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PHOTOGRAPHIE Gerd Ludwig / Stefanie Graf

Die Kinder von Asmara
Im Armenhaus von Afrika - wie die Tennisspielerin Stefanie Graf in Eritrea zur Fotoreporterin wird.

 

Die Fäuste des Vaters, der seine Kinder prügelt, ruhen auf den Knien. Er sitzt müde am Bettrand. Zwischen krummen Schultern hängt ein kantiger Kopf. Die Haare bis auf die Haut geschoren. Er ist aus dem Krieg zurückgekommen, einen Urlaubsmonat lang, dann geht er wieder zur Armee. „Du solltest sie nicht so hart auf den Kopf schlagen“, bittet ihn seine Frau. Die Wände der schmalen Wohnzelle sind bis in Kinderhöhe dreckverschmiert, so viele von ihnen leben hier. Drei Mädchen und vier Jungs teilen sich ein Stockbett mit ihren Eltern. Die Lehrerin der achtjährigen Selam hat die Mutter schon mehrfach einbestellt und ihr gesagt: „Haut das Mädchen nicht mehr.“ Es sei ganz still im Unterricht und eingeschüchtert. Ghebrewoldu Tesfay, 41, der Vater, schaut kurz auf. Er trinkt viel. Ihm rutscht häufig die Hand aus, und auch seiner Frau Teklu Ghenet, 32, die alleine mit sieben Kindern zurechtkommen muss. Nur schlägt sie nicht so hart.

Die Tesfays leben in einem Staat, der von fast allem zu wenig hat, aber eines im Überfluss: der Gewalt. In dreißigjährigen Kämpfen errang Eritrea seine Unabhängigkeit, zunächst in Guerillakriegen, dann in Bürgerkriegen, schließlich behauptete es sie in Stellungskriegen. Kein anderes Land auf der Welt hält so viele seiner Bürger unter Waffen. Kein anderes gewährt ihnen, wie Menschenrechtsorganisationen beklagen, so wenig Meinungsfreiheit. Eritrea hat gespannte Beziehungen zu fast allen seinen Nachbarn, von überall fühlt es sich bedroht. Es ist der jüngste Staat Afrikas und gehört zu den zehn ärmsten der Welt. Im wiederum ärmsten Viertel seiner Hauptstadt Asmara, an einem Hang über dem Regierungsviertel, steht der Verhau, in dem die Tesfays ihre Kinder großziehen. „Sie sind sehr schwierig“, sagt Ghenet zu ihrem Mann. „Immer liegen sie mir in den Ohren: Wir wollen das, das, das.“ Sie seufzt. „Das tun meine Kinder auch“, pflichtet ihr eine Frau bei, die heute zu Besuch gekommen ist, zwischen den Kindern der Tesfays auf einem Hocker sitzt, blond, hochgewachsen, aus einem fernen Land.

Für Ghenet ist sie einfach nur eine ausländische Fotografin, die Bilder von ihrer Familie machen will. Für die meisten anderen Menschen ist sie eine der wichtigsten Sportlerinnen der Gegenwart. Stefanie Graf, siebenmalige Wimbledon-Meisterin, die 22 Mal den Grand Slam gewann, hat sich nach Ende ihrer Tenniskarriere weitgehend aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Nur zur Unterstützung ihrer Stiftung „Children for Tomorrow“ sucht sie noch das Rampenlicht. Die zweifache Mutter nutzt ihren Namen, sammelt Spenden in Millionenhöhe, um Therapieeinrichtungen für traumatisierte Kinder aufzubauen. Eritrea ist der bisher härteste Einsatz ihrer Stiftung, die dem Wohngebiet der Tesfays einen Kindergarten schenken will. Lediglich neun Hilfsorganisationen wagen sich in dieses Land, das sich vor ausländischem Einfluss abschirmt. Wie Treibsand ist hier die Bürokratie. Je heftiger man strampelt, desto tiefer sinkt man ein.

Zu den Tesfays führt Stefanie Graf noch ein anderer Grund. Er hat nichts mit Sport oder der Stiftung zu tun, sondern mit einem bisher nicht gelebtem Traum. Wäre sie nicht so erfolgreich im Tennis geworden, hätte sie Fotoreporterin werden wollen. Als Jugendliche bewunderte sie Kriegsfotografen und die Bildstrecken von National Geographic. „Mehrere Jahre habe ich damals diese Idee mit mir herumgetragen“, sagt sie. Die Welt mit der Kamera erfahren, beobachten statt reden. „Ich bin kein Mensch der Worte.“ Nach 23 Stunden Flug, formellen Minister-Einladungen und Fernsehauftritten scheint sie im Haus der Tesfays zum ersten Mal auf dieser Reise ganz bei sich zu sein. Trotz Armut und Elend. Sie ist den Familien, denen sie helfen will, nicht begegnet – bis heute. Ghenet, was „Himmel“ bedeutet, hält ihr einen rostigen Topf frisch gerösteten Kaffees entgegen. Mit geschlossenen Augen zieht Graf seinen Duft ein.

„Selam, hilf ihm doch!“, braust in diesem Moment der Vater auf, als der Zweijährige über die Türschwelle stolpert. Das Mädchen zuckt zusammen, erwartet den nächsten Hieb. Sie hört nicht, klagen die Eltern. Sie ist begriffsstutzig, dumm; vielleicht, mutmaßt die Mutter, weil er ihr als Kleinkind einmal zu heftig auf den Schädel schlug. Der Zweijährige weint. Selam schweigt.

Es heißt über die Menschen, die in dieser Gegend wohnen: Sie haben einen Trost. Sie können im Leben nicht tiefer fallen. In Abashawil hausen die Ausgestoßenen, die an den Stadtrand Gedrängten. Das größte Rotlichtquartier Eritreas. Heimat der Huren. Hochburg der halblegalen Bierbrauerinnen, deren Mixturen nicht selten krank machen. Brutstätte von Krankheiten. Letzte Zuflucht von Äthiopiern, die im Land schikaniert werden, wie umgekehrt auch die Eritreer in Äthiopien. Vier Prozent der Kinder von Abashawil gehen zur Schule. Einen Arzt kann sich kaum jemand leisten. Adler kreisen über Bergen von Abfall. Die Gassen sind voller Exkremente. Wenn sie in der Sonne trocknen, wirbeln sie als Staub durch die Türen. Die Tesfays gehören hier zu denen, auf die selbst die Huren mit Verachtung schauen. Denn der Arbeitsplatz der Familie ist die öffentliche Toilette, die Ausscheidungen des Viertels fließen bei ihnen zusammen - dem zwölfjährigen Faliek vor die Füße. Er ist der älteste Sohn der Tesfays. Er kassiert die Klo-Gebühr und teilt Putzpapier aus. Prügel auch. Ein Junge wie eine Faust.

Die Väter sind an der Front zu Äthiopien, genießen dort eine labile Waffenruhe, während die Kinder in Abashawil ihre eigenen Kriege führen. Das Leben von Faliek ist eine endlose Abfolge von Schlachten. „Du wirst uns eines Tages noch ins Gefängnis bringen“, warnt ihn Mutter Ghenet. Er drangsaliert die Kinder des Viertels, die Eltern beschweren sich bei ihr. „Pass besser auf deinen Sohn auf!“, schreien sie über die Wellblechwand, hinter der die Tesfays leben. „Wir brechen ihm sonst alle Knochen!“ „Wächter des Scheißhauses!“ necken ihn die Kinder der Huren und rasen davon. Manchmal ist Faliek ganz von Sinnen. Prügelt ohne aufzuhören. Prügelt, ohne dass ihn Erwachsene von seinem Opfer trennen können. Der Kopf ist bereits kantig geschlagen wie der seines Vaters, zernarbt, übersät mit Blessuren. Auch wenn er lacht, behalten ihn die kleinen Kinder immer im Auge. Wie es Hasen tun, die einen Habicht sehen.

Eine Welt der Erwachsenen gibt es in Abashawil und eine der Kinder. Selten berühren sie einander. Zu viel haben die Großen mit sich selber zu tun. In Rudeln grölen die Kinder durch das Viertel, mit Stöcken tragen sie Rangkämpfe aus. Sie sind nicht fair. Sie überziehen die Verlierer mit lauten Spottgesängen. Bewerfen sich mit Steinen, liefern sich verbissene Artilleriegefechte, die durch ihre Gesichter eine Spur aus Platzwunden ziehen. Von den Schlachtfeldern in Abashawil steigen kleine Staubwirbel auf, hier und da, Straße für Straße, den ganzen Hang hinauf bis zur Bergspitze. Dort thront jetzt über allen der neue Kindergarten von Stefanie Graf. Ein zweiflügliges Gebäude, Marmorboden, Satteldach, schön weiß verputzt. Er soll den Familien in Abashawil dabei helfen, ihre Kinder zu bändigen. „Kindergarten“ nennt die Stiftung die Anlage mit Rücksicht auf eritreische Empfindlichkeiten. Das autokratische Regime redet ungern über den hohen Preis, den die Zivilbevölkerung für die Kriege zahlt. Zwei psychologisch besonders geschulte Mitarbeiterinnen sollen schwierige Kinder therapieren. Mit Zuwendung, mit Gesprächen, mit der Maltherapie. Sie wollen die bösen Geister aus ihnen locken, die Alpträume, um sie dann zu bezwingen.

Die sieben Kinder der Familie Tesfays sind wie Jahresringe der jungen Nation. Kurz nach der Unabhängigkeit wurde die Älteste geboren, Samrawit. „Der in Erfüllung gegangene Wunsch.“ Zwei Jahre später kam Danait, was „die Richterin“ bedeutet, denn damals stritten die Eltern sehr. Mit „Selam“ beschwor die Mutter den „Frieden“. In diesem Jahr war ihr Mann wieder im Krieg, in dem Tausende fielen. Die Fronturlaube ließen die Familie weiter wachsen. Der Kleinste, Nebi, zwei Jahre, kullert beim Schlafen immer wieder aus dem Bett, so eng ist es dort mittlerweile. Heute nacht hörten sie wieder den dumpfen Knall. „Der Kopf ist ganz geschwollen“, klagt seine Mutter. Er sollte in den staatlichen Kindergarten, aber sie hat nicht das Geld dafür. Am meisten Sorgen bereitet ihr die Älteste. Ein hübsches Mädchen, 16 mittlerweile, die als Kind wie Fialek jeden Tag am Eingang der Toilette hockte. Die vieles sah, wie die Mutter sagt. Viele Schlägereien, viele Männer. Bei denen schläft sie jetzt, immer mal wieder bei einem anderen, Ghenet, ihre Mutter, weiß nicht, wo. Der Vater sagt zu alldem nicht viel. Er kennt die Kinder kaum, abwesend wirkt er. Als er sei schon abgereist oder nie angekommen.

Der Militärgeheimdienst ist dieser Tage im Viertel. Männer in Zivil halten nach Deserteuren Ausschau. Faliek beobachtet sie von seinem Toilettenposten aus. Immer wieder flüchten Soldaten zu ihren Familien. Sie wollen etwas dazu verdienen, um ihre Frauen im Überlebenskampf zu unterstützen. In Eritrea werden die Menschen zwangsweise in der Armee gehalten. Wegen angeblich ständiger Invasionsgefahr aus Äthiopien wurde die Befristung der Dienstzeit aufgehoben. Wehrdienst für immer.

Das zweitjüngste Kind der Nachbarn starb, weil sich niemand kümmerte. „Er war so schön, als er zur Welt kam“, erinnert sich die Großmutter Kahsu Yeshareg, die mit den drei noch lebenden Kindern in einer Kammer an der Rückwand der Tesfay-Hütte wohnt. Die Alte ist halbblind, rippendürr und hat eine Haut wie Baumrinde. Ihre Hände gleichen Wurzelholz, lang und knorrig legen sie sich über das Jüngste. Melody, neun Monate. „Das hier wird auch schon dünner und dünner.“ Die Kleine bekomme nur billigstes Milchpulver, aber das vertrage es nicht. Reshan, die 24-jährige Mutter, wolle nicht stillen, weil es ihrer Arbeit als Prostituierte hinderlich sei. Der Zweitjüngste ist mit anderthalb Jahren in der Obhut einer Kinderfrau gestorben, die ihn sich selbst überlassen hatte. Der Vater war damals im Gefängnis, und die Großmutter weigerte sich strikt, einen weiteren Enkel aufzunehmen. Da hatte Reshan schon zwei bei ihr abgegeben. „Sie ist wie eine Katze“, klagt die Alte. „Wirft Junge und lässt sie dann allein.“

 


Die Familie ist kurz vorm Auseinanderbrechen, seidene Fäden umschnüren sie. „Ich verkaufe Tee“, sagt Reshan zu Stefanie Graf, als sie in die Hütte der Großmutter kommt. In Wahrheit verdingt sie sich als Hure. Grell geschminkt sitzt sie nachts auf einem Bettgestell, bei offener Tür, und wartet auf Kunden. Sie ist meistens betrunken. Die Leute in Abashawil reden über sie. Widerwillig kam die Mutter heute zu ihren Kindern, um den ausländischen Besuch zu sehen. Graf erkundigt sich, ob sie von dem neuen Kindergarten wisse. Reshan verneint, klagt über verdoppelte Lebensmittelpreise, dann verebbt das Gespräch. Ihr Gesicht ist von Schnittwunden zerfurcht, viele Zähne der jungen Frau sind ausgeschlagen. Der Vermieter des Zimmers, wo sie mit den Kunden schläft, hat sie neulich auf die Straße hinaus geprügelt. Sie übel zugerichtet. Sie konnte die Miete nicht zahlen. Reshan knabbert dem Baby Dreck vom Ohr, legt es wieder der Großmutter in den Arm und geht zur Arbeit. Zehn Kunden braucht sie am Tag, und der Tag fängt für sie erst an.

Zurück bleiben ihre Mutter und drei Kinder, auf 1,5 mal vier Metern, mit Uringeruch und einem Brotbrei als einziger Mahlzeit. Die Alte klagt, Reshan bringe zu wenig Geld für das Essen. „Wenn sie noch mal schwanger wird“, jammert sie, „werde ich verrückt. Das nehme ich nicht. Das kann dann irgendjemand nehmen.“ Reshan ist ihr jüngstes Kind, das ältere, ein Sohn, ist vor zehn Jahren im Krieg ums Leben gekommen. „Ich frage Gott jeden Tag: Warum hast du ihn genommen? Du hättest Reshan nehmen sollen!“

Faliek, der Nachbarsohn, schleudert einen Felsbrocken auf die Tochter der Hure Reshan, die Neunjährige schreit nach ihrer Großmutter. Doch die kann ihr nicht beistehen. Sie verlässt ihre Hütte seit Wochen nicht. Die Beine wollen nicht mehr.

Die Fotografin Stefanie Graf tritt den Familien in Abashwail schüchtern gegenüber. Sie geht mit der Kamera ungern nah heran. „Ich kenne das von mir“, sagt sie. „Ich mag das auch nicht.“ Mit der Ausrüstung um den Hals wandert sie durch das Viertel, hält inne, kniet sich in den Staub und stellt scharf. Ob sie sich gerne als weiße Herrenfrau an der schwarzen Armut delektiere, fragt sie da ein Student. Graf ist verwirrt. Sie muss viel erklären. Sieht sich plötzlich auf der Seite der Fotografen, die sie sonst auf Distanz hält. Ein Rollenwechsel. Für sie sind die Tage in Eritrea gleich zweifach eine Reise in eine andere Welt.

Ein Regenschauer prasselt auf Abashawil, eine schwarze Wolkenwand kämmt über die Wellblechdächer. Die Straßen wandeln sich zu Schlammbächen, die endlich die Fäkalien mit sich reißen. Rinnsale sickern in die Wohnungen, bilden Pfützen in den Bodenkuhlen. Die Kinder steigen auf die Betten, hüllen sich ein. Es hustet in diesen Tagen aus jedem Haus, Rotz plombiert die Nasen. Unter dünnen Decken zittern ihre Körper. Es gibt welche, die Fieber leiden und solche, die mit Lungenentzündungen ringen. Wie aus einem Flussdelta fließt in den Straßen Abashawils das Wasser ins Tal, wo die Plätze zu Seen werden und Geschäftstüchtige ihre Fahrräder als Fähren anbieten.

Das Schlimmste droht wieder. Der Krieg. Das flüstern sich die Erwachsenen zu. Gerüchte durchdringen Abashawil wie Schimmelsporen. Die Feindseligkeiten zwischen Eritrea und Äthiopien nehmen zu. Es heißt, Eritrea habe 120 000 Soldaten an der Grenze zusammengezogen, denen 100 000 Äthiopier gegenüberstehen. Die UN-Friedenstruppe verlässt die Pufferzone zwischen den Ländern. Auf Sichtweite zu den äthiopischen Stellungen sollen eritreische Truppen aufgerückt sein. Zugleich bricht im Süden an der bisher ruhigen Grenze zum französischen Dschibuti ein neuer Konflikt auf. Eritreische Einheiten besetzen unbewohnte Gebiete, die sie für sich beanspruchen. Es kommt zu Scharmützeln. Unterdessen wird die Armut im Land unerträglich. Täglich sollen im Schnitt 50 Eritreer über die Grenzen in den Sudan fliehen, 25 000 waren es 2007. Viele Bootsflüchtlinge, die beim Überqueren des Mittelmeeres ertrinken, stammen aus dem Kleinstaat am Roten Meer.

„Ich habe keine Wahl“, sagt Hermon*, 24, der seine letzten Tage bei der Familie in Abashawil verbringt. Er spricht Englisch. Kein Dolmetscher in Eritrea würde das Risiko auf sich nehmen, ein Gespräch wie dieses zu übersetzen. Die fünf jüngeren Geschwister scharen sich um Hermon, einige weinen. Seine Mutter verbirgt ihr Gesicht. Auch er will die lebensgefährliche Reise in den Sudan unternehmen. Ihre Vorfahren zogen von Äthiopien nach Asmara, als es noch keine Grenze gab. Seit der Unabhängigkeit gelten sie als Angehörige einer feindlichen Macht. Die meisten Äthiopier sind in tiefe Armut gefallen, ihre Geschäfte wurden geplündert, ihre Jobs gekündigt. Die Eltern von Hermon verloren nacheinander die Arbeit. Immer mehr Äthiopier enden in Abashawil. Zur Schikane haben ihnen die Behörden eine Ausländersteuer auferlegt. 600 Nakfa waren es sonst, heuer müssen sie plötzlich 2400 (rund 100 Euro) für jeden Erwachsenen zahlen. „Wir wissen nicht, wie wir das zahlen sollen“, sagt Hermon. Ethnische Säuberungen steuert in Eritrea das Schatzamt. Die meisten Äthiopier im Viertel verließen in den vergangenen Monaten das Land. Hermons Familie ist eine der letzten.

Die Mutter hat vor vier Monaten in den Straßen Asmaras mit dem Betteln begonnen. „Es war eine schwere Entscheidung“, sagt sie. Lange habe sie gezögert. Aber ihr Mann ist todkrank. Er wird nur noch wenige Monate leben. Die kleinen Kinder versuchen, dazuzuverdienen. Der Neunjährige verkauft Kaugummis, an den Bushaltestellen, vor den Marktständen, neben den Bordellen. Er läuft ruhelos durch die Nächte und bringt Cent-Beträge nach Hause. So viel wie ein ein Stück Seife kostet.

Hermon ist der Älteste. Er will die Familie vor dem Untergang bewahren und sie aus dem Ausland mit Geld unterstützen. Ein Alptraum steht ihm bevor. Er wird die Minenfelder an der Grenze durchqueren, den Patrouillen mit Schießbefehl entgehen. Die Schleuser mit seinem Ersparten bezahlen. Er wird sich vor den sudanesischen Behörden verstecken. Ein Jahr lang warten und Geld verdienen für die noch riskantere Weiterreise durch Sahara und über das Mittelmeer. Seine Freunde warnen. Tot nützt du deiner Familie nicht. Eines Tages aber, ist sein Traum, kann er zum Telefonhörer greifen, zu Hause in Abashawil anrufen und seinen Geschwistern sagen: Ich habe es geschafft.

Das Unvermeidliche geschieht. Am Ende ihres Aufenthalts bittet der Tennisverein von Asmara Stefanie Graf um eine Gasteinlage. Ihre Laune hat gelitten in den letzten Tagen. Sie ist den Umgang mit autokratischen Regimes nicht gewöhnt und auch nicht den mit Ministern, die ihre Karriere als Guerillakämpfer begannen. Von einem „unguten Gefühl im Bauch“ spricht sie später und von „Repressalien“, aber auch davon, wie viel ihr das Kindergarten-Projekt in Abashawil bedeutet. Also stimmt sie zu. Überwindet ihre Vorbehalte. Betritt mit bemühtem Lächeln den Tenniscourt und wechselt einige Bälle mit Kindern, deren Eltern auf der Sonnenseite des Einparteienstaates leben. Wenig später ist sie wieder in der Luft und fliegt über London zurück nach Las Vegas zu ihren Kindern. Noch ein ganzes Jahr wird es dauern, bis die therapeutische Arbeit im Kindergarten aufgenommen werden kann.

Derweil ist auch Tesfay am Packen. Sein Urlaub ist abgelaufen. Er hat versucht, weniger zu trinken. Die Wutausbrüche zu reduzieren. Die Kinder hatten sich schon fast an ihn gewöhnt und er sich an sie. Er weiß nicht, wann er sie wiedersehen wird. Einmal mehr geht ihr Vater in den Krieg.

* Name geändert

 

   
 
 
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PHOTOGRAPHIE
Gerd Ludwig, Los Angeles
www.gerdludwig.com
Stefanie Graf, Las Vegas
www.steffi-graf.net