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PHOTOGRAPHIE Daniel Traub

Findet Xian Di!

In China werden täglich über hundert Kinder entführt und verkauft. Tausende Eltern sind auf der Suche nach ihnen.

 
 

Herr Xu bricht auf, um seinen Sohn zu holen. Er packt eine kleine Umhängetasche, legt einen Rasierer hinein, Unterhosen und Socken, dazu eine große Flasche Branntwein. Ein letztes Mal schaut er auf seine Frau. Sie sitzt neben dem leeren Kinderbett, Nacken starr, Schultern steif, wie eine Schildkröte in sich zurückgezogen. Kinderzeichnungen hängen an den Wänden, sie zittern im Wind des Ventilators. „Ich gehe“, sagt Herr Xu. Er hält Abstand zu ihr, die sich verändert hat in den letzten Jahren. Frau Xu sortiert die Schulurkunden ihres Sohnes in lange Bahnen, exakt ausgerichtet, ganz sorgfältig, bis der Ventilator alles durcheinander weht. Dann beginnt sie von vorn, immer wieder. „Ich gehe“, ruft abermals Xi Ming Xu, 45. Die Reise, auf die er sich begibt, hält wenig Trost bereit. Sie wird ihm das Schlechteste im Menschen zeigen und vielleicht auch das Beste. „Bring ihn nach Hause“, flüstert seine Frau. Er zögert kurz. Dann verschließt er hinter sich die Wohnungstür, durch die der Junge vor anderthalb Jahren verschwand.

Das Bild des Sohnes trägt er bei sich, als Flugblatt und Foto in Klarsichthülle, hundertfach: Xian Di, elf Jahre alt damals, schüchternes Lächeln, gelbe Jacke. Viel mehr als seinen Jungen hat Herr Xu nicht im Gepäck, das Gewicht schnürt ihm die Schulter. Xian Di ist am 11. März 2008 auf der kurzen Wegstrecke zwischen Wohnung und der Grundschule verschwunden. Ein Mitschüler begegnete ihm vor dem Schulgebäude, das war um 18.30 Uhr. Niemand hat ihn von da an mehr gesehen. Die Eltern suchten den Jungen in der Nachbarschaft, in allen Straßen. Die Nachbarn suchten, Lehrer und Klassenkameraden, doch „Didi“, wie ihn alle riefen, blieb unauffindbar. Die Polizei half nicht. „Hättest besser aufpassen sollen“, belehrte ihn eine Beamtin.

Der Sohn von Herrn Xu ist eines von 190 Kindern, die in China jeden Tag entführt werden. Eines von 70 000 jedes Jahr, wie Menschenrechtsanwälte schätzen. So viel wie in keinem anderen Land. In bisher ungekanntem Ausmaß tobt in China der Verteilungskampf um die Ressource Kind.

Die Kinderhändler spielen mit ihren Opfern, wie es Katzen mit Mäusen tun. Ihr Handwerk lässt sich anhand der Aufzeichnungen von Überwachungskameras studieren. Chinas Innenstädte sind gespickt davon. Eine Frau reißt einem Jungen im Supermarkt den Regenschirm aus der Hand, er läuft ihr hinterher. Eine andere fängt ein Mädchen mit einem Eis. Die Kameras filmen, wie ein Mann im Kaufhaus vor einem Dreijährigen kniet. Er holt ein rotes Spielzeugauto aus der Aktentasche. Platziert es auf dem Boden. Der Junge zögert. der Mann rückt das Auto näher zum Kind. Er lächelt, geht vertrauensbildend einen Schritt zurück. Das Kind, Blick auf das Auto, kommt näher und folgt dem Mann aus dem Sichtfeld der Kamera. Wird nie wieder gesehen. Die Entführer rauben die Kinder im Vorbeifahren. Sie öffnen die Wagentür und ziehen sie hinein. Reißen sie Müttern aus den Armen. Auch das zeigen die Kameras: Die Kinder kämpfen, strampeln um ihr Leben. Sie befreien sich manchmal, für zwei, drei letzte Schritte in Freiheit, um dann wieder eingefangen zu werden.

Die Ellbogen drückt Herr Xu in der Bahnhofshalle auseinander, er presst die Menschen weg. Ihr Schweiß klebt auf seiner Haut. Wuhan, Heimatstadt von Xu, Provinz Hubei, einem Koloss von 10-Millionen-Einwohnern, und jedes Jahr werden es ein paar Hunderttausend mehr. Die Suche beginnt hier. „Fahre nach Xiangfan!“, hatte ihm ein Unbekannter am Telefon geraten. Er habe die Vermisstenanzeige gesehen, die Xu vor einigen Tagen in der Provinzzeitung schaltete. „Schau dir das Kinderheim an. Es gibt dort einen Jungen, der könnte der deine sein.“ Herr Xu reiste in den letzten Monaten kreuz und quer durch China, hunderten Hinweisen ist er gefolgt. 10 000 Euro, sein gesamtes Vermögen, setzte er zur Belohnung aus. In Xiangfan, eine Tagesreise von Wuhan entfernt, war er vor einem Jahr das letzte Mal, doch damals wartete dort nur ein Betrüger auf ihn. Einer, der Geld will und nichts weiß. Es sind fast alle Betrüger, die sich melden, sagt Xu und steigt in den Zug. Nimmt einen Schluck aus der Schnapsflasche. Denn wie könnte es ihm sein Sohn verzeihen, täte er es nicht. Herr Xu steht fast während der gesamten Fahrt, an Zigaretten saugend, das Gesicht am Fenster, zum Sitzen ist er zu unruhig.

   


Es gibt viele wie Herrn Xu. Eine Ladenbesitzerin aus Wuhan, die ihre Tochter vor elf Jahren verlor, ist an diesem Tag in eine Kleinstadt im Süden unterwegs, wo auch sie ihr Kind zu finden hofft. Durch Sms halten sich beide auf den Laufenden. In der Gegenrichtung, im Norden, sucht der Betreiber einer Pension, Herr Hong, nach seiner vor einem Jahr entführten Tochter. Alle drei sind Mitglieder eines Netzwerks, zu dem sich in China 3 000 Eltern geraubter Kinder zusammen geschlossen haben, mit Unterverbänden in fast allen Provinzen und einer Internet-Suchplattform, die sie „Baby, komm nach Hause“ nannten. Alleine, manchmal in Gruppen befahren sie das große Land, um Hinweisen nachzugehen. Die Fassaden ihrer Häuser bekleben sie mit Fotos der Kinder, in großen Schriftzügen erflehen sie die Hilfe der Passanten. „Wer kann Hinweise geben?“ „Freundliche Menschen gesucht.“ „Wir vermissen unser Baby.“ Einzelne von ihnen drucken hunderttausende Flugblätter, die sie rastlos übers Land verteilen. Die Erfolgsaussichten aller Anstrengungen sind minimal, nur 50 bis 60 Eltern fanden bislang ihre Kinder wieder. Die Suche nach den Entführten, sagen sie, sei so schwierig wie die nach einer Nadel im Meer.

Er sei umsonst gekommen, bescheinigt ihm in Xiangfan der Leiter des Kinderheims nach einem kurzen Blick auf das Bild. Mein Sohn, sagt Herr Xu. Hier könne man ihn nicht helfen, erklärt der Leiter. So einen Jungen hätten sie nicht. In einem zweiten Heim, in dem er in Xiangfan vorspricht, beugt sich die Direktorin etwas länger über das Bild. Mein Sohn, sagt Herr Xu. Doch auch sie schüttelt dann den Kopf. Er zeigt ihr die Telefonnummer des Anrufers, der den Tipp gab. Sie kennt die Nummer nicht. Xu wählt sie an, erreicht niemanden. Der hätte seriös geklungen. Er starrt auf den Boden. Reicht ihr das Foto seines Sohnes und bedankt sich.

„Du trinkst zu viel“, klagt Chen Lin Yao, 36, als sie später am Abend mit Herrn Xu zusammensitzt. „Immer, wenn wir uns sehen, bist du betrunken.“ Sie betreibt eine Garküche in Xiangfan, ihr fünfjähriger Sohn Junjie wurde 2006 entführt. Am 5. Juli beim Spielen vor dem Gemüsemarkt. Ihr Mann hat Xu heute durch die Kinderheime geführt. „Unsinn“, ruft Herr Xu erregt. „Ich trinke nicht zu viel!“ Die Schnapsflasche, die er sich eben kaufte, 500ml, 50 Prozent, ist zur Hälfte leer. Er lebt mit einem besonderen Fluch, sagt Frau Yao, als er es nicht hört. Er ersäuft die Bilder in Alkohol, die er im Internet sah. Es gibt hunderte davon, immer wieder auch in chinesischen Zeitungen publiziert: bettelnde Kinder, denen künstlich die Gelenke gebrochen wurden. Wie Kröten krabbeln sie zwischen Chinas neuen Wolkenkratzern. Anderen hat man die Bäuche aufgeschnitten und wieder zugenäht, damit sie den Passanten ihre Narben präsentieren. Es wird ihnen das Augenlicht genommen, mit Lauge und Säuren, damit sie mitleidserregender sind. Während kleinere Kinder an Familien verkauft werden, sie dort aufwachsen und zur Schule gehen, enden die älteren Kinder, wie der Sohn von Xu, häufig in Bettlerbanden. Herr Xu redet viel, doch darüber redet er nie.

Ihren Sohn würde sie heute mehr erkennen. Frau Yao macht sich keine Illusionen. Zu viele Jahre sind vergangen. Sie trinkt nicht, sie arbeitet. Sie stemmt ihr Leben mit den Oberarmen. Von fünf morgens bis zehn abends, in der eigenen Garküche, der „Schwarzen Ente“, und manchmal gelingt es ihr, zu vergessen. Die Polizei in Xiangfan hat bisher noch nicht einmal ihre Anzeige aufgenommen. Die Yaos kommen nicht von hier, besitzen wie viele Zugezogenen aus den Dörfern kein offizielles Wohnrecht. Sie haben an dem Abend, als ihr Sohn verschwand, mehrfach die Notrufnummer gewählt, doch kam nie ein Beamter. Diese Erfahrung machen Eltern in ganz China. Die Polizei ist vielerorts desaströs organisiert, korrupt und übel motiviert. Sie eröffnet ungern Ermittlungsverfahren, um ihre Jahresbilanz nicht mit zu vielen ungelösten Fällen zu belasten. Jede Dienstleistung der Ordnungskräfte, klagen Eltern, müssen sie bezahlen. Die Väter und Mütter sind auf sich alleine gestellt.

Er arbeitet hinten in der Küche, sie verkauft vorne an der Theke. Er schweigt, sie redet. Wenn das Handy klingelt, nimmt er ab und gibt es ihr. Sie streiten viel, seit der Junge weg ist. „Er verletzt mich, er weiß nicht, mit seinen Worten umzugehen.“ Frau Yao würde sich gerne trennen, aber dann hätte ihr Sohn keine Familie mehr, zu der er zurückkehren könnte. Er würde ein zweites Mal bestohlen. Die Tochter, 15, die ihnen noch bleibt, ähnelt ihrem Mann. Die Mutter schaut mit Missbilligung auf sie. Ein faules Mädchen, sagt sie. Die Tochter zu gebären war sehr schmerzvoll, in der Schwangerschaft lag sie mit ihr vier Monate lang im Bett, mit Krämpfen und Übelkeit. Die Geburt des Sohnes hingegen sei eine sanfte gewesen. Frau Yao erzählt in der Mittagspause, auf dem Bett der Ein-Zimmer-Wohnung. Die Tochter, nur durch eine Sperrholzwand getrennt, hält das Gesicht dicht an den Tischventilator. Sie schließt dabei die Augen. Es ist, als sei Frau Yao das falsche Kind entführt.

„Mein lieber Sohn“, schreibt Yao in ihrem Tagebuch. Seit drei Jahren verfasst sie Briefe an den Verlorenen. „Heute ist dein achter Geburtstag. Weißt du, eigentlich möchte sich Mama beherrschen, nicht zu traurig zu sein. Aber ich habe es nicht geschafft. Es ist schwer, die Tage und Nächte ohne dich zu verbringen. Wo bist du jetzt? Warum bist du weg? Mama hat nicht genug für dich getan. Bitte komm zurück, ich werde dir viele Spielsachen kaufen. Viel Essen! Ich habe dir zu deinem Geburtstag eine Torte gekauft und dein Lieblingsgericht gemacht. Mein lieber Sohn. Wir wollen dieses Jahr eine eigene Wohnung bauen. Du hattest dir das immer gewünscht. Die ganze Familie wartet auf dich. Gestern habe ich gedacht, vielleicht kommst du zu deinem Geburtstag zurück. Mein Sohn, herzlichen Glückwunsch. Ich hoffe, dass du gesund bleibst. Deine die ganze Nacht an dich denkende Mutter.“

Zum Kauf stehende Kinder werden in Gewichtsmaßen für Fleisch gehandelt. Die Entführer verwenden eine Codesprache. Ein Liang, was einem Gramm entspricht, ist ein Monat. Ein Kilo ein Jahr. Die Ware unterteilen sie in zwei Kategorien. Im Norden Chinas sprechen sie von der „ersten Wahl“, den Jungs, und der „zweiten Wahl“, den Mädchen. Im Süden von „großer und kleiner Ware“. Die Preise variieren. Eineinhalb- bis fünfjährige Jungs erzielen die höchsten, groß genug für einen langen Transport, klein genug, damit die wahren Eltern rasch in ihrer Erinnerung verblassen. Bis zu 5 000 Euro kosten die teuersten unter ihnen, die billigsten Mädchen sind für zirka 30 Euro zu haben. Die Gewinnspannen sind enorm, zwei Entführungen bringen so viel wie ein Jahr Fabrikarbeit.

Der Handel ist straff organisiert. Den Anfang machen die Informanten, die Nachbarschaften auskundschaften. Ihnen folgen die Kidnapper, die ihre Beute an die „Transporteure“ übergeben. Junge Frauen meistens, weil sie am unauffälligsten sind. Sie stellen die Kinder mit Drogen ruhig. Vor einigen Wochen fand die Polizei im Gepäck eines Fernstreckenbusses 29 Kleinkinder, mit Beruhigungsmitteln betäubt, in Körben versteckt, eingepfercht wie Schlachthühner. Eines der Kinder, heißt es, sei unter der Prozedur bereits verstorben. Die „Transporteure“ reichen ihre Ware an die Vermittler weiter, die den Kundenkontakt herstellen. Zwischen den Stationen gibt es Mittelsmänner, keiner der Akteure kennt den nächsten in der Kette, keiner besitzt die Kinder länger als 24 Stunden.

Herr Xu muss weiter, zum Bahnhof, es gibt einen neuen Hinweis. 300 entführte Kinder hat die Polizei im Landkreis Shexian befreit. „In der Zeitung stand erst 23, dann 64 Kinder, es werden immer mehr“, erzählt Xu den Yaos. 34 Menschenhändler seien angeblich festgenommen worden. Aus allen Teilen Chinas eilen jetzt Eltern nach Shexian, in der Hoffnung, dort ihre Kinder zu sehen. Frau Yao will abwarten, sie kann nicht jedem Verdacht nachgehen. Das Schlimmste, sagt sie Xu zum Abschied, ist die Gewissheit, dass ihr Sohn jetzt Mama zu einer Fremden sagt. Dass er vermutlich glaubt, sie habe ihn verkauft.

Das alte China ist in Auflösung, das neue noch nicht erschaffen. Die Kinder fallen in den Abgrund dazwischen. „Der arme Xu“, sagt Tao Hong, 31, der ihn ebenfalls durch das Suchnetzwerk kennt, „er betäubt sich mit der Sauferei.“ Hong kommt gerade von Shexian zurück, fünf Tage war er unterwegs, stehend im Zug, die Nächte auf dem Bahnhof verbringend. Doch seine Tochter hat er wieder nicht nach Hause gebracht. Er wohnt in Huangshi, hundert Kilometer südlich von Wuhan. Im Eingang der Pension, die seinen Eltern gehört, sitzt er auf einem Plastikhocker neben seinem Vater. „Die Polizei in Shexian verglich unsere DNA mit den Proben der befreiten Kindern. Sie hat nicht überein gestimmt.“ Der Vater von Hong schuftete 33 Jahre in der Kohlenmine, ein zäher Mann, diszipliniert, der es gewohnt ist, hart zu arbeiten. Das rechte Bein des Alten zittert jetzt, er krümmt sich, beginnt zu schluchzen. Tao Hong legt seine Hand auf die des Vaters.

Die Zukunft der Familie, das zweieinhalbjährige Enkelkind, das er behüten sollte, hatte er nicht behüten können. Er wollte sich am 29. April 2008 das Gesicht waschen, ließ das Kind an der Rezeption einen kurzen Moment alleine, als ein Hotelgast die Gelegenheit nutzte. Das Kind packte und mit ihm davon lief. Es zappelte in seinem Armen, alle beobachteten es, die Straßenhändler, der Kleiderverkäufer, die Nudelfrau. Sie sahen, wie er mit dem brüllenden Kind die Straße hinunter rannte, das Kleine nach seiner Mama schrie, bis er an der Haltestelle einen Bus bestieg. Zu spät realisierten sie, dass es sich bei dem weinenden Kind um Meng Yuan handelte, der Tochter eines der Ihren.

Sechs Stationen im Stadtverkehr fuhr der Entführer im Bus, hat Tao Hong später recherchiert, das Kind weinte immer noch. Die Spur reißt an der Haltestelle des Fernbus-Terminals ab. Drei Tage hatte der Entführer in der Pension der Familie übernachtet, Mitte 40, kurze Haare. Er schlief im ersten Zimmer links, ein Bett, ein Nachttisch. Gleich neben den Schachtanlagen betreiben die Hongs eine der billigsten Herbergen der Stadt, flohverseucht, hinter der Dusche donnern alle paar Minuten Kohlezüge vorbei. Kurz bevor er das Kind raubte, hatte er mit der Tochter von Hong und dem Sohn seiner Schwester gespielt. Mal wandte er sich dem Jungen zu, mal wieder dem Mädchen. „Ein Traum ist wahr geworden“, bedeutet ihr Name. Sie sah aus wie ihre Mutter, sagt der Vater, den Charakter aber hatte sie vom ihm. Ein fröhliches Mädchen, das gerne tanzte und sang. „Vielleicht“, sagt Tao Hong, „gibt es keine Hoffnung mehr.“

Die Fahrt nach Shexian hat die letzten Geldreserven der Familie aufgebraucht. Wegen seiner Tochter kündigte Tao als Angestellter einer Versicherung, die ihm nicht genug freie Tage geben wollte. Er versucht sich mit einer Kleinspedition über Wasser zu halten, noch aber gibt es kaum Aufträge. Zugleich finden immer weniger Gäste in die Herberge der Hongs. Dieses Schicksal teilen sie mit vielen Eltern entführter Kinder: Die Suche nach ihnen stürzt sie in den Ruin.

Die Konjunktur der Kinderhändler in China boomt dagegen, die Nachfrage nimmt zu. Es gibt Städte wie Dongguan im Süden, da sollen in den letzten Jahren um die tausend Jungs entführt worden sein. Die Mütter schminken aus Angst ihre Söhne zu Mädchen um. Der Kinderhandel erklärt sich nicht mit alten chinesischen Traditionen. Er ist eine Bestie der neuen Zeit. Nach der Einführung der Ein-Kind-Politik 1980 gingen in den Provinzen arme Familien dazu über, ihren „Überschuss“ an Kindern zu verkaufen. Offiziell wurde dies halbwegs toleriert. Doch jene Art von Warenaustausch funktioniert nicht mehr, da es den Menschen durch die Wirtschaftsreformen besser geht. Immer mehr Paare haben das Geld, um zu kaufen, und immer weniger Eltern drängt die Not, zu verkaufen. Jetzt nimmt sich der Markt die Kleinen mit Gewalt.

Die Investitionen in seine Familie hat der Reisbauer Zhi You Liang, 42, über die Jahre systematisch ausgebaut. Er bewohnt im Dorf Xin Qing, in der Südprovinz Guangxi, das erste Haus am Ortseingang, direkt neben der Durchgangsstraße. Die Leute mögen ihn, wie es heißt. Zum Beispiel fasste er den Einwohnern eine Wasserquelle in Beton, ohne dafür etwas zu verlangen. Liang ist Mitglied des Dorfkomitees, des Gemeinderats, und hat auf dem Menschenmarkt nacheinander eine Frau und zwei Kinder gekauft. Es ist Mittagszeit, er arbeitet auf dem Feld, zu Hause trägt der Großvater den dreijährigen Guigui am Bauch, für den Liang vor zwei Jahren 1 000 Euro zahlte. Ein pflegeleichter Junge, sagt der Alte. Weint selten. Das Mädchen Tingting, 6 Jahre alt, Kaufpreis 300 Euro, wurde bereits 2005 erworben. Sie hockt gelangweilt vor dem Fernseher und sieht einen Zeichentrickfilm, in dem der Gute in immer neuen Episoden den Bösen jagt. „Mama“, quengelt sie Richtung Kochnische, wo Frau Liang Gemüse schneidet. „Hunger.“ Die Frau, vor über einem Jahrzehnt aus Vietnam gekauft, flüstert „gleichgleich“ zum Mädchen und legt ihre Wange zärtlich an die der Kleinen.

Tingting haben sie in diesem Jahr eingeschult, erzählt Liang, als er vom Feld heimkommt. Eine fleißige Schülerin, lobt er. Rechenhefte liegen unter einem großen Mao-Portrait. Die Frau des Bauern hat die Polizei vor neun Jahren in ihr Heimatland abgeschoben, bald darauf ist sie aber zurück gekehrt. Sie hat es besser bei ihm. In Guangxi ist es verbreitet, Frauen aus dem angrenzenden Vietnam zu kaufen. Sie wurden entführt oder unter falschen Versprechungen über die Grenze gelockt. Die Chinesen haben viele ihrer eigenen Mädchen abgetrieben, jetzt leiden sie unter einem Überschuss an Männern. Die Liangs sind hier nur eine Familie unter vielen. Sein Vater, über 70, der sich tagsüber um den Kleinen kümmert, brüstete sich früher offen damit, er könne binnen einer Woche ein Kind organisieren. Die Polizei weiß von den Liangs. Sie weiß, dass die Kinder nicht die ihren sind. Doch was soll sie tun? Die wahren Eltern sind unbekannt, und die Beamten scheuen davor zurück, sie in eines der Kinderheime zu geben. Die verkaufen ihre Schützlinge gerne gegen viel Geld an Ausländer in Übersee. Zudem sind die Kinder nach Jahren mit den Familien zusammengewachsen. Sie fühlen sich geliebt, und oft werden sie es auch. Die Rückgabe an die richtigen Eltern kommt so einer „zweiten Entführung“ gleich.

Strafen müssen die Liangs keine fürchten. Der berüchtigte Paragraf 240 chinesisches Strafgesetzbuch. Während Entführer von Kindern mit langer Haft rechnen müssen, im mehrfachen Wiederholungsfall auch mit dem Tod, bleibt das Kaufen entführter Menschen in aller Regel ungeahndet. Es drohen offiziell bis zu drei Jahre Gefängnis. Sie werden aber ausgesetzt, wenn sie die Erworbenen nicht misshandelt haben. So selbstbewusst treten die Käufer auf, dass sie ihr Geld zurückverlangen, falls ihnen die Polizei die Kinder wieder abnimmt. In vielen Orten, heißt es, ist der Handel mit ihnen so verbreitet, dass sich die Polizei nur nachts dorthin traut, um entführte Kinder zu holen. Sie fürchtet den Zorn der Bewohner.

Die Eltern der Entführten sind von den Behörden zum Teil als „gefährliche Bürger“ eingestuft und wollen doch nichts anderes als ihre Kinder. Herr Xu, Frau Yao und Herr Hong demonstrieren für die Verschärfung der Gesetze. Ein Dutzend Väter und Mütter kniete neulich vor dem Polizeipräsidium in Wuhan, mit Bildern ihrer Kinder am Körper. Jedes Mal, wenn ein hoher Beamter ein- oder ausfuhr, knieten sie nieder. Herrn Xu, der betrunken war, gingen die Nerven durch, er versuchte einen Wagen zu stoppen, lieferte sich mit Polizisten eine Schlägerei. 40 Eltern waren es vergangenes Jahr, als sie nach Peking fuhren, um beim Petitionsamt vorzusprechen. Die Polizei erwartete sie schon am Bahnhof. Zu hunderten reisten sie im Juni nach Guangdong in den Süden, doch wieder verhinderten die Behörden eine Zusammenkunft. Es gibt Eltern, die wurden für zwei Wochen inhaftiert. Die die Polizei ständig beobachten lässt. Ihre Proteste aber zeigen allmählich Wirkung. Zum ersten Mal hat Peking eine konzertierte Aktion gegen „die Entführung von Frauen und Kindern“ ausgerufen. Die Polizei in den Provinzen wurde angewiesen mehr zu tun, doch die Polizei sieht sich häufig außerstande: angeblich aus Geldmangel.

„Das ist dein Sohn“, sagt ein Straßenhändler in Wuhan, als ihn Herr Xu das Foto zeigt. Ein Betrüger, hatte Xu zuvor wieder gedacht. Einer, der es wieder nicht ehrlich meint. Der Mann hatte sich auf die Zeitungsanzeige gemeldet. In der einen Hand eine Zigarette, in der anderen seinen Sohn wartete Xu am vereinbarten Treffpunkt auf ihn. „Ganz sicher, das war dein Junge“, wiederholt der Mann. Er habe ihn zusammen mit einer Bande von Dieben gesehen. Er habe ausgehungert ausgewirkt und dünn. „Didi“ hätten ihn die anderen gerufen. „Das ist er bestimmt“, tippt er aufgeregt aufs Bild. Der Mann will kein Geld, keine Geschenke, er hat seinen eigenen Sohn mitgebracht, und er will nur helfen. Yong Zi heiße der Dieb, der den Jungen habe. Irgendwo am Bahnhof wohne er. Es kommt wieder Hoffnung auf in Herrn Xu. Er weiß, dass ist das grausamste Gefühl. Weil es wieder enttäuscht wird.

Er kommt nach Hause zu seiner Frau, mit der er nicht mehr zusammen wohnt. „Hast du ihn gefunden?“, fragt sie ihn. Er schüttelt den Kopf. „Warum hast du noch das Hochzeitsbild überm Bett hängen?“, fragt er zurück. Er hat die Ehe vor vielen Monaten auflösen lassen. Sie war in der Psychiatrie, leidet unter Schreianfällen. Die Scheidung blendet sie aus. Tut, als sei nichts geschehen. Rasch verlässt er das Haus.

In nüchternen Momenten ahnt er es insgeheim. Dass er gar nicht mehr in der Lage ist, ein Kind großzuziehen. „Vielleicht“, sagt Herr Xu, „trinke ich wirklich zu viel.“ Auch wenn er eines Tages seinen Sohn findet. Er hat ihn verloren.

 

 
 
 
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Daniel Traub, New York/ Shanghai
www.danieltraub.net