hometextarchiv
 
 

PHOTOGRAPHIE Christoph Püschner

Das Ende der Dörfer

Auch in Westdeutschland ist die Provinz in Not. Der Überlebenskampf der Gemeinde Hamm.


Es ist das Ende, und niemand lebt mehr, um es zu bezeugen. Der letzte Bewohner der Gemeinde Staudenhof schaltet an einem Sommertag vor vier Jahren seinen Traktor ab, hält mitten auf dem Feld und steigt vom Fahrerbock. Ihm ist nicht wohl, Bommes heißt er mit Familiennamen. Monate später wird er in einem Altersheim sterben. Der Traktor bleibt jahrelang auf dem Feld stehen, so wie er ihn verließ, überwuchert von Gras und Büschen. Die Brombeeren drücken in das Haus des Verstorbenen, das als eines der wenigen im Dorf noch keine Ruine ist. Die Fenster splittern unter dem Druck von Holunder. Von den Hängen herab kriecht der Wald, Äcker werden zu Wiesen, Wiesen zu Strauchwerk.

Die Natur nimmt sich, was einst eine Siedlung mit 128 Einwohnern war. Es gab hier eine Schule und einen Bürgermeister. Aus dem Gestrüpp ragt am Ortseingang ein Steinkreuz mit der Jahreszahl 1776. Nur wenige Kilometer weiter haben die Bewohner des Nachbardorfes, 58 waren es, ihren Weiler ebenfalls verlassen. Gegründet im Jahr 1154, aufgegeben in den 60er Jahren, wurde sie längst eins mit dem Wald. Im Moosboden klaffen die alten Keller, wo die Schlangen nisten. Der Mensch ist im weiten Umkreis auf dem Rückzug. „Es kann doch nicht alles umsonst gewesen sein“, sagt Johann Marbach, 62, hinter der nächsten Flussbiegung. „Alles wofür man sein ganzes Leben gearbeitet hat.“ Er ist Bürgermeister der Gemeinde Hamm, 20 von ehemals 76 Einwohnern, ein Briefkasten und 20 Puten. Rheinland-Pfalz. Zivilisationsgrenze. Die Hammer halten sie nur noch mühsam.

Diese Reportage erzählt vom Überlebenskampf eines Dorfes in Westdeutschland. Eines von vielen, die sich derzeit gegen den Untergang stemmen. Die meisten glauben, nur im Osten sei die Provinz in Not. Doch auch im Westen geht in der Hälfte der Regionen die Bevölkerung zurück. Nach Prognosen werden von heute 82 Millionen Menschen in Deutschland im Jahre 2050 ohne Zuwanderung nur 59 Millionen übrig bleiben. „Entsiedelung“ ist der Fachbegriff für die Folgen auf dem Land. Sie erzeugt keine Schlagzeilen, aber am Ende wird die Bundesrepublik eine völlig andere geworden sein.

Er meidet die Blicke an diesem Tag, an dem die Zukunft von Hamm entschieden wird. Bürgermeister Johann Marbach starrt in den Regenhimmel, angestrengt, während alle anderen auf ihn schauen. Der siebenköpfige Gemeinderat hat sich zur konstituierenden Sitzung auf Marbachs Gartenterrasse versammelt. Sie hocken um einen Campingtisch, mit Sprite und Fanta drauf, die niemand anrührt. Die an den Zaun drängenden Puten sind ihr Publikum. „Ich bin echt platt“, sagt einer. „Hansi, das hätte ich nun nicht gedacht“, murmelt ein anderer. Doch Johann Marbach will nicht mehr. Er verspannt die Arme hinter dem Kopf, ist bis in die Mundwinkel erstarrt. Immer wieder hat er es ihnen angekündigt. Nun schon drei Jahrzehnte macht er in Hamm den ehrenamtlichen Bürgermeister. Das reicht, sagt er. Das ist genug. „Ich wollte schon letztes Mal nicht mehr,“ nölt Marbach. Wenn es dem Gemeinderat nicht gelingt, einen Nachfolger zu finden, verliert Hamm nach 1200 Jahren seine Eigenständigkeit. Aber wer soll es tun? Der Jüngste im Ort ist 50. Die Runde schweigt. Marbach steht auf und kurbelt die Markise herunter. Erste Regentropfen fallen.

Wie es so weit kommen konnte, rätseln die Bürger von Hamm. Die Gemeinderäte sehen von der Terrasse auf ihr Dorf, ein Idyll, von bewaldeten Steilhängen umgeben. Gleich neben Marbachs Haus murmelt die mäandrierte Prüm, kristallklar. In ihr spiegelt sich das Schloss. Hoch thront es über dem Dorf, mit Türmen und Zinnen. Die Lage von Hamm ist eine der schönsten der Eifel, und doch zieht niemand hier hin. Die Jungen sind abgewandert, die Alten geblieben. Immer kleiner wird die Gemeinde und immer älter. Die Frauen stehen tagsüber in ihren Beeten, stundenlang, fast reglos, den Kopf zum Boden geneigt. Wie Schilfrohre, die sich sachte im Wind wiegen. Ab und zu beugen sie sich hinab, um ein Büschel Unkraut zu ziehen. Einmal am Tag erscheint die Silhouette von „Onkel Willi“ auf der meist leeren Hauptstraße. Er schafft es auf Krücken noch bis zum Gullydeckel in der Straßenmitte. Dort verharrt er für einige Minuten, mit zitternden Oberarmen, und schleppt sich zurück ins Haus. Eine große Stille liegt über Hamm. Während der Gemeinderatssitzung sind nur die 20 Puten zu hören.

„Ich verstehe das nicht“, sagt Alois Candels, 77, ungehalten. „Du hast doch Zeit. Ich bin 40 Jahre lang im Gemeinderat und nicht nur 30 Jahre wie du.“ Diese Taktik bringt nicht den gewünschten Erfolg. Marbach wirft ihm einen zornigen Blick zu, um dann wieder den Himmel anzustarren.

Die Katze des Bürgermeisters döst auf der Straße vor dem Haus. „Ganz lieb“, hatte er zuvor gesagt. „Geht zu jedem. Nur vor Kindern hat sie Angst.“ An die ist das Tier nicht gewöhnt. Es war vor zwei Jahren, da hat das Dorf das letzte Kind verloren. Sie heißt Katharina, war damals fünf, die Enkeltochter von Alois Candels. Tolle Fortschritte habe das Mädchen gemacht, seit sie in einen größeren Nachbarort gezogen seien, erzählt die Mutter bei einem Kurzbesuch in Hamm. „Hier ging das einfach nicht mehr. Sie hatte ja niemanden zum Spielen.“ Es gebe zwar noch die zwei Kinder der Grafenfamilie auf dem Schloss, doch die kämen selten hinunter ins Tal. Als Relikte einer anderen Zeit stehen die Schaukeln in den Gärten der Großeltern. Funktionsloses Dekor wie die Viehtränken, die auf den Dörfern zu Blumentrögen umgenutzt wurden. Noch in den Siebzigern lebten 15 schulpflichtige Kinder in Hamm, fast so viele, wie das Dorf heute Einwohner hat. Die Alten haben den Jungen später große Häuser gebaut, geräumig, mit separaten Wohnungseingängen, nur damit sie bleiben. Sie lockten und warben. Doch es blieb kein einziger.

Das ist der große Schmerz der Alten. Er ist in Hamm in allen Häusern zu spüren, in jeder Familie. So viel Platz, sagen sie. Für wen? Für was? Einige wohnen hier auf 300 Quadratmeter, zu zweit. „Schön blöd sind meine Kinder!“, klagt eine 74-Jährige beim Heckenschneiden. „Der Älteste hat auf sein Erbteil verzichtet. Und der Jüngste ist als Anstreicher nach Luxemburg, der hat mir erklärt, ich komm nicht mehr zurück.“ Er habe keine Lust auf die Fahrerei, das teure Benzin, und die mobilen Bäcker- und Metzgerwagen reichten ihm nicht. Es hat im weiten Umkreis keine Läden mehr. Dabei, sagt die Mutter, ist das Haus doch abgezahlt. Eine Heidenarbeit sei es jetzt, die ganzen leeren Stockwerke zu putzen, denn Dreck falle auch ohne Menschen an. „Deine Söhne wollen halt nicht mehr unter deiner Fuchtel leben“, versucht ihr Lebensgefährte einen Scherz. Sie wendet sich verletzt ab. „Ach, was!“

Der Ort ist nach Ende der Ratssitzung ein Stück näher an den Abgrund gerückt. „Eine Scheiße ist das!“, wird Marbach später sagen. Es konnte nichts Schlimmeres passieren. Erst nach langem Zögern hatte sich Ferdinand Graf von Westerholt, der Schlossherr, der „Nando“ gerufen wird, zur Kandidatur bereit erklärt. Der Forstunternehmer ist im Ort aufgewachsen, wie auch sein Vater und dessen Vater davor. Spricht wie die Alten das für Auswärtige fast unverständliche Moselfränkisch. Ein netter Kerl, im Dorf aber verwandelt er sich zum „Herrn Grafen“. Halb Hamm war früher an das Schloss gebunden. Die Hammer arbeiteten in der Sägemühle des Grafen, die es nicht mehr gibt, als gräfliche Forstknechte, die durch Maschinen ersetzt wurden. Verdingten sich als seine Kindermädchen und Köchinnen. Sie gehen noch heute zur Messe in die Schlosskapelle, und noch heute beten die Westerholts auf den Holzbänken in der ersten Reihe. Das ganze Dorf in ihren Rücken. Jedenfalls stimmten nur drei für ihn, drei enthielten sich. Westerholt lehnte ab, tief gekränkt. „Dann müssen wir klipp und klar über die Eingemeindung nachdenken“, polterte da Werner Hilden, mit 55 Jahren der Zweitjüngste im Rat. Die Gemeinde droht jetzt mehr als Bewohner und Bürgermeister zu verlieren - ihren Selbsterhaltungswillen.

„Das Dorf wird sterben“, sagt nach der Sitzung ein 84-Jähriger, der auf der Gartenterrasse hocken geblieben ist. „Wie soll es auch anders gehen?“

Ein Land löst sich auf. Die Bundesrepublik schwindet an den Rändern, in der Mitte, jenseits der Städte und Hauptverkehrsachsen, ganz allmählich, Monat für Monat ein bisschen mehr. Doch fällt es kaum jemandem auf. Der Niedergang der Provinz vollzieht sich ohne Getöse. Die Dörfer siechen in Südniedersachsen und Ostfriesland, in Nordhessen wie in der Oberpfalz. Sie darben auf den Höhen des Allgäus genauso wie in den Tälern des Schwarzwalds, auf der Schwäbischen Alb und in der Hohenlohe, der Pfalz, auch im Frankenwald. Mehr als drei Millionen Menschen haben sie seit 1994 verlassen. In manchen Gemeinden ist die Bevölkerung um mehr als die Hälfte zurück gegangen. Kein DSL gibt es, noch nicht einmal einen Bäcker. Der Metzger im Ort verschwindet, die Ärzte, die Poststelle. Häufig hält es sogar die Kirche nicht mehr im Dorf. Oft bleibt von der Infrastruktur nur der Zigarettenautomat. Die Grundstückspreise fallen in der Folge, der Immobilienmarkt kollabiert. Deutschland rückt enger zusammen, es ballt sich in den Städten. Der demografische Pflug zieht übers Land und hinterlässt gewaltige Furchen.

Die nächsten Tage über hadert das Dorf mit sich selbst. Der Graf lässt sich im Tal nicht mehr blicken, Marbach denkt sogar ans Wegziehen. Frostig begegnen sich die Nachbarn auf der Straße. „Alles wird hier weniger, auch der Gemeinsinn“, ist Werner Hilden fassungslos. Er liegt auf den Knien, schraubt in der Scheune an einem Schlepper. Seine Lieblingsbeschäftigung. Der 55-jährige Junggeselle sammelt Traktoren, Marke Eicher. Wie die Gerippe einer Dinosaurier-Sammlung stehen sie in der Scheune aufgereiht. Aus den Oberlichtern fällt ein sanftes Licht auf sie. Martialische Namen tragen die Maschinen, „Wotan“, der „Tiger I“, „Königstiger“, doch nie dürfen sie auf einen Acker. Hilden hat vergangenes Jahr als letzter im Ort die Landwirtschaft aufgegeben.

 


Es gibt jetzt keinen einzigen Hof mehr im ehemaligen Bauerndorf, die Wiesen um Hamm haben sie als Baugebiet ausgewiesen. Weil sich keine Käufer fanden, verpachteten sie die an den Besitzer einer Biogasanlage. Das Dorfsterben in Deutschland ist ein Bauernsterben. 180 564 Landwirte schlossen in den 15 Jahren nach der Wiedervereinigung ihre Betriebe. Ein Drittel aller Höfe. Davor schon hatte der Markt die Kleinbauern dahingerafft. All diese Arbeitsplätze bildeten das Rückrad der kleinen Orte. Sie waren der ganze Grund ihrer Existenz. So sauber ist es jetzt in Hamm, sagt Hilden, der nun als Techniker einer nahen Talsperre arbeitet. Und so steril. Er ist einer, der nicht viele Worte macht, lange um Begriffe ringt, aber Veränderungen aufmerksam wahrnimmt. Das Leben hätte einem vor 30 Jahren im Ort angesprungen, die Kinder auf den Straßen, Menschen auf den Feldern. Die Straßen bedeckt mit Kuhmist, das Gebrüll des Vieh in den Ställen. „Es ist vorbei“, sagt Hilden. „Sogar die Schwalben sind fort.“ Die Schwärme verließen das Dorf, weil es ohne Vieh keine Mücken mehr gab. Das letzte Schwalbennest fiel bei Hilden vor zwei Jahren von der Hauswand.

Dem Dorf weiß niemand Rat. „Eingemeinden und zu einer Ferienanlage umbauen“, sagt einer der weggezogenen Söhne. Er ist mit einem Pferdehänger gekommen, um im Haus der Mutter die Einbauküche aus seiner früheren Wohnung auszuräumen. „Bebauungsplan ändern und zack.“ Der Graf sieht eine Lösung im Bau eines großen Campingplatzes im Tal. Ob deswegen aber junge Neubürger hierherziehen? „Die Initiative muss aus den Kommunen kommen“, sagen die Dorferneuerungsbeauftragten der Landkreise. Das schaffen die Alten von Hamm nicht mehr. Die meisten im Ort verkleinern jedes Jahr ihre Blumenbeete, weil sie für deren Pflege die Kraft nicht mehr haben.

Fröhlich schallt das „Ave Maria der Heimat“ einige Tage später übers Dorf. Die pensionierte Schulsekretärin Anna March – vor 20 Jahren mit Mann aus Neuss hergezogen - hat zu ihrem 80. Geburtstag geladen, und alle kommen. Hintereinander reihen sich die Hammer auf, mit Sträußen und Kuchen, aufgeregt wie Kommunionkinder, und überbringen Wünsche. Die Knochen schmerzen manchem auf dem kurzen Weg zum Fest. Dort angekommen werden einige schon rasch sehr müde, aber sie haben es „Ännchen“ nicht abschlagen wollen. An diesem Abend mobilisiert das Dorf noch einmal seine Energien. Die Aufgesetzten von March helfen da und auch die Kastelruther Spatzen. Der 77-jährige Alois wagt mit Ännchen gar ein Tänzchen. Und einer, dessen Frau vor fünf Jahren gestorben ist, möchte gar nicht mehr aufhören, zu singen. Nur Onkel Willi mit den bösen Beinen und der Graf sind nicht gekommen.

Es nimmt dann übrigens doch noch ein gutes Ende mit den Bürgermeisterwahlen. Wochen danach stellt der Graf sich einer weiteren Abstimmung und wird mit fünf Stimmen gewählt. Die Gemeinde hat im Existenzkampf noch einmal etwas Zeit gewonnen.

Kürzlich haben sich zwei Frauen aus Hamm auf den Weg ins verlassene Nachbardorf gemacht. Lange waren sie nicht mehr dort gewesen, jetzt wollten sie nachschauen, was aus ihm geworden ist. Die beiden gingen mehrere Kilometer durch den Wald und kehrten dann um. Sie hatten vergessen, wo es liegt.

 

   
 
       
home top

PHOTOGRAPHIE
Christoph Püschner, Stuttgart
christoph.pueschner@t-online.de
www.zeitenspiegel.de