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PHOTOGRAPHIE Theodor Barth

Ausgerechnet Schwaben:

Kurz vor dem Sturz

Nirgendwo sonst sind so viele Menschen auf Kurzarbeit gesetzt. Wie sich das Leben von Hunderttausenden verändert.


Die Frau von Thomas Mänz kann ihre Tochter nicht halten. Nicole, acht Jahre alt, entgleitet ihrer Hand und versinkt in einem Strudel aus Wasser. Tiefer und tiefer, immer weiter von ihr weg. „Es war schrecklich“, sagt sie mittags am Küchentisch, die Hand über dem Gesicht, Kaffeekrug unterm Kinn. Thomas Mänz schaut sie nachdenklich an. „Du hast schlecht geschlafen.“ Er hat heute frei. Er hat jetzt sehr oft frei. Thomas Mänz arbeitet seit dem 1. Januar 2009 kurz. Sein Betrieb bekommt immer weniger Aufträge, und immer weniger weiß der Werkzeugmacher, wie er die Ausgaben bestreiten soll. Der Urlaub ist längst gestrichen, Kleidung wird längst keine mehr gekauft, doch jetzt wird das Geld knapp fürs Essen. Nur einmal in der Woche kommt Fleisch in den Topf. Mänz, der heute die Kinder von Kindergarten und Schule abholte, sieht zu seiner Frau. Er sagt: „ein böser Traum.“

Es gab keine Betriebsversammlung, keine Ansprache der Geschäftsführung, nur ein Formschreiben, das eines Morgens vor Weihnachten am schwarzen Brett hing. Zwei DIN-A4- Blätter veränderten das Leben von 160 Beschäftigten und ihren Familien radikal. Sie kündigten für die nächsten sechs Monate Kurzarbeit an. Das mittelständische Unternehmen, ein Hersteller technischer Federn, ist der größte Arbeitgeber in Beuren, 3360 Einwohner, idyllisch gelegen am Steilhang der Schwäbischen Alb. Der Ort wirkt im Mai wie in Watte, weiß blühende Obstbaumwiesen umfassen ihn. „Fabrikler“ nennt man die Arbeiter hier liebevoll. „Das kennt bei uns keiner“, sagt einer im Dorf. „Wir haben immer gedacht, bei uns läuft es doch.“

Hoch über dem Neckar eröffnet sich in Beuren die Sicht auf ein Panorama der Kurzarbeit. Die Fabrik auf dem Nachbargrundstück arbeitet kurz, die Firmen der Nachbardörfer im Westen und im Osten. In der Ferne der Fernsehturm von Stuttgart, wo Daimler kurzarbeitet und Porsche und Bosch und AEG. Für 550 000 Jobs, jeden siebten Sozialversicherungspflichtigen, ist im Südwesten Kurzarbeit angemeldet. So viel wie in keinem anderen Bundesland. Die größten Arbeitsplatzverluste bis zum Monat März meldet nicht etwa ein Arbeitsamtsbezirk in Brandenburg, sondern der von Pforzheim. Plus 2,7 Prozent. Es ist als hätte das industrielle Herz Deutschlands, sein Kraftzentrum, ausgesetzt zu schlagen.

Thomas Mänz hat sich das Leben neu einrichten müssen, in drei Tage Arbeit, vier Tage frei. Der Takt der CNC-Fräsmaschine ist abgelöst durch die Öffnungszeiten des Kindergartens, wo Mänz mittags den sechsjährigen Sebastian abholt. Produktionspläne sind ersetzt durch den Stundenplan seiner Tochter, mit der er Schulbücher büffelt. „Ich arbeite, seit ich 16 bin“, erzählt er zwischen Kochen und Hausaufgaben. Der 42-Jährige ist ein Arbeitsmigrant, noch nach 20 Jahren klingt bei ihm das Holsteinische durch. Stets ist er den Jobs hinterhergezogen, um jetzt doch von der Krise eingeholt zu werden. 200 Euro weniger verdient der Werkzeugmacher nun monatlich, für manche keine große Summe, für Mänz der Stoß in die Armut.

Die Familie hatte es auch vor der Krise nicht einfach. Sie konnte selten etwas sparen, die Löhne der Federnfabrik sind niedrig. 14,50 Euro auf die Stunde bekommt ein Facharbeiter in Beuren, und das ist dort ein guter Schnitt. „Wir sind das China von Deutschland“, unkt einer seiner Kollegen und fügt an: „Vielleicht gibt es uns deshalb noch.“ Die Krise zerteilt Baden-Württemberg in zwei Klassen. Es gibt die Unternehmen, die sich an Tarife halten. Mitglieder der Arbeitgeberverbände. Ihre Beschäftigten erhalten einen bis zu 30-prozentigen Zuschlag auf die vom Arbeitsamt gezahlten 60 Prozent für Kinderlose und 67 Prozent für Verheiratete mit Kindern. Die Komfortklasse. Dort lebt es sich für die Mitarbeiter von Daimler und Bosch vergleichsweise bequem. Und es gibt die vielen anderen, nicht tarifgebunden, die ihre Leute dem Arbeitsamt überlassen. In Beuren haben sie dafür ihren eigenen Ausdruck: „die Kalkutta-Kaste“.

Die Fischstäbchen heute Mittag sind abgezählt, die Familie sitzt um den Esstisch. Nicole erzählt von der Schule. Sebastian stochert. Die Mutter hört kaum zu. Halb scheint sie noch in ihrem Traum, als schon wieder ihre Spätschicht ansteht. 7,50 Euro bekommt sie bei einem Markisenbauer in der Stunde. „Wir müssen froh sein, dass wir überhaupt Arbeit haben“, sagt Mänz. Er klagt nicht. Er ist der Ausgeglichenste in der Familie. Unentwegt schlichtet er zwischen den Kindern und manchmal auch zwischen ihnen und seiner Frau. Gewiss, die Kleinen würden gerne mehr Fleisch essen, besonders Nicole. „Die kann für Pute alle Beilagen liegen lassen.“ Und auch beim Obst kauft er nur noch das billigste, Äpfel und Bananen, keine Kiwis und Mangos mehr. Ihr monatliches Budget ist in der Kurzarbeit auf 300 bis 400 Euro zusammengeschrumpft, das muss reichen. „Wir kommen durch“, sagt er, so, dass es die Kinder hören können: „Nichts, was der Papa nicht richten kann.“ Die Wohnung ist karg. Wenig erinnert an die erwachsenen Bewohner. Regale und Fensterbänke stehen voller Spielsachen. Alle Kräfte sammeln sie für die Kinder.

Wollen wir mal spazieren gehen“, fragt Mänz die Kleinen, nachdem seine Frau wieder zur Arbeit ist. „Es ist so schönes Wetter.“ Sebastian quengelt, schreit, weint vor Zorn. Lange hält ihn Mänz beruhigend im Arm.

   


Die Straßen leeren sich in Schwaben. Der Berufsverkehr dünnt sich aus. Es sei, wundern sich viele, wie sonst nur in den Sommerferien. Ziellos schlendern junge Männer in Rudeln durch die Fußgängerzonen. Werktags waren die bislang Rentnern und Hausfrauen vorbehalten. In den Kneipen wechseln die Worte der Krise den Besitzer. Unwillkürlich sind sie zu hören auf den Märkten, in den Kirchen, in den Hauseingängen, an keinem Ort ist man sicher vor ihnen. „Entlassungen“, ist eines und „Insolvenz“ und „Auftragseinbrüche“. Angst hat sich in die Beschaulichkeit gewoben. Schuldnerberatungen haben Hochkonjunktur, Fitness-Clubs auch. Viele Paare denken an Trennung, die freie Zeit treibt Risse in die Liebe. Die Manager bei Mercedes werden angehalten, nicht zu häufig in die Werke zu gehen, um eine ungute Stimmung zu vermeiden. Die Polizei beobachtet den Verlauf der Wirtschaftskrise. Noch gibt es in den Statistiken keinen Anstieg der Gewalt, sie bereitet sich aber vor. Noch gibt es keine Massenentlassungen, die Behörden bereiten sich aber vor. Es ist im Lande Daimlers und Bosch eine seltsame Zeit, eine Zwischenzeit, in der alles auf dem Spiel steht, Wohlstand und Geborgenheit, und von der keiner weiß, wohin sie führen wird.

Die Geschäftsführung, klagen die Arbeiter der Federnfabrik immer, wenn die Rede auf die Zukunft kommt. Die informiere nicht. Die Kunden, klagt der Geschäftsführer, der wie seine Arbeiter schwäbelt. „Uns sagt man nichts. Uns hält man im Unklaren.“ Die Aufträge von Bosch und Daimler sind binnen Wochen zu 50 Prozent weggebrochen. Wie es weiter geht? Ob es weiter geht? „Wir sind der Zulieferer des Zulieferers. Wir wissen gar nichts.“

Die fußballfeldgroße Halle ist in ein Halbdunkel gefallen, nur die Notbeleuchtung brennt. Das schreibt die Versicherung vor. Eine von drei Neon-Linien, davon glimmert in jeder dritten Röhre ein weißes Licht. Fast vollkommene Stille liegt über den Maschinen, wenn Jürgen Rebmann, 44, aus seinem Büro hinuntersteigt. Kein Hämmern der Stanzerei, kein Pumpen der Biegeautomaten. Die Rufe der Frauen in der Produktion sind verstummt. „Es ist gespenstisch“, sagt er. Der hagere Mann mit der Brille, die er sich aus Draht an den Biegemaschinen gebaut hat, verantwortet die Prototypen der Federnfabrik. Ein Tüftler durch und durch, der in Toleranzen von unter 500stel Millimeter denkt, selber prototypisch für die Region. Die Einkommenseinbußen kann er verschmerzen, er hat nie viel ausgegeben. „Ich fahre nur alte Autos, die ich selber reparieren kann.“ Froh ist Rebmann beinahe über das weniger Arbeiten. Das Sodbrennen, das schlimmer geworden war, ist fast ganz verschwunden, auch der Hautausschlag. Wie ein Mensch fühle er sich wieder. Denn Rekordumsatz jagte Rekordumsatz in der Federnfabrik in den vergangenen Jahren. Die Schichten ächzten, der Krankheitsstand war hoch, noch in der letzten Nacht vor Beginn der Kurzarbeit fuhren sie Überstunden. Wenn er jetzt durch den Betrieb läuft, hört er den Hall der eigenen Schritte.

Er sucht sich die Arbeit, die ihm die Firma nicht gibt. Er stöbert sie auf im Motorraum seiner Oldtimer, die er pflegt, im Geäst der Obstbäume, das in diesen Wochen geschnitten werden will. Er steht auf dem Balkon seiner 2-Zimmer-Wohnung des einzigen Hochhauses im Ort und mustert die Stellen, von denen die Kacheln abfallen. „Nächste Woche“, sagt er. Den Eltern seiner Freundin hat er die Küche gemacht und das Bad will er auch noch streichen – Jürgen Rebmann kommt mit sechs Monaten Kurzarbeit kaum aus. So lang ist die Liste der dringenden Handreichungen. Ein kostbarer Besitz in dieser Zeit, das weiß Rebmann, unbezahlte Arbeit zwar, aber immerhin. Er erzählt von Kollegen, denen sogar diese abhandengekommen ist. Am Ende, sagt er, wenn der Garten gemacht und das Dach geflickt ist, sitzen sie auf dem Sofa und sehen fern. Surfen im Netz. Nehmen zu. Oder laufen mit dem Hund spazieren. „Ich kenne einen, der leiht sich jetzt den Hund von der Schwiegermutter aus.“

Der Vater, bis zur Rente ebenfalls Arbeiter in der Federnfabrik, versuchte ihn neulich bei einem Bier die Angst zu nehmen: „Jürgen, die Firma hat schon Schlimmeres erlebt.“ Jürgen Rebmann ist sich sicher: Hat sie nicht. Im Falle einer Kündigung will er das Dorf verlassen. Er will auswandern. Dorthin, wo seine Freundin lebt. Österreich.

Derweil bluten die Sozialversicherungen aus, verbraucht die Finanzierung der Arbeitsplätze Milliardensummen. Aber die Menschen konsumieren, der Handel ist beatmet. Werden Kurzarbeiter zu Arbeitslosen, reißen sie viele Jobs mit, die ihrerseits viele andere mitreißen. Es geht die Furcht vor Lawinen um. Die Amerikaner, die massenhaft entlassen haben, studieren das deutsche Modell. Was sie mit Konjunkturspritzen in Billionenhöhe bislang nicht schafften, gelingt der Kurzarbeit. Eine Wirtschaft notdürftig zu stabilisieren. Nach „Blitzkrieg“ und „Schadenfreude“ findet das Wort „Kurzarbeit“ Aufnahme in den englischen Wortschatz. Der Bundesarbeitsminister erwägt, die Fristen von 18 auf 24 Monate zu verlängern. Denn niemand mag sich vorstellen, was ohne Kurzarbeit passiert.

Es bleiben der Familie Thierbach vier Wochen, und sie hoffen nicht auf Aufschub. „Ich frage gar nicht erst“, resigniert Sven Thierbach, 23. Die Wohnung, gepflegt, hell, in Fußnähe zur Fabrik, wird versteigert. Hier lebten sie bislang mietfrei. Die Schwiegermutter, der sie gehört, Qualitätsprüferin in der Federnfertigung, kann die Raten nicht mehr zahlen. 700 Euro verdient sie weniger, weil es in der Kurzarbeit keine Nachtschicht und keine Zulagen gibt. Die Familie muss sich eine neue Bleibe suchen. „Unter Kollegen haben wir am Anfang noch Witze gemacht“, erzählt Thierbach, auch er Nachtarbeiter in der Federnfabrik. „Super, drei Tage in der Woche frei.“ Er versucht ein Grinsen. Es hält nicht lange. Es ist eine ungewohnte Rolle für die Arbeiter in Schwabens Autoschmieden: ihre Not zu zeigen.

Die Könige der Werkshallen, beneidet und bemitleidet, die Nachtarbeiter, die ihre Gesundheit für Spitzenlöhne opferten, sind heute die Härtefälle. 40 Prozent Lohnausfall. Statt 1900 Euro netto wie bei Thierbach nur noch 1200 Euro. Und manchmal auch nur 1000. Kurz vor Beginn der Krise ist seine Frau zum zweiten Mal schwanger geworden. Kurz vorher haben sie sich noch einen neuen Flachbildschirm auf Pump gekauft, das erhöhte ihre monatlichen Verpflichtungen auf 700 Euro. „Schlechtes Timing“, sagt er. Die ersten Wochen konnte er nicht schlafen, wälzte sich im Bett. „Man hat Angst, alles zu verlieren, was man hat.“ Er hat nie einen Beruf gelernt, ihm ist klar, er ist der verwundbarste. Er fragte bei der Personalabteilung an, ob er sich einen Nebenjob suchen können. „Das wird Ihnen vom Kurzarbeitergeld abgezogen“, rieten die. „Lassen Sie es.“

Der junge Vater mit den blond gefärbten Haarspitzen veräußerte auf Ebay überflüssiges Inventar. Die Playstation. Die Felgen. DVDs. Sie begannen die billigeren Windeln für die zweijährige Tochter zu kaufen. Er fragte um Erziehungsgeld an, das ihm jedoch nicht bewilligt wurde. Er wollte umschulden, doch seine Bank lehnte ab – wegen der Kurzarbeit. Vermieter vermieten ihn nicht ihre Wohnungen - wegen der Kurzarbeit. In der letzten Februarwoche, als Thierbach nur 850 Euro ausbezahlt wurden, weil er bereits im Januar einen Vorschuss gebraucht hatte, sammelten sie alle Pfandflaschen im Haus. Es kamen zehn Euro dabei heraus, für die sie Lebensmittel kauften. Er kennt Kollegen, die ihren Mercedes verkauften und jetzt mit dem Rad zur Arbeit fahren. „Langsam kippt in der Fabrik die Stimmung“, beobachtet er. „Die Leute werden aggressiver. Sie neiden jedem jede Arbeit. Sie fragen, warum darf der einen Tag zusätzlich arbeiten, warum nicht ich?!“

Diese Wirtschaftskrise ist eine eigentümliche. Die schwerste seit 80 Jahren und doch fühlt sie sich für viele an wie Urlaub. Die Stühle im Café „Aroma Deluxe“ in Reutlingen sind voll besetzt, Kurzarbeiter räkeln sich in ihnen. Es gibt „Kurzarbeiter-Frühstück“ und „Kurzarbeiter-Bier“, preisreduziert. Einige der Kunden arbeiten nur noch drei Tage im Monat, andere wenigstens drei in der Woche. Viele von ihnen sind bei Bosch, wohin die Federnfabrik in Beuren liefert, wohin deren Belegschaft neidisch schaut. Denn bei Bosch wird Tarif gezahlt. Ein Junggeselle wie Andreas Jurkovic, 23, kommt hier gut auf das Doppelte vom dem, was die Federnfabrik Familienvater Mänz anweist. „Wir lachen der Krise ins Gesicht!“, sagt Jurkovic und gründet mit vier weiteren Kollegen eine Band. „Short Workers“ haben sie sie getauft, was strenggenommen „kurze Arbeiter“ bedeutet, aber als Kurzarbeiter verstanden werden will. Ihr Konzept – irgendwo zwischen hörbar und spielbar.

Sie singen R&B, bauen soulig um und sind ganz in Aufbruchsstimmung. Zum ersten Konzert kamen über hundert Leute, sie träumen, sie fiebern. Eventuell lässt sich ja doch mit Musik Geld verdienen. Eventuell ist Bosch doch nicht alles im Leben. Im Flur zum Kneipenklo proben sie. „Ich war schon im Tonstudio“, erzählt Jurkovic, dessen Part die Gitarre ist. Zwanzig Titel haben sie in der Kurzarbeit einstudiert, wobei „die Hälfte hörbar ist, aber nicht spitzenmäßig“. Er muss etwas Neues tun, sagt Jurkovic. Er ist im sechsten Kurzarbeits-Monat. Jeden Morgen joggt er und radelt er. Täglich steigert er seine Zeiten. Und trotzdem fehlt ihm bei alldem etwas, grübelt er. Das Gefühl, gebraucht zu werden.

Thomas Mänz hat seine Kinder doch noch zum Spaziergang bewegen können. Beide strahlen und rennen hinauf zum Aussichtspunkt. Schweigend trottet ihr Vater hinterher. Alle drei lehnen sie sich über die Absperrung und sehen in ein blühendes Land.

„Ach ja,“, sagt Mänz. „Der Frühling“. Es klingt nicht froh.

 

   
 
           
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