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Das Tor zur Hölle

 
 

PHOTOGRAPHIE Martin Specht

Die zerstörte Hoffnung. Ein Besuch in Bagdad nach dem Abzug der US-Truppen.

 


Der Druck der Detonation hebt den Staub von der Straße. Er schlägt wie eine Faust auf die Ohren, reißt hart am Trommelfell. Ich schreie. Putz platzt von den Wänden. Die Luft im Zimmer färbt sich weiß. Der Stuhl, auf dem ich sitze, schleift mit einem Ruck über den Boden. Meine Knie zittern. Ich höre den Übersetzer neben mir, dumpf nur, er brüllt. Es ist wenige Momente her, da haben wir das Verlagsgebäude der Tageszeitung al-Mada betreten, Bagdad, mitten im Stadtzentrum. Durch den Staub sehe ich jetzt Redakteure, die hinaus auf die Straße rennen, fahl, unverletzt aber, nervös an Zigarettenschachteln ziehend. "Eine Autobombe vor dem Gebäude", sagt der Übersetzer. "Eine Straßenbombe", widerspricht ihm der Chefredakteur. "Ich hab das im Gehör." Jemand hat sie über Nacht als Müll getarnt auf die Fahrbahn gelegt.

Das Warten beginnt, die Redakteure drücken sich an die rückwärtige Mauer des Verlages. Nach der ersten Explosion folgt in Bagdad oft eine zweite. Eine größere. Die Minuten vergehen. Mein Trommelfell schmerzt, ich hoffe, es ist nicht eingerissen. Das Ziel des Anschlags wird sichtbar, als der Staub sich senkt. Kreuz und quer stehen zerstörte Fahrzeuge auf der Straße, der Konvoi eines schiitischen Politikers, dazwischen Verletzte, sechs werden gezählt. Prellungen. Schnittwunden. Kein Toter. "Mein Auto ist kaputt!", ruft ein al-Mada-Angestellter. "Gottverdammt. Das zweite in drei Jahren! Ich habe keine Ersparnisse mehr." Er weint. Die Redakteure schauen auf die Straße, saugen am Nikotin. Schnippen die Zigaretten weg, einer nach dem anderen, und gehen zurück ins Büro. Die zweite Bombe scheint auszubleiben, und der Andrucktermin drängt.

Ich bin an diesem Tag in die Stadt zurückgekehrt, die ich vor einem Jahr verlassen habe, dieses Konglomerat bröselnden Zements, durch das sich der Tigris in Mäandern seine Bahn bricht. Ein Ort ohne Kontur, über den fortwährend dunkle Schleier der Sandstürme jagen, Winde aus dem Westen, als würde sich alles in Auflösung befinden. 5,4 Millionen Einwohner. Das "Geschenk Gottes" nannten es seine Gründer. "Ein Loch voller Scheiße", sagt unser Übersetzer beim Warten im Stau. Bagdad ist die Stadt, in der der Krieg gegen den Frieden kämpft, die Hoffnung mit der Verzweiflung, die Zukunft mit der Vergangenheit. Es ist die Stadt, auf die die Welt schauen muss, wenn sie wissen, was dem Ende eines Krieges folgt: ein Anfang oder ein Untergang?

Die Kollegen von al-Mada haben dem Fotografen Martin Specht und mir ein Versteck eingerichtet, eine fensterlose Kammer, darin zwei Feldbetten und ein Kühlschrank. Für die nächsten zwei Wochen fühle ich mich hier sicherer als in einem Hotel. Es heißt, das Entführungsrisiko für Ausländer sei in den letzten Wochen drastisch gestiegen. Unser Versteck wird bewacht von einem halben Dutzend Soldaten der Präsidentenbrigade, denn der al-Mada-Verleger Fakhri Kareem ist Berater von Staatsoberhaupt Dschalal Talabani. "Was meinst du?", fragen die Wachen nach einigen Tagen den Übersetzer. "Die Leute haben doch Humor. Wir haben überlegt, sie aus Spaß heute Nacht mit Masken zu überfallen." Der Übersetzer überredet sie, von dem Jux noch einmal abzusehen.

Im achten Jahr nach der US-Invasion hat sich Bagdad in seinen Alpträumen eingerichtet. Die Stadt zog sich zurück in eine Architektur der Angst, ein gigantisches Labyrinth aus MG-Stellungen und Sprengschutzmauern, die Straßen verengen oder erweitern, sie abschneiden, meist in Sackgassen führen. Künstler bemalen sie mit Graffiti. Es gab eine zarte Zuversicht in den vergangenen drei Jahren, doch dreht sich die Stimmung erneut. In der 30-köpfigen al-Mada-Redaktion bestimmt die Angst das Arbeiten. "Der Druck ist enorm", sagt Nizar Abdul Sattar, Chefredakteur der Zeitung, die übersetzt "der Horizont" heißt, die größte private des Landes ist und auch eine der unabhängigsten. Bislang. "Wir können nicht mehr so kritisch berichten wie vor einem Jahr." Todesdrohungen häuften sich, und Ministerien entzögen Anzeigen. "Ich muss bei der Vergabe von Recherche-Aufträgen immer vorsichtiger sein." Bereits im September wurden in 2010 mehr Journalisten im Irak ermordet als im gesamten Vorjahr. Die Gewalt in der Stadt nimmt wieder zu. Milizen aller Lager stocken ihre Waffenarsenale auf. Der Abzug der US-Kampftruppen und die Parlamentswahlen Mitte März erzeugten ein Machtvakuum. Noch immer haben die Parteien keine Koalition geformt. Die Regierung ist handlungsunfähig. Mit jedem Tag schwindet so die Ordnung, die gerade mühsam restauriert wurde.

Nach dem Sturz Saddams erlebt die Stadt ihre zweite Stunde Null. "Das Tor zur Hölle steht wieder weit offen", sagt mir ein irakischer Militär. "Die Frage ist, ob wir hindurchgehen."

Die Frau, die ich im untersten Flur des Zentralkrankenhauses treffe, an der Tür, die niemand jemals öffnen will, betritt die Hälle regelmäßig, weil auch sie auch dort noch Hoffnung sucht. Sie zögert einen Moment, dann drückt sie die Klinke. Die 36-jährige Iqbal Hashim geht in einen Raum mit gleißendem Neonlicht, hell, dass die Augen brennen. Blaue Plastikstühle stehen hier, in sechs Reihen gestaffelt. In ihnen kauern die Menschen wie erstarrt, die Finger auf die Lippen gepresst. Als sich Hashim setzt, nimmt keiner Notiz von ihr. Frauen drücken Zipfel ihrer Kopftücher gegen die Wangen. Ein Greis beugt seinen Nacken, hält den Kopf zwischen den Händen, und zwingt sich, erneut hinzusehen. Das zu sehen: Gedärm, zerschnittene Kehlen, breiiges Fleisch. Aufgerissene schwarze Münder. Kadaver von Gefolterten, durch deren Augen Löcher mit Bohrmaschinen getrieben wurden. Vier Flachbildschirme an der Wand zeigen die Fotografien der unbekannten Toten Bagdads, nach Monaten und Jahren sortiert. Mehr als 20 000 Namenlose sind auf der Festplatte des Klinikcomputers gespeichert. Iraks Bürokratie nutzte die relative Ruhe der letzten zwei Jahre, um das Grauen zu ordnen und zu nummerieren. Die Bilder sind unmittelbar nach Einlieferung in der Leichenhalle aufgenommen, eine Draufsicht, ein Profil. Das besagt die Vorschrift.

Was früher zu riskant war, wagen die Menschen jetzt. Zu suchen, was sie verloren. Iqbal Hashim sucht ihren Mann Mohammad, Vater ihrer beiden Töchter, der vor drei Jahren aus einem Reisebus heraus entführt wurde. Die Bilder auf den Schirmen wechseln im Sekundentakt. Foto 3831, ein blutiger Torso in einer Plastiktüte. Foto 3832, Jugendlicher mit Einschuss an der linken Schläfe. Foto 3833, zwei nackte Füße, am Schienbein abgetrennt. Der rechte Fuß trägt ein Herz-Tattoo. Hashim kommt alle sechs Wochen zur Vermisstenstelle des rechtsmedizinischen Instituts. Sie weigert sich, die Hoffnung aufzugeben. "Habt ihr schon die Bilder vom September?", fragt sie den Angestellten am Computer, der gähnend den Strom der Leichen regelt. Er spricht mit auf den Handballen gestützten Kiefer. "Ich zeig sie dir." "Halt", sagt plötzlich ein Familienvater aus einem Dorf in der sunnitischen Provinz al-Anbar. Seine Frau und fünf Kinder seien von al-Qaida gekidnappt wurden, erzählte er mir zuvor. "Kann ich noch einmal das Bild 4327 sehen?" Es zeigt einen Zehnjährigen mit gefesselten Oberarmen.

Der Vater tritt vor den Bildschirm, rückt näher, so nahe, dass er die Oberfläche fast berühren kann. Er reibt sich das Kinn. Die US-Truppen glaubten, er baue Bomben für al-Qaida, und sperrten ihn ein. Al-Qaida verdächtigte ihn, im Gefängnis mit den Amerikanern zusammenzuarbeiten, und raubte seine Familie. Es sind Opfer und Täter, die sich im Raum der unbekannten Toten die Sitzplätze teilen, Sunniten und Schiiten, Anhänger unterschiedlicher Gruppierungen. Hier starren sie alle auf die Monitore, und niemand kann sich dem Entsetzen entziehen. "Dieser Ort kennt keinen Glauben", flüstert der Witwer. Er hat in der Leiche doch nicht seinen Sohn erkannt. "Keine Würde. Nichts ist hier. Nichts Menschliches." Auch Iqbal Hashim findet unter den September-Toten keinen, der ihrem Mann ähnelt. Sie kehrt zurück in ihr Zuhause, das keines mehr ist. Sie lädt uns dorthin ein. Wir verabreden uns für den nächsten Tag.

Zu viert fahren wir in einem staubigen Audi durch die Stadt, ungepanzert und ohne Begleitschutz. Sehen durch die Risse der Frontscheibe auf den stockenden Verkehr. Ein Freund unseres Übersetzers sitzt am Steuer. Er ist Mitglied der Bundespolizei und hat, wie er uns jetzt erzählt, seinen Vorgesetzten bestochen, um die Tage freizubekommen. Die Bewohner Bagdads nennen Männer wie ihn einen "Geisterpolizisten". Offiziell sind sie Polizisten, tatsächlich aber arbeiten als sie Tankwart, Mechaniker oder private Bodyguards. Es gibt auch "Geistersoldaten", die Bezüge der Fehlenden laufen weiter, werden geteilt zwischen Vorgesetztem und Soldat. So hat jeder etwas davon, nur nicht der Irak. Der sieht sich auf diese Weise – wie hochrangige Generäle beklagen – um die Hälfte der Truppen beraubt. Was den fragilen Staat noch fragiler macht.

Die Nachbarn schauen auf uns, als wir ankommen, das ist nicht gut. Wir beschließen, nur kurz zu bleiben. Iqbal Hashim führt uns in ihr Haus, in dem zwei Brüder ihres Mannes warten, seine Mutter, die Kinder. "Die Kleinen denken", sagt sie, "dass Papa im Ausland ist. Sie verstehen es nicht." Iqbal Hashim versteht es ja selber nicht, was geschehnen ist am 29.März 2007. Zusammen mit einem älteren Bruder und dessen Sohn befand sich Mohammad an diesem Tag auf der Rückfahrt von Syrien, in einem Konvoi aus Reisebussen. Um 6.15 Uhr rief er die Familie an, er käme bald, er habe Geschenke für die Kinder. Zehn Minuten später zogen ihn sunnitische Bewaffnete als "Ketzer" auf die Straße. Teile seines Namens klangen schiitisch, sein zweiter und dritter Vorname, Mohammad Abdul Amir, er versuchte, zu argumentieren, bettelte, umklammerte den Bruder. Die Entführer verschonten den einen, des mitreisenden Kindes wegen, und nahmen den anderen. Warfen ihn in den Kofferraum eines Pkw. Seit diesem Tag hat Iqbal Hashim in ihrer Wohnung nichts verändert.

Die Anzüge hängen gebügelt im Kleiderschrank des Schlafzimmers, die Schuhe ihres Mannes stehen neben der Anrichte. Hochzeitsbilder an den Wänden. Im vierten Jahr lebt sie in den Erinnerungen an Mohammad. In allem ist ihr Mann, sagt Hashim. Die 36-Jährige hat nicht wieder geheiratet. "Schau sie an", flüstert mir ihr Schwager Ahmed ins Ohr. "Sie liebt ihn noch." Sie sucht Mohammad seit drei Jahren im ganzen Land, in den Gefängnissen, den Polizeistationen. Ab und an mietet sie sich mit anderen Familien einen Kleinbus und fährt flussabwärts zu einem Ort außerhalb der Stadt, den alle nur "das Netz" nennen. Dort spannt sich von Ufer zu Ufer ein Maschengeflecht über dem Tigris. Während des großen Mordens der Jahre 2006 und 2007 haben es Anwohner aufgehängt. Um die aus Bagdad treibenden Leichen herauszufischen, sie auszurauben und die Kadaver den Familien zu verkaufen. Auch die Wasserschutzpolizei, heißt es, beteilige sich an diesem lukrativen Geschäft. Heute spüle der Fluss weniger Leichen an als früher, erzählt Hashim. Aber noch so viele, dass es sich lohne, die Reise auf sich zu nehmen.

Hashim und ihre Schwager bitten niemanden um Hilfe, denn das ist zu riskant. Sie riefen vor Monaten das Büro des Vize-Präsidenten Tarek al-Haschemi an. "Wenn es wirklich sein Büro war", hat sie mittlerweile Zweifel. Ein Offizier traf sich mit ihr und ließ sich mit einem Nokia-Handy bestechen. Er erklärte, sie hätten ihren Mann in der Datenbank gefunden, er sei am Leben, inhaftiert. Tatsächlich hatten US-Truppen in der Nähe der Überlandstraße nach Syrien gerade einige al-Qaida-Geiseln befreit. Und es kam bei solchen Befreiungen regelmäßig vor, dass die Amerikaner Peiniger und Gepeinigte durcheinander brachten, die Falschen arretierten. Also schöpfte Hashim abermals Hoffnung, zwei Jahre nach Mohammads Verschwinden. Zunächst sagte der Offizier, ihr Mann sei in Basra. Dann rief er ein weiteres Mal an und meinte, Mohammad sei in ein US-Gefängnis in Bagdad überstellt worden. Schließlich meldete er sich nicht mehr, das Telefon blieb stumm. Viele sind in ihrer Nachbarschaft entführt worden, und einige ihrer Familienmitglieder leben heute nicht mehr, weil sie sich mit denen trafen, die ihnen Hilfe versprachen. So die Nachbarin zu ihrer Linken, die nach ihrem Mann suchte, monatelang suchte, zu lange suchte, bis ihre Leiche auf einer Müllhalde gefunden wurde. Im Haus der Toten, erzählt Hashim, leben noch ihre drei Kinder, nun Vollwaisen, eine Tante kümmert sich um sie.

Die Entführung von Mohammad brachte der Familie den Niedergang. Von ursprünglich elf Brüdern leben heute sechs im Ausland. Der vorerst letzte, Hassan, ging mit Frau und Kind vor anderthalb Monaten in die USA, Virginia, trostlos, sagt Ahmed, keine Arbeitserlaubnis, Lebensmittelmarken und 350 Dollar auf die Hand. Nur einmal hat er bislang angerufen. Aber besser als hier. Er hatte für die US-Streitkräfte gearbeitet und nach deren Abzug Morddrohungen erhalten. "Unsere Mutter hat große Angst", sagt Ahmed, der die Familie als nächster verlassen will. "Wir Brüder wollen alle weg, was wird aus ihr?" Er halte es an diesem Ort nicht länger aus, ruft der jüngste von ihnen. Die Mutter weint. Er ringt mit den Händen. "Wohin ich in diesem Haus schaue, ist Elend!" Der Vater der Brüder starb vor einem Jahr an Herzversagen. Er hatte schon davor geraucht, aber nach der Entführung begann er es wie ein Besessener zu tun. Sie rauchen alle in Bagdad, unablässig, zwanghaft, als wolle ein ganzes Volk Suizid begehen.

"Rauchen ist tödlich", sagt unser Übersetzer an diesem Nachmittag. "Du musst aber das Gute daran sehen: Es verkürzt das Leben."

Die Zeit drängt, wir müssen gehen. "Schnell!", sagt Ahmed beim Abschied vor der Tür, als die Nachbarn wieder an ihren Haustüren stehen. Wir verlassen die Seitenstraßen, werden abermals eins mit dem großen Stau, der tagsüber die gesamte Innenstadt blockiert. Schritttempo. 1500 Kontrollstellen lassen den Verkehr gerinnen, ein ständiges Ausweisen. Das unaufhörliche Erdulden derselben Prozedur. Die Scheiben herunterdrehen, das Innenlicht anschalten und auf keinen Fall mit dem Handy telefonieren. Fortbewegung ist in Bagdad stets nahe am Stillstand. Ich zucke zusammen, als neben unserem Wagen ein Verkehrspolizist sein Gewehr abfeuert. Der Schuss ersetzt die Ampel, die funktioniert, die aber alle ignorieren. Seit zwei Monaten tragen auch Verkehrspolizisten automatische Waffen, weil Terrorgruppen sie plötzlich als Anschlagsziel erkannten. Dutzende von ihnen haben sie diesen Sommer erschossen. Wer es war und wieso, das sind die Fragen, auf die es in dieser Stadt meist nur Gerüchte als Antworten gibt. Und die Gerüchte widersprechen sich - wie immer.

Die Stadt ist wie ein Drogentraum, sie ist beklemmend, macht mir Angst, immer wieder, aber sie kann auch betören. Zahlreiche Restaurants haben offen, ich esse unter Kristalllüstern, werde bedient von Kellnern in schwarz-weißen Livree. Im Ausgehbezirk Karada, eines der wenigen ethnisch gemischten Viertel, wogt abends auf den Trottoirs eine dichte Menschenmasse. Die Eiscafés sind voll, überall Familien mit Kindern, die der immerwährenden Anschlagsgefahr trotzen. Drei Jahre zuvor war hier Dunkelheit, es gab kaum Menschen auf den Straßen. Jetzt zwingt sich das Leben zurück, wenn auch mühsam, von Schaufenster zu Schaufenster. "Es wird sein wie in Beirut", strahlt der Libanese Antoine al-Hage, 51, der im Mai die in Bagdad bisher spektakulärste Neueröffnung feierte. Den "Lebanese Family Club". "Niemand weiß, wann es passieren wird. Aber eines Tages wirst du die Augen öffnen, und der Krieg ist vorbei."

Hell wie eine Tiefseequalle leuchtet der neue Club am Tigrisufer. Unter seinem riesigen Tonnengewölbe ist Platz für 1200 Gäste, viel Chrom gibt es, einen haushohen Flachbildschirm und splitterfestes Glas zur Flussterrasse hin. Der Explosionen wegen. "Ich bin zur richtigen Zeit am richtigen Ort", sagt al-Hage, gegen dessen Optimismus so wenig anzukommen ist wie gegen eine Betonbarriere. "Sobald die Lage stabil wird, erlebt die Stadt einen wahnsinnigen Boom. Wir haben dann die Nase vorn." Drei Millionen Dollar investierte ein Konsortium aus irakischen und libanesischen Geschäftsleuten in den Amüsierpalast, ein "großes Risiko", gesteht al-Hage. Das Personal kommt überwiegend aus dem Libanon, gelockt von exorbitanten Löhnen. Der Chefkoch verdient im Jahr 72 000 Dollar. Er hat bislang nur wenig zu tun. Die Zunahme der Gewalt und das Machtvakuum halten den Ort meist leer. Unser Fahrer, der Geisterpolizist, entdeckt unter den wenigen Gästen den Kommandeur seiner Einheit. Er diniert auf der Galerie mit anderen Offizieren. "Der verprasst hier seine Bestechungsgelder", frotzelt der Fahrer. Finster sieht er zu ihm hoch. Er ist neidisch.

Nachdenklich steht al-Hage auf der Terrasse, die im Fluss vertäut ist. Als besondere Attraktion will er in wenigen Tagen ein Hochzeitspaar mit dem Boot hier anlanden lassen. "Einmalig in Bagdad", sagt er. Doch ist der Wasserstand zu niedrig. Dem Tigris geht seit Jahren das Wasser aus, weil Syrien und die Türkei ihm am Oberlauf zu viel entnehmen. Nur noch zwanzig Zentimeter hat das Club-Boot unterm Kiel. Das Ufer verschlammt, die Premiumlage droht zur Kloake zu werden. Die Millionenmetropole entlässt ihre Abwässer größtenteils ungeklärt vor al-Hages Partymeile. "Den Club wird es nicht lange geben", bemerkt unser Übersetzer beim Gehen. "Oder hast du gesehen, dass ihre Wachleute unser Auto nach Sprengstoff abgesucht haben?"

   


Unter dem grauen Beton der Stadt ist Gold verborgen, man muss nur etwas kratzen. Das zweite Dubai wird dann zum Vorschein kommen, irgendwann, glauben Wirtschaftsfachleute. "Das Land hat ein Riesenpotential", sagt mir Dr. Clemens von Olfers vom Deutschen Wirtschaftsbüro. Er hilft mittelständischen Unternehmen, Geschäfte im Irak einzufädeln. Ihn in Bagdad zu treffen, ist eine komplexe Angelegenheit, unterhält von Olfers doch ein Büro in der Grünen Zone. Eine Stadt in der Stadt, von der amerikanischen Übergangsverwaltung eingerichtet, mittlerweile an die irakische Regierung übergeben, Sitz von Parlament, Staatsoberhaupt und US-Botschaft. Abgeschirmt durch neun Befestigungsringe. "Muss das sein?", seufzt unser Übersetzer. Wir melden uns per E-Mail an, warten im Audi vor dem vereinbarten Tor, das den Spitznamen "kleines Anschlagstor" nicht zu Unrecht trägt. Betonwälle, Betonschleusen, Panzer, Maschinengewehre. Auf uns ruhen ein Dutzend Zielfernrohre. Es taucht ein gepanzerter Jeep auf, den von Olfers geschickt hat, um uns abzuholen. Wir passieren zwei Kontrollstellen, die Besatzung der dritten weigert sich, die Zutrittsberechtigung des Übersetzers anzuerkennen. Der schreit, springt aus dem Wagen. Ich halte ihn zurück. "Immer nur freundlich sein", rät er uns sonst für die Checkpoints. Das vergisst er nun.

Die Nerven sind in Bagdad für alles das Grundkapital. Ein Soldat droht, ihn festzunehmen. Der Fahrer kommt hinzu, hält unseren Übersetzer an den Schultern. Zu allem Unglück haben wir beim Überqueren der letzten Bodenschwelle den Tank aufgefahren. Benzin fließt heraus. Die beiden beschließen, den Wagen draußen zum Schweißen zu bringen. Der Jeep der Sicherheitsfirma, in dem wir umsteigen, setzt uns bei von Olfers ab.

So viel Öl, sagt er. Die drittgrößten Reserven der Welt. So viele Menschen, 30 Millionen, ein bedeutender Binnenmarkt. Der Abgesandte des Industrie- und Handelstages tut seit zwei Jahren das, was sich die Firmen in Deutschland nicht trauen oder nicht leisten können - hier sein. Die Zeitungen nach Projektausschreibungen studieren, Kontakte knüpfen. Im Irak hat die deutsche Industrie einen legendären Ruf. Es könnte eine schöne Aufgabe sein. Tausende deutsche Firmen hat er in seiner Kartei, viele Anfragen irakischer Unternehmen, doch selten kommen sie zueinander. "Zur Zeit ist es mühsam", sagt der 65-jährige Münsteraner in seinem schmucklosen Konferenzraum. Kahle Wände, langer leerer Tisch, durch das Fenster ist im Vorgarten der Schutzbunker zu sehen. "Wir haben seit März nur wenig Kontakte zu den Ministerien. Die Telefone sind oft abgeschaltet, und E-Mails funktionieren nicht." Der Irak ist zu 90 Prozent eine Staatswirtschaft, doch ihr fehlt es seit den Wahlen an Staat. Die Regierung hat zu großen Teilen schlicht die Arbeit eingestellt. Von Olfers geht morgens aus seinem Schlafzimmer hinüber in sein Büro, das auf gleichem Stockwerk liegt. Abends nimmt er diesen Weg zurück. Die Grüne Zone verlässt er nur ausnahmsweise, selten kann er zentrale Wirtschaftsführer treffen, schon aus Kostengründen, sagt er. Die Sicherheitsfirma, die uns vom Tor abholte, ihn und das Büro beherbergt, berechnet für einen halben Tag Begleitschutz außerhalb der Zone 2 500 Dollar extra.

Die Isolation teilt von Olfers mit einem Mitbewohner, dem Bevollmächtigten eines "führenden deutschen Industrieunternehmens", blütenweißes Hemd, entspanntes Lächeln, das manchmal erstirbt, wenn er nach draußen horcht. Fast wären sie in der Vorwoche gemeinsam in den Keller gezogen. "Da war der Beschuss wirklich schlimm", sagt er. Die Raketen ziehen über ihr Gebäude, kommen aus dem schiitischen Armenviertel Sadr City und zielen auf den Festungsbau der amerikanischen Botschaft. Zwei bis drei waren es im Frühjahr, meldet die US-Armee, inzwischen seien es bis zu dreißig täglich. "Meine Tage hier sind gezählt", sagt von Olfers Mitbewohner, der bittet, seine Firma nicht zu nennen. Zur Einweihung der Niederlassung kamen hochrangige Politiker beider Länder. Er habe anfangs euphorisch an die Zentrale in Deutschland berichtet. Es sei nicht die Sicherheitslage, die ihn vertreibe. "Unser Problem ist die Korruption. Wir haben jetzt allen unseren Händlern verboten, an die irakische Regierung zu verkaufen." Er dürfe nicht bestechen, er sei börsennotiert. Ein Minister habe von ihm offen ein Geschenk von 100 Lastwagen für seine private Spedition im Ausland gefordert. Von Olfers und er brechen immer wieder in schallendes Lachen aus. "Er soll erzählen, er soll erzählen", gluckst von Olfers und erbittet von ihm Anekdoten. Die Korruption sei in den letzten Jahren eher noch schlimmer geworden. "Verträge sind hier bestenfalls lockere Willenserklärungen." "Wir haben kein einziges Produkt realisiert." Abermals brechen die beiden Männer in lautes Gelächter aus. Es hallt noch nach, als ich ihr Gebäude verlasse.

Der Übersetzer ruft an, etwas kleinlaut, sich für die Aufregung am Checkpoint entschuldigend. Es sei nicht einfach, ständig die Willkür der Ordnungskräfte zu ertragen. Der Tank sei wieder verschweißt. Er arbeitet sonst für eine internationale Menschenrechtsorganisation, war in seinem ersten Leben bei den irakischen Special Forces, dann Übersetzer für die US-Truppen. "Ich war Gott!", sagt er. "Mein Wort hat entschieden über Leben und Tod." Es gibt Tage, da gelingt ihm die Rückverwandlung schlechter als an anderen. Unser Übersetzer ist ein Sohn dieser Stadt. So viele gefallene Götter leben hier.

Das Versteck, das der Fotograf und ich bezogen haben, die "Höhle", wie unsere Bewacher es nennen, riecht inzwischen streng nach Käse und Benzin. Ganz dusselig wird uns davon. Der Käsegestank entweicht dem abtauenden Kühlschrank, denn es gibt oft keinen Strom. Eine benachbarte Bank stellte uns einen hausgroßen Stromgenerator vor die Tür, von dort kommt das Benzin. Zudem reißen sie die Seitenstraße auf, in der wir wohnen. Es rüttelt immer etwas an unseren Feldbetten, Presslufthammer oder Benzinmotor. So ergeht es fast allen Bagdadi, wenige schlafen ungestört, viele stehen mitten in der Nacht auf, um den Hausgenerator mit Benzin aufzufüllen. Im achten Jahr der neuen Ordnung gibt es immer noch so gut wie keine öffentliche Stromversorgung. Kein sauberes Wasser. Keine Müllentsorgung. 53 Milliarden Dollar haben die USA der irakischen Regierung für Infrastruktur wie Kraftwerke und Elektrizitätsnetze gegeben, doch nachts bleibt Bagdad dunkel. Die meisten Haushalte in Bagdad haben täglich nur zwei Stunden Strom. Zehntausende gingen diesen Sommer auf die Straße, um dagegen zu demonstrieren, Sunniten wie Schiiten. Es gab Tote. Der Elektrizitätsminister trat zurück, bis heute ist sein Posten vakant. Diese Wut wird für die Regierung zur großen Gefahr. Ohne Strom ist im Irak kein Staat zu machen.

Die Fahrt zum Kraftwerk al-Dura, dem zweitgrößten des Irak, dessen vier Rauchkamine Bagdads Silhouette prägen, führt uns über eine Autobahn, die noch vor drei Jahren für Scharfschützen und Anschläge berüchtigt war. Ein Grenzgebiet zwischen Sunniten und Schiiten, Hochburg von al-Qaida. "Wir konnten jahrelang die Straße nicht benutzen", empfängt uns Chefingenieur Khalid Waleed. "Wir ruderten damals in Booten über den Tigris." Der 39-Jährige ist von kräftiger Statur, nur knapp passt er in seinen Blaumann, den Schädel kahl geschoren. Er schenkt uns in seinem Büro Tee ein, einen zweiten noch, und begleitet uns dahin, wohin er seine beiden Söhne nie mitnehmen würde. Zu riskant, sagt er.

Ein Kraftwerk ist so etwas wie das Herz einer Zivilisation, dieses hier hat viele Infarkte hinter sich. In der Turbinenhalle stürzen Wasserfälle aus großer Höhe, sie klatschen auf Betonboden, auf denen die Generatoren zur Stromerzeugung stehen. Ingenieur Waleed weicht auf seinem Weg zischenden Dampffahnen aus, die meterlang hecheln, von oben, von der Seite oft, von schräg unten manchmal. "Der Hochdruckdampf wird erst drei Meter hinter der Austrittsstelle sichtbar - passt auf", warnt er. Immer wieder verbrühen sich Arbeiter im Dickicht der Röhren. Im Untergeschoss, wo die Brenner stehen, watet Waleed in Öl. Lecks auch hier, giftige Gase entweichen aus ihnen. Die Anlage aus den Achtzigern hat drei Kriege überstanden, zwei US-Bombardements, und einen Bürgerkrieg, in dem Milizen mit Raketen und Mörsern auf sie zielten. Sie ächzt aus hunderten Rissen und Löchern. "Tausenden vielleicht", sagt er. "Die Anlage wird immer instabiler. Wir fürchten jeden Tag, Block drei und vier zu verlieren." Al-Dura produziert statt 600 Megawatt nur 350, steigert er die Leistung, weiß Waleed, fliegt ihm alles um die Ohren. Die Ersatzteile holt er sich von der Schrotthalde auf dem Werksgelände, er möbelt sie auf und baut sie wieder ein. Von den Milliarden Dollar ausländischer Hilfe hat er nichts gesehen. "Ich habe an manchen Tagen keine Lust zu arbeiten", sagt er. "Ich denke dann, es hat doch alles keinen Sinn."

Der Ingenieur sieht sich im Kern eines Knotens, der die ganze Stadt umschnürt. Damit Bagdad vollständig mit Strom versorgt werden könnte, müssten die Kraftwerkskapazitäten mehr als verdoppelt werden. Das Netz allerdings könnte die Leistung nicht transportieren, weil Überlandmasten häufig gesprengt werden. Die Umspannwerke könnten die Energie nicht in die Wohngebiete verteilen, weil sie durch die hohe Anzahl illegaler Anschlüsse häufig kollabieren. Der Verbrauch könnte in den Haushalten nicht gemessen werden, weil die wenigsten Stromzähler haben und die Häuser keine Adressen. So könnten keine Stromrechnungen zugestellt werden, um die Infrastruktur zu refinanzieren. Bisher, sagt Waleed, bezahlen nur zwei Prozent der Haushalte. Er ist auf seinem Rundweg im Kontrollraum des Kraftwerks angekommen, die meisten Lichter dort stehen auf Rot. "Es ist in Ordnung", beruhigt der Ingenieur. Auch die Kontrollarmaturen funktionieren längst nicht mehr. Der Ingenieur ist vor drei Jahren nach Schweden geflohen, um Asyl zu beantragen.

Er lebt als einziger Sunnit in einem schiitischen Viertel, die Frau ist zur Weiterbildung in Ägypten. Die Kinder, zehn und 15 Jahre alt, die dort mit ihrem irakischen Akzent gehänselt wurden, keine Freunde fanden, lässt er kaum aus dem Haus. Er hat Angst vor den grassierenden Entführungen. Kriminelle Banden haben es dieser Tage auf die Kinder der gutverdienenden Mittelschicht abgesehen. "Siemens soll kommen", fleht Waleed, dessen Kraftwerk von den Deutschen errichtet wurde. Siemens-Werbeplakate aus den Achtzigern schmücken seine Büros, sie zeigen Männer mit zufriedenem Lächeln, geborgen in einer sicheren, funktionierenden Welt, in der Strom so selbstverständlich fließt wie Wasser. Noch heute tragen sie im Kraftwerk Helme mit Siemens-Logo. "Ich sage Siemens, wir garantieren ihre Sicherheit", wirbt Waleed. "Wenn die herkommen, bauen wir denen eine hohe Betonmauer und postieren Wachen." In der Vorwoche explodierte eine Haftbombe unter dem Dienstwagen des Direktors. Er hatte ihn über Nacht auf dem bewachten Betriebsparkplatz abgestellt.

Die Wunden dieser Stadt sind nicht verheilt, sie eitern. Es gibt nicht nur einen Krieg in Bagdad, es gibt viele kleine. Den Krieg der Mafia gegen die Wechselstuben, die sie jede Woche im Dutzend überfallen und das Personal mit schallgedämpften Pistolen erschießen. Die Hatz der Heterosexuellen gegen Homosexuelle, die seit Jahresfrist zu Hunderten starben. Es sind die Ärzte und deren Privatmilizen, mit denen sie zahlungsunwillige Patienten verfolgen. Es tobt der Kampf um Posten in den Regierungsdirektionen, wo sich Beamte aus Karrieregründen gegenseitig Sprengsätze unter die Dienstwagen legen. Es gibt den Krieg der Polizei gegen Restaurantbesitzer, die an sie keine Schutzgelder zahlen. Es kämpfen nicht länger nur Schiiten gegen Sunniten und beide gegen den Rest der US-Truppen. Bagdads Kriege kombinieren sich jeden Monat neu.

"Die ruhigen Tage", sagt der Sprengstoffexperte Major Thamer Kamal, 42, "machen am meisten Angst. Dann weißt du, da draußen sind sie mit dem Bau von Nachschub beschäftigt." Die nackten Füße im Schneidersitz hockt er auf dem Sofa des Pausenraums, er hat Bereitschaft, als wir ihn treffen. Er schaut fern. Ein Fußballspiel der spanischen Liga. Die Mannschaft zur linken behält sechzig Minuten die Oberhand, drückt, presst, schießt aber kein Tor. Bald kämpft sich die Mannschaft zur rechten frei, da schrillt es im Pausenraum, zieht sich Kamal seufzend die Stiefel an. Er drückt den Plastikknopf am Türrahmen, den Alarm für seine Einheit, mit halben Daumen, im Vorübergehen. Die "Falken von Bagdad", so der Code im Funkverkehr, die Bombenentschärfer des Innenministeriums, rasen im Konvoi hinaus in den Straßenverkehr. In einem belebten Marktviertel Bagdads ist vor Minuten ein Sprengkörper explodiert, es besteht die Gefahr, dass weitere gezündet werden, mehr weiß Kamal zunächst nicht.

Der Stau ist auch sein größter Widersacher, viele Bomben explodieren, weil die "Falken" zu lange im Verkehr hängen bleiben. "Hondahonda," gellt das Megafon des Konvoi, "Straße freimachen!" "Toyotatoyota, ausweichen!" Die Maschinengewehrschützen auf dem Dächern der Jeeps nehmen störrische Verkehrsteilnehmer sofort ins Fadenkreuz. Denn oft wird das Einsatzkommando selber zum Ziel. "Hier waren wir heute morgen im Einsatz", zeigt Kamal an den Straßenrand. "Ein Toter, vier Verletzte, die Bombe hatten sie in einer Baustelle versteckt." Der Konvoi erreicht den Ort des Anschlags, als noch nichts abgesperrt ist, eine enge Gasse in der Altstadt, in der Passanten und Polizisten aufregt durcheinander laufen. Kamal steigt aus dem Wagen, mit einer Schutzweste der deutschen Polizei, hastet zum Laden des Schuhgroßhändlers, wo die Bombe detonierte, eine "kleine" nur, was Kamal nicht behagt. Er hofft, mit seiner Einheit in keine Falle zu laufen, auf diese Weise verlor er in den letzten Jahren 18 Mann. "Die, die schon tot sind", nennen sich die Mitglieder des Kommandos. Hektisch stochern sie mit den Gewehrläufen im Müll.

Der Besitzer blutet aus Splittern im Gesicht, er ist kalkweiß, die Augen rotunterlaufen. "Ich weiß nicht, was passiert ist", sagt er in Schock zu Kamal. "Ich weiß nicht, wer es war." "Ihr sollt aufpassen, dass euch niemand etwas in die Waren steckt. Wir warnen euch immer wieder", mahnt der Major. Fast jede zweite Woche kommt es im Areal der Märkte zu Explosionen. Die meisten Bomben legen sich die Händler im Streit gegenseitig. Kamal hält sich nicht lange auf, kehrt nach zehn Minuten zurück in seine Basis, zieht dort wieder seine Stiefel aus und kehrt zum Fußballspiel zurück. Jetzt die ägyptische Liga. Solche Ruhepausen hätte er noch vor zwei Jahren nicht einlegen können, bei bis zu zwanzig Bomben täglich. Inzwischen rückten sie vier bis fünf Mal aus, das sei der Fortschritt.

Kamal und die Offiziere der Bombeneinheit versuchen derzeit einen Kollegen in ein Krankenhaus ins Ausland zu bringen. Der wollte vor einem Monat einen Sprengsatz entschärfen, dabei wurde sein Unterleib zerfetzt. "Sein Name ist Josim Hamed", sagt Kamal zu mir. "Schreib das bitte." Der Staat zahle leider nicht die Operation.

Es ist eine seltsame Zeit in Bagdad, so entsetzlich nahe sind sich Krieg und Frieden. Kleinste Verlagerungen können den Ausschlag geben. Der Iran drängt in die Lücke, die die USA hinterlassen. Immer wenn die USA den Iran kritisieren, wird es unsicherer in Bagdad. Rückt die Stadt wieder etwas näher an den Abgrund. Der Ort der Entführer und Entführten ist selbst Geisel im internationalen Ränkespiel. "Es kann jederzeit losgehen", sagt der Chefredakteur von al-Mada zu mir. Sowohl das Töten als auch das Geldverdienen.

Die ersten Tage in Bagdad haben mich gelehrt, vor dem Audi auf die Knie zu gehen. Den Kopf lege ich in den Staub, um auf den Unterboden nach Haftbomben zu suchen. Von fünf hohen Regierungsangestellten, die ich traf, hatten drei in den letzten Tagen Wagen und zum Teil auch die Fahrer verloren. Es sollen meist Kinder und Bettler sein, die sie mit starken Magneten unterm Wagen anbringen. "Du bist nervös", sagt der Übersetzer. "Ich hab schon geguckt." "Hast du nicht", sage ich. Wir sind manchmal fast wie ein altes Ehepaar.

Kurz vor unserer Abreise aus dieser Stadt mit ihren 5,4 Millionen Einwohnern, mit diesen 5,4 Millionen Hoffenden und 5,4 Millionen Verzweifelten, hört Iqbal Hashim, die seit drei Jahren ihren Mann sucht, von einem Gerücht. In der Provinz al-Anbar soll die irakische Armee eine Gruppe Geiseln aus einem Gefängnis der al-Qaida befreit haben. Dieselbe Provinz, in der Mohammad entführt wurde. Einige der Gefangenen seien in die Psychiatrie nach Bagdad eingewiesen worden.

Iqbal Hashim legt wie immer Ausweis und Papiere ihres Mannes in die Handtasche, nimmt den Bus, läuft zu Fuß, steht dann vor der Tür der Klinik. Sie weiß, es wird wieder vergeblich sein. Sie ist aufgeregt, ihre Fingern zittern. Sie geht hinein.

 

 

 
         
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PHOTOGRAPHIE
Martin Specht, Wuppertal
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