Bei ihrer Rückkehr klaffte dort, wo einst ihr Dorf stand, eine leere Waldlichtung. In acht Jahren haben sie ihre Heimat wieder aufgebaut, ohne Hilfe. Sierra Leone gilt heute als eines der ärmsten Länder der Welt, 70 Prozent der Menschen leben von weniger als einem Dollar am Tag. Was früher Stein war in diesem Staat, ist heute Lehm.

Nackt stemmt sich Fatmata auf, mit zu Fäusten gekrümmten Händen. Ihr Kopf hängt zwischen den Schultern. Ein Zittern durchläuft die Arme, als sie langsam ihren Oberkörper aufrichtet. Die vier Geburtshelferinnen treten an sie heran, legen schweigend ihre Handflächen auf ihren Kopf. Andere Frauen kommen dazu, stellen ihr einen Plastiktopf mit gesegneten Süßigkeiten auf den Scheitel, berühren sie. Fatmata schließt die Augen. Sie beten. Die Gemeinschaft der Frauen. Es sind sehr alte Gebete in einer Sprache, die sie längst nicht mehr verstehen. Danach kippt Fatmata um. Die Geburtshelferinnen hocken sich wieder an den Bettrand, wo sie ihre knorrigen Finger kneten.

Die Familie kauft Kerosin für die Lampe, die in der Kammer angezündet werden soll. Es gibt hier kein anderes Licht. "Was ist das nur für ein Kind, das mir solche Schmerzen bereitet?", flüstert Fatmata und rammt ihre Beine gegen die Mauer. "Du solltest Buße tun!", rät Mamie Momoh. Gott strafe die Schwangere für ihr wildes Temperament. "Bitte deinen Mann um Vergebung", drängt Momoh. "Du hast ihn gedemütigt. So oft hast du ihn beschimpft." Draußen vor dem Fenster sinkt Fomba auf die Knie und betet für die Erlösung seiner Frau. Doch Fati hört sie alle nicht, sie hört nur ihr eigenes gellendes Schreien.

   


Die Zeit, die Mutter und Kind bleibt, schwindet. Es ist gegen 20 Uhr. Schwester Hawa drängt die Familie. "Bei mir wird sie sterben. Ihr müsst sie ins Krankenhaus bringen." Die Schwangere auf der Pritsche hebt den Kopf. "Das ist viel zu teuer." Ihre Familie besitzt keine Ersparnisse. "Dein Leben ist doch wichtiger als das Geld!", ruft Hawa. Der Familienrat entscheidet, das Angebot des NIDO-Teams anzunehmen und mit dem Jeep der Reporter ins 25 Kilometer entfernte "Nixon Memorial Methodist Hospital" in der Kleinstadt Segbwema zu fahren. Dort gibt es eine Entbindungsstation und die einzige qualifizierte Hebamme in 80 Kilometern Umkreis. 300 Meter vor dem Ziel erleidet Fatmata einen Anfall, ihre Augen drehen ins Weiße, Schaum quillt aus dem Mund, ihre Muskeln zucken und werden starr.

Der Wagen erreicht Minuten später das Gebäude des Geburtentrakts. Sie scheint verloren. Marianna Kamara, die Mutter Fatmatas, die während der Fahrt neben ihr gesessen hatte, hält den reglosen Körper im Arm. "Tu uns das nicht an, Fati! Lass uns nicht alleine!", schreit sie im Wagen. Weinend wirft sie sich auf die Erde, schlägt mit den Fäusten in den Staub. "Mein Juwel! Mein kleines Mädchen!" Eine ältere Schwester rennt außer sich auf und ab. Die Augen schockgeweitet. "Fati ist tot!", schreien Tanten, Nichten, Schwestern. Sie raufen sich die Haare. "Fati ist tot!" Sie brüllen in die Nacht, sie brächten sich um. Ihr Ehemann Fomba legt Fatmata auf dem Boden ab. Sie atmet noch.

Doch das Nixon Memorial, das ihre Rettung sein soll, bietet Hoffnung nur in geringen Dosen. Stolz auf einem Hügel gelegen, von den britischen Kolonialherren in den Dreißigerjahren errichtet, in der Folge immer weiter ausgebaut, galt das Nixon als modernste Klinik der östlichen Landeshälfte. Die Erinnerung daran ist geblieben, mehr nicht. Die Kriegsjahre verwandelten den Bau in eine Ruine, Gras überwucherte das Gelände, und im OP-Trakt von einst nisten die Schlangen. Jetzt operieren sie im Nixon in der früheren Mitarbeiter-Kantine, das Chirurgie-Besteck wird zum Sterilisieren in heißem Wasser abgekocht. Es gibt einen Arzt und eine Hebamme, die sich jedoch um Fatmata nicht kümmern kann. "Ich bin müde", sagt sie schroff, als sie telefonisch benachrichtigt wird. "Ich habe den ganzen Tag vor lauter Arbeit nichts gegessen. Ich kann nicht kommen."

Der Himmel öffnet sich, es bricht aus ihm heraus, Regen, der in Bachstärke vom Krankenhausdach schäumt. Blitze erhellen kurzzeitig die unbeleuchteten Innenräume. Fatmata liegt auf der endlich aufgetriebenen Bahre. Der diensthabende Krankenpfleger steht neben ihr und erbittet von der Familie zunächst eine "persönliche Geste", bevor er sich dem Notfall widmen könne. Er will bestochen werden. Lustlos setzen sich die Schwesternschülerinnen in Bewegung, erstes Ausbildungsjahr, es gibt im Entbindungstrakt zehn von ihnen. Sie rennen nicht, sie schreiten in ihren blauen Uniformen. Fatmata hat eine sogenannte Eklampsie, hochschießenden Blutdruck und Krampfanfälle. In Sierra Leone verläuft diese Krankheit häufig tödlich. Ihr Gehirn wird unterversorgt. Das Kind ebenfalls. Dringend bräuchte sie eine Magnesiumsulfat-Injektion, um die Muskeln zu lösen, dazu einen Kaiserschnitt. Sie wird im Kreißsaal auf eine Pritsche gelegt und bekommt stattdessen: nichts.

Die Todesrate im Nixon Memorial ist hoch. Hier starben im Jahr 2009 zwölf von 125 Patientinnen. Am geringsten sind die Überlebenschancen von Frauen, die zur Nachtschicht eingeliefert werden. Der Krankenpfleger überlässt Fatmata den Schwesternschülerinnen, er flirtet mit ihnen, füllt Formulare aus, dann geht er schlafen. Die in Lebensgefahr Schwebende hat er nur einmal kurz angeschaut. "Ich kann euch nicht mehr ertragen", herrscht eine Schülerin Fatmatas Mutter und ihre Geburtshelferin an und wirft sie aus dem Kreißsaal. Nun gibt es niemanden mehr, der der Schwangeren Aufmerksamkeit schenkt. Der Raum ist erfüllt vom Scherzen, Lachen, Kichern der Auszubildenden – und dem Schreien des Mädchens. "Du darfst nicht so schreien", tippt eine Schülerin mit der Fingerkuppe auf ihr nacktes Fleisch, "dann wirst du hässlich, hässlich, hässlich." Wenig später fließt Blut aus Fatmatas Mund.

Die Sehnen heben sich zentimeterdick aus ihrem Hals, der Kopf biegt sich zurück, die Beine strecken sich, dass die Knie knacken. Ein zweiter Anfall, gegen neun Uhr. Die zehn Auszubildenden unterbrechen das Blödeln, jemand weckt den Krankenpfleger. "Schnell", sagt er. Fatmata hat sich im Krampf in ihre Zunge verbissen, daher das Blut, an dem sie jetzt zu ersticken droht. "Schnell", sagt er wieder. Jeder Atemzug gurgelt in der Luftröhre. Die Auszubildenden drücken die zuckenden Beine auf die Pritsche. Er zieht endlich eine Spritze des Magnesiumsulfat auf, schickt eine Schülerin ins Labor, um einen Esslöffel zu holen. Sticht die Nadel in die Hüfte der Starren, lässt die Schülerin mit dem Watte umwickelten Löffelstiel den verbissenen Kiefer aufbrechen. Sie schafft es alleine nicht, andere treten hinzu, halten den Kopf, zu dritt, zu viert. Dann gelingt es ihnen, und das Gurgeln wird schwächer, bis es verklingt.

Schweigend sammelt sich die Familie an der Glastür zum Kreißsaal, die ist mit weißer Farbe bestrichen, doch gibt es Risse. Durch die starren sie, im Stehen, in der Hocke, auf dem Bauch liegend. Fatmatas Mutter drückt ihr Gesicht an das Glas, legt ihre Hände darauf. Marianna Kamara ist unter den Frauen bereits eine Art Kriegsveteranin. Die 40-Jährige hat die Kinderphase lebend überstanden, sechs Geburten, ganz knapp die von Fatmata. "Zwei Tage lang", sagt sie. "Solche Schmerzen." Doch viele andere um sie herum waren verstorben, Nachbarinnen, Frauen, die sie von der Feldarbeit kannte, erst neulich eine Cousine wieder. "Aber nicht Fati," sagt die Mutter an der Glastür. "Nicht sie." Das Kinderkriegen schlägt größere Lücken in die Frauenjahrgänge Sierra Leones als sie der Krieg in die Reihen der Männer jemals riss.

Die Krämpfe flauen ab, geben Fatmatas Körper wieder frei. Sie dämmert dahin, glaubt, sie sei zu Hause, in der Hütte in ihrem Dorf. Die Fruchtblase platzt kurz vor Mitternacht. Der Krankenpfleger zieht die Gummihandschuhe an. Er horcht mit dem Hörrohr, das Baby lebt, ist aber noch tief in der Mutter. Die immer erschöpfter wird. Die Wehen werden schwächer. Wieder und wieder krümmt sie sich in den nächsten Stunden auf ihrer Pritsche, bäumt sich auf. Sie schreit längst nicht mehr, sondern wimmert nur. Liegt oft reglos da wie ein Opferlamm auf der Schlachtbank. "Vielleicht", sagt der Krankenpfleger gegen 2.40 Uhr, "ist es schon zu spät für das Kind." Er beugt sich zu Fatmata hinunter und spricht ihr ins Ohr. "Streng dich an. Du kriegst sonst einen Kaiserschnitt. Der wird deine Familie ein Vermögen kosten." Den Erlös einer ganzen Jahresernte.

Das ist der Grund für die große Leere im Nixon Memorial, die vielen unbelegten Betten. Wie verloren bewegen sich die wenigen Patienten zwischen ihnen. Während draußen die Menschen darben, einfachste Leiden nicht kurieren können, langweilt sich hier das Pflegepersonal. So ist es überall in Sierra Leone. Es gibt Krankenhäuser, aber nur wenige gehen hin. Nur wenige können sie es sich leisten. Es muss in bar bezahlt werden, jede Kanüle, jede Handreichung. Die als Notfälle Eingelieferten werden so lange im Krankenhaus gehalten, bis ihre Familie sie auslösen. Im Entbindungstrakt des Nixon Memorial lebt seit über drei Monaten eine Frau mit Säugling, die der Klinik 80 Euro für einen Kaiserschnitt schuldet. Ihr Mann, ein Diamantenschürfer, kam zum letzten Mal vor Wochen vorbei. Sie ernährt sich von Essenresten der Schwesternschülerinnen. "Ich habe daran gedacht, einfach wegzulaufen", sagt sie. "Aber ich habe Angst vor den Schwestern. Sie würden mich finden." Deshalb bleiben die Menschen in den Dörfern. Der Tod dort ist günstiger als der hinter Klinik-Mauern.

Die einzige Ausnahme im Land ist die Klinik der französischen Hilfsorganisation "Ärzte ohne Grenzen" im Distrikt Bo, vier Autostunden entfernt. Die Behandlung ist kostenlos, die 21 Betten im Entbindungstrakt sind häufig doppelt belegt. Aus allen Landesteilen kommen verzweifelte Frauen. Doch selbst diese letzte Zuflucht ist bald keine mehr. Die Helfer, auf Krisen spezialisiert, ziehen sich in zwei Jahren zurück - wie viele andere Organisationen, die das Land bereits verlassen haben. Denn in Sierra Leone wird seit vielen Jahren nicht mehr gekämpft. Es gilt nicht länger als Krisengebiet. Die Frauenärztin Greetje Torbeyus – wohl die einzige im ganzen Land - ist bei "Ärzte ohne Grenzen" jeden Tag davon umgeben. "Die Zustand der Frauen ist hier viel schlechter als etwa im Kongo", sagt sie. "Die Komplikationen sind ernster. Die Frauen kommen, wenn sie sich fast zu Tode geblutet haben." "Ärzte ohne Grenzen" suchen eine Hilfsorganisation, die das Krankenhaus übernimmt. Bisher hat sich noch keine gefunden.

Unweit des Nixon Memorial steht der Sarg am Altar der methodistischen Kirche, die Trauergemeinde trägt weiß. Es ist der Tag, bevor Fatmata im Kreißsaal mit dem Leben ringt. "Sehr bald werdet ihr an ihrer Stelle sein", zeigt der Priester auf den aufgebahrten Sarg. Darin liegt die Frau eines hohen Regierungsbeamten. Sie ist mit 37 in der Hauptstadt Freetown während ihrer vierten Schwangerschaft gestorben und wurde von ihrem Mann in ihre Heimat überführt. Er klammert sich an den Sarg, so wie sich die kleinste seiner Töchter an ihn klammert. Sechs ist sie neulich geworden. Sie weicht nicht von seiner Seite. "Ich weiß nicht, wie es jetzt weitergehen soll", sagt er und klopft weinend auf den Sargdeckel. "Sie hat mich geliebt." Freunde lösen ihn vom Sarg, und der Priester zitiert die englische Übersetzung von Psalm 90,5. "Du löscht sie aus wie einen Traum in der Nacht." Der vergängliche Mensch. Das ist der Trost, der ihnen in dieser Kirche bleibt.

Das Leben bricht aus Fatmata hervor. Eine letzte Kraftanstrengung drückt den Kopf hinaus, ein letztes Schreien presst die Schultern heraus. Der Krankenpfleger umfasst behutsam den Leib des Babys. Die Uhr im Kreißsaal steht auf 3.47 Uhr.

Es ist ein Mädchen.

 

 

 
               
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Toby Binder, München
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