Das Land der 1000 Tunnel

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Der Gazastreifen liegt abgeriegelt hinter Mauern.
Doch unter der Erde strömen Menschen und Waren durch immer neue Schmuggeltunnel.

 

PHOTOGRAPHIE Kai Wiedenhöfer

 

Unter der Erde reißen sie die Köpfe hoch, still werden sie, als sie das Geräusch hören, kein Rufen mehr im Stollen, kein Brüllen. Die beiden Männer starren hinauf, Nasir und Ibrahim, den Bauch auf Dreck, den Rücken an den Brettern, die die Decke stützen. Einen schmalen Spalt haben sie der Erde abgerungen, 40 Zentimeter hoch, in ihn pressen sie jetzt ihren Atem. „Gott steh uns bei!“, flüstert Nasir*, 23. Der Schweiß rinnt ihm in die Augenhöhlen. Das Geräusch ist nicht laut, aber unüberhörbar. Dumpf fällt von oben Lehm auf die Latten, unter jedem Klumpen erzittern sie. Die beiden lauschen den Aufschlägen. Sie kommen kurz hintereinander und dann wieder mit Pausen. Tok-tok-tok. Es ist der Klang von Erde, das auf einen Holzsarg klatscht. „Im Namen Gottes!“, sagt Ibrahim, 22, der ihn sonst so selten ausspricht. Nur vier Bretter verhindern, dass die Männer begraben werden. Unter der wachsenden Last beginnen sie sich durchzubiegen. Dieser Tag, wusste Nasir schon beim Aufstehen, wird kein guter Tag. „Ich oder du“, sagte er zu Ibrahim, bevor sie zusammen in den Tunnel stiegen. „Einer von uns wird heute sterben.“

Über ihre Fußspitzen hinweg blicken sie zurück zum Ausgang. Sand beginnt jetzt durch die Spalten zwischen den Deckenplanken zu rieseln. Hinter ihnen liegen 600 Meter Gänge, in denen sie kriechen müssen, in der Hocke gehen, selten aufrecht laufen können. Alle hundert Meter brennt eine nackte Glühbirne, an der Lehmwand sind die Stromkabel geführt, die Telefonleitung, bis ganz zum Einstiegsschacht. Zehn Meter reicht der hinauf, ausgestattet mit einer Stahlwinde, die bei Schichtende sirrend Richtung Sonne zieht. Sie wirft ihr Licht auf ein pockennarbiges Land.

Der Gazastreifen. 40 Kilometer lang, an seiner schmalsten Stelle sechs Kilometer breit, 1,5 Millionen Menschen. Quadratmeterfläche eines größeren deutschen Landkreis. Eines der am dichtesten bevölkerten Gebiete der Welt und auch ihr größtes Gefängnis. Israel baute eine Betonmauer um den Küstenstreifen, nachdem die islamistische Hamas die Regierung übernommen hatte. Gewaltig wie ein Gebirgszug ragt sie in der Landschaft auf, fast dreimal so hoch wie die Berliner Mauer, ebenmäßig und abweisend grau, mit Todesstreifen und integrierten Geschütztürmen aus Stahl. Nahezu nichts kommt rein und nahezu nichts kommt raus. Weder Menschen noch Waren. Israel möchte die Hamas brechen. Ganz Gaza nimmt es dabei in Geiselhaft. Die einzige Verbindung nach draußen sind die Tunnel der Schmuggler im Grenzort Rafah. Zu hunderten, wenn nicht zu tausenden perforieren sie den letzten Kilometer vor Ägypten. 1500 sollen es mittlerweile sein. Es wächst kein Baum hier, nicht einmal Gras kann sich halten. Frische Erdhaufen überziehen die Gegend und Krater, die sich mit rostigem Wasser füllen.

Ein Land geht in den Untergrund. Der Krieg, den Israel im Januar 2009 führte, sollte die Tunnelanlagen zerstören. So viele Bomben fielen auf sie. Ein Jahr später sind es mehr denn je. 30 000 Menschen, heißt es, leben vom Schmuggelgeschäft. Es kursieren Schätzungen, wonach 90 Prozent aller Handelsgüter den Gazastreifen unterirdisch erreichen. Kühlschränke, Kühe, Orangen, Geländewagen. Aber auch Waffen und Drogen. Nirgendwo auf der Welt gibt es Schmuggel von solchen Ausmaßen. Die Ägypter wollen ihn mit dem Bau einer 30 Meter tiefen Stahlwand stoppen. Doch die Unternehmer der Unterwelt ersinnen bereits Methoden, auch sie zu brechen. „Unsere Seele wohnt in den Tunneln von Rafah“, sagt ein bekannter palästinensischer Kolumnist. In den Tunneln, fürchten viele, geht sie ihnen eines Tages auch verloren.

   


Es gelingt Abel und Ibrahim, die Stollendecke zu stabilisieren. „Du Hurentochter!“, brüllt Ibrahim die niederprasselnde Erde an. „Halt endlich dein verdammtes Maul!“ Sie lösen sich aus ihrer Starre, spannen zusätzliche Holzpfeiler zwischen Decke und Boden. Schreien sich Flüche und Arbeitsanweisungen zu. Vor einer Woche ist an dieser Stelle der Tunnel auf einer Länge von sechs Metern eingebrochen. Plötzlich, um drei Uhr in der Nacht. Ein Jahr lang hatten sie sich nach Ägypten vorgegraben, unter den drei Grenzmauern hindurch, 900 Meter weit, als auf offener Strecke die Decke nachgab. Das wirft ihren Zeitplan durcheinander, längst hat der Besitzer den Tunnel in Betrieb nehmen wollen. Ihm geht allmählich das Kapital aus. Er kauft nur noch billigste Materialen, klagt Ibrahim. Feuchtes Holz, die Reste schon einmal gesplitterter Balken. Die beiden schaffen es, einen neuen Eisenträger aufzustellen. Die Erde kommt zur Ruhe. Das Prasseln über ihnen lässt nach. „Wir kriegen das in den Griff,“ sagt Ibrahim irgendwann, barfuß, in Unterhemd und aufgekrempelter Trainingshose. Er lacht, steckt sich eine Zigarette an, kurz bevor die Seitenwand abkippt und ihn unter sich begräbt.

Nasir und Ibrahim kennen sich seit Kindertagen. Freunde sind sie nicht unbedingt, zu unterschiedlich ist ihr Temperament, vielmehr sind sie eine Symbiose eingegangen, die beiden Nutzen bringt. Nasir, hängende Schultern, gebeugter Gang, ist der leisere, der überlegtere, auf den Ibrahim hört. Die ganze Familie lebt von seinem Lohn. Journalismus hat er studiert. Er hat mal für eine Weile bei einem TV-Sender gearbeitet. Den Eltern verschwieg er lange, womit er sein Geld verdiente. Als Nasir es seiner Mutter gestand, erlitt sie einen Herzinfarkt. Ibrahim, kräftig, hochgewachsen, ist stolz und hitzköpfig. Bei den Israelis saß er als Jugendlicher im Gefängnis. Hinter ihn duckt sich Nasir, wenn es mit anderen zu Streitereien kommt. Nasir denkt, Ibrahim schreit. Ibrahim hat wie sein Vater lange als Fliesenleger gearbeitet. „Ich gebe dir jeden Tag eine Packung Zigaretten und sieben Schekel dazu, wenn du nicht in die Tunnel gehst“, flehte ihn neulich die Mutter an. Jede Woche gibt es Tote in den Gruben. 160 sollen bislang in ihnen gestorben sein, doch Ibrahim hat Glück. Nasir gräbt den Verschütteten mit bloßen Händen aus dem Schlick. Er atmet und wird in die Klinik gefahren, bewusstlos, aber fast unversehrt.

Ägypten scheint am nächsten Tag so unerreichbar wie nie zuvor. Ratlos sitzen die Arbeiter auf dem Erdhaufen vor dem Unfallschacht. Um sie herum, florieren die Geschäfte. 30-Tonner schaukeln auf den Sandpisten und nehmen bestellte Ware auf. Zum Sichtschutz haben die Händler Zelte aus Plastikplanen auf die Schächte gesetzt. Solche, wie sie im Gemüseanbau verwendet werden. In acht Reihen hintereinander staffeln sie sich. Kiste um Kiste ziehen die Tunnelmannschaften mit Elektrowinden aus der Erde. In der Tiefe existiert eine Art Schienensystem. Die Schmuggler haben die Stollensohle mit Gummimatten ausgelegt. Das sind die Gleise. Als Züge dienen die gleichen Gummimatten, diesmal aber zu langen halboffenen Schläuchen umgearbeitet. In die packen die Tunnelarbeiter auf ägyptischer Seite die Waren. Über mehrere Winden werden sie an Stahlseilen unter der Grenze hindurchgezogen. Wie Lindwürmer gleiten sie durch das verzweigte Röhrennetz. Donnernd rauschen die Frachtzüge durch den Lehm. Sie kreuzen sich, unterqueren einander oder fahren parallel. Ein Verkehr wie in der New Yorker U-Bahn. Die größten Stollen können Autos befahren, die kleinsten nur kriechend begangen werden. So sehr boomt das Schmuggelgewerbe, dass in Rafah der Platz rar geworden ist unter Tage.

Es bleibt Ibrahim nicht viel Zeit, um sich am wiedergewonnenen Leben zu freuen. Das Röntgenbild hängt im Zelt als Trophäe über seiner Schlafmatte. Am Morgen nach dem Unfall trägt er eine Armschlinge links, mit zugeschwollenen Augen schaut er auf die streikende Belegschaft. Sieben Mann schreien, rufen, treten in den Staub. „So machen wir nicht weiter“, rafft sich Ibrahim auf. „Wir haben seit einer Woche kein Geld bekommen.“ Er und Nasir sind verantwortlich für die Jungs der Tagschicht. Im Halbkreis stehen sie um den Verletzten. Sie alle arbeiten aus den unterschiedlichsten Gründen hier. Zwei verstecken sich vor ihren Vätern, weil diese ihnen nicht erlauben, das Mädchen ihrer Träume zu heiraten. Immer wieder rufen die Mütter weinend auf ihren Handys an. Einer kam vor zwei Wochen aus dem Knast, der Computerfreak, der sich in das System eines palästinensischen Mobilfunkbetreibers gehackt hatte. Der Bärtige ist vor der Hamas davongelaufen, weil er eines ihrer Mitglieder beleidigte. Es gibt für ihn keinen sicheren Ort, sagt er. „Wenn sie kommen, verschwinde ich in den Tunneln.“ Viele der Jungs in Rafah haben vor der Blockade stundenweise im Waffenschmuggel gearbeitet. 300 Dollar für zwei Stunden, sagt einer, habe die Hamas bezahlt. „Aber sehr riskant.“ Dann ist da noch „Nems“, wie sie ihn nennen. Sein Stiefvater brachte ihn zum Schacht, weil er sich weigerte, zur Schule zu gehen. Nems ist 14, nur die leichtesten Arbeiten lassen sie ihn verrichten, versichern alle. Viele Schulkinder verdingen sich in den Tunneln. Flink wie kein anderer bewegt sich der Kleine durch die Gänge. Vornüber gebeugt stößt er sich ab, mit beiden Beinen gleichzeitig, und hoppelt wie ein Kaninchen im Erdloch.

Die Streitereien ums Geld brechen fast täglich auf den Grubenfeldern aus. Zu groß ist der Druck unter Tage. Das Gebrülle übertönt alle Generatoren und Maschinen. Die Hamas hat zur Schlichtung von Konflikten eine spezielle Tunnelpolizei aufgestellt. „Ihr habt seit einer Woche nichts gemacht!“, wirft der Stollenbetreiber Ibrahims Männern vor. Er heißt Hassan und mit 24 Jahren so jung wie die meisten seiner Arbeiter. Er markiert gerne den starken Mann. „Du darfst einen Arbeiter nie loben. Ist er gut, sag ihm, dass er besser werden muss und gib ihm ein Geschenk.“ Der gelernte Krankenpfleger wirkt in seiner Rolle oft überfordert. „Ich komme zum Schacht,“ klagt er, „und sofort fallen alle über mich her.“ Zusammen mit einem Partner hatte er den Tunnel vor einem Jahr für 30 000 Dollar gebraucht gekauft. Weitere 150 000 Dollar will er seitdem investiert haben. „Er ist am Ende“, sagen die Arbeiter. „Der ist total unter Druck.“ Hassan beharrt darauf, sie nur für jeden neu gegrabenen Meter zu bezahlen. Ehernes Tunnelgesetz in Rafah. „Seit einer Woche arbeitet ihr an der gleichen Stelle.“ „Wir können nichts dafür!“, schreit Ibrahim mit staub-rauer Stimme. Den restlichen Tag verbringen er und seine Mannschaft im nahen Zelt des Café Brasil, eigens errichtet für die Mineure, und starren schmollend auf ägyptische Komödien im Fernsehprogramm. „Ägypten“, seufzt Nasir, der Gaza nie verlassen hat. „Die Mutter aller Länder. Wenn ich dort bin, will ich die Pyramiden sehen.“

Die Schüsse hören sie im Café Brasil kurz vorm Abendgebet. Ibrahim geht kurz vors Zelt und setzt sich dann wieder. „Die Ägypter“, sagt er mit schmerzendem Arm. Schmuggler verteidigen auf der anderen Seite der Grenze ihre Stollen gegen die Polizei. Während des Abendgebets verstummen die Gefechte, danach flammen sie wieder auf. Eine Stunde lang halten sie an. „Wartet ab, jetzt regeln die das mit Geld“, sagt Ibrahim zum Fernsehpublikum. Gazas Probleme fressen sich zunehmend ins Nachbarland. Die ägyptischen Beduinen, die Bevölkerungsmehrheit auf dem Sinai, haben mit dem Schmuggel eine hoch profitable Einnahmequelle entdeckt. Ihr Anteil an jeder transportierten Tonne beträgt 50 Prozent. Ein Milliardengeschäft. Ungern lassen sie sich das streitig machen. Sie kontrollieren die logistische Kette ins ägyptische Hinterland, die Speditionen, die Häfen. Zollbehörde und Polizei sind durchsetzt mit ihren Spionen. Doch Ägypten ist international stark unter Druck. Der Schmuggel vollzieht sich hier nicht so offen wie im Gazastreifen. Jede Woche sprengen die Sicherheitskräfte Tunneleingänge. Die sind getarnt mit Brettern und Sand. Enden im Fußboden von Häusern, nicht als Schächte, sondern als steil abfallende Rampen. So lassen sich die Lastwagen rascher entladen. Nur kurz werden die Luken geöffnet, um hastig die Waren aufzunehmen.

Ibrahim schickt seine Leute am nächsten Morgen wieder hinab. Zu viele Löhne stehen aus, sagt er ihnen, es wäre unsinnig jetzt zu kündigen. Trotzdem wird nicht gearbeitet. Ein Elektriker von der Hamas kontrollierten Stadtverwaltung ist gekommen und hat ihnen die Stromkabel gekappt. Routineüberprüfung. Deren Aufhängung sei nicht ordnungsgemäß gewesen.

Fernab von den Staubgruben, in denen der Tod ist und auch das Glück, speist Abu Ahmed an einer reich gedeckten Tafel am Meer. Der Wind weht das Tischtuch über die Kanten, zartes Fleisch zieht Abu Ahmed von den Gräten. Der Mittfünfziger pflegt seinen Ruf als Gourmet, das Leben, sagt man, drehe sich bei ihm ums Essen. Er ist einer der Großen unter Gazas Schmugglern. Noch nie hat er einen der Tunnel betreten. Bedeutende Gäste empfängt er gerne im Garten seines Chalets. „Fisch aus Ägypten“, sagt er dem untersetzten Bärtigen gegenüber. „Heute bestellt, heute gekommen.“ Eine Machtdemonstration, dezent kredenzt. Der Bärtige lächelt. Er ist Brausefabrikant, seine Fertigung wurde im Krieg 2009 zerstört und nun will er sie wieder anlaufen lassen. Dazu braucht der Unternehmer Geschmackszusätze aus dem Westen. Als der Gast geht, schalten Abu Ahmed und sein Assistent ihre Handys an. Sechs haben sie davon. Die blinken sofort wie Spielautomaten. Gaza braucht Nachschub.

Jedes Telefonat setzt in Ägypten einen Lkw und sogar Lkw-Kolonnen in Bewegung. Abu Ahmed macht sich selten Notizen. Er koordiniert hunderte von Schmugglern auf beiden Seiten der Grenze. 50 Xerox-Kopierer aus Deutschland fordert ein Elektrogroßhändler an. Jemand will 1000 amerikanische Reifen für Traktoren. 2500 Matratzen aus China. Zwei Lastwagen Kühlschränke, die großen. Der erste sei er gewesen, der sie am Stück durch die Tunnel bekam. Von Bückhöhe erweiterte er seine Tunnel auf 1,80 Meter. Mittlerweile bekommt er Geländewagen hindurch, in vier Teilen zerschnitten. Drei Wochen brauchen Werkstätten in Gaza, um sie anschließend wieder zu flicken. Den Einkauf in Ägypten erledigen Mittelsmänner, mit denen Abu Ahmed stündlich in Verbindung steht. Die für den Schmuggel bestimmten Waren verstauen sie dort zunächst in großen Lagerhäusern weit weg von Gaza. Nach und nach, so wie die Tunnel sie fassen können, schaffen sie die Fracht in kleinere Lagerhäuser direkt an der Grenze. Zu besonderen Anlässen reisen sie durch die Tunnel und lassen sich im Chalet bewirten. Einmal, erzählt er, hatte ihn einer zu betrügen versucht. Angeblich um Blumenzwiebeln im Wert von 200 000 Dollar. Auch ihn schaffte er über die Grenze, um sein Leben flehend saß der dann in Gaza. „Was sollen wir mit ihm machen, Abu Ahmed?“, fragten ihn die Häscher. Abu Ahmed ließ ihn laufen. „Der Mann hatte meine Botschaft verstanden: Ich kann dich überall greifen.“

Ruhelos wippt er beim Telefonieren mit dem linken Bein, auf und ab, im gleichen Tempo, als wäre es sein Schwungrad. Freunde wissen dann, die Geschäfte laufen gut. Steht das Bein plötzlich still, hat Abu Ahmed ein Problem. Und es gibt viele Probleme in dieser Zeit. Die Stahlmauer, die sie in Ägypten 30 Meter tief ins Erdreich rammen, wächst mit jeder Stunde. Er hat gehört, dass sie damit in den letzten Tagen sieben Tunnel zerstörten. „Wie lange kannst du noch liefern?“, fragen ihn jetzt seine Kunden. Die Menschen in Gaza beginnen, unruhig zu werden. Jeder hängt am Tropf der Tunnel. Nimmt ihre Zahl zu, sinken die Verbraucherpreise. Nimmt sie ab, steigen sie. Was aber passiert, bangen viele, wenn es gar keine Tunnel mehr gibt? Abu Ahmed redet dann sehr staatstragend. „Wir werden die Mauer überwinden.“ An zwei Stellen sei das schon gelungen, Spezialschweißgeräte hätten den Stahl durchbrennen können. Es gebe auch eine Lösung zur Überwindung der zweiten Barriere hinter dem Stahlvorhang, eine Wasserleitung, die den festen Grund in Schlamm aufweichen soll. „Sie werden uns nicht aufhalten“, gibt sich Abu Ahmed siegessicher. Er lacht. Aber sein Bein bewegt sich nicht mehr. Als seien ihm plötzlich die Sehnen gekappt.

Das Licht flackert, Zigaretten glimmen in Hassans Tunnel, immer wieder arbeiten die Männer in völliger Dunkelheit. Sie wollen einen weiteren Versuch unternehmen, die kollabierte Decke zu flicken. Im Liegen reichen sie sich die Bretter nach vorne, sechs Mann hintereinander, ein Erdwurm aus Menschenleibern. Nasir leitet die Arbeiten heute allein, Ibrahim kann noch nicht die gezerrte Schulter heben. Wenn das Licht ganz ausfällt, behelfen sie sich mit dem Leuchten ihrer Handys. Nasir hat Drogen genommen und einen starren Blick. Die meisten auf den Tunnelfeldern schlucken die kleinen Pillen aus deutscher Herstellung, Tramadol, ein Schmerz-Opiat. In Massen wird es nach Gaza geschmuggelt. Die Hamas hat sie verboten, aber wen hier unten kümmert es. „Tramadol lässt dich alles vergessen“, sagt Nasir, der den Gang freischaufelte und eine neue Holzverbauung anbringen will. Mit einem Wagenheber stemmt er die Latten gegen die Tunneldecke, Zug für Zug, vorsichtig, denn schon bald ist das Holz zum Reißen gespannt. „Das hört sich nicht gut an“, sagt einer neben ihm.

Der erste Balken bricht. Nasir kann mit dem Kopf ausweichen. Zu dünn sind die Bretter, schimpfen sie. Die Erde sackt immer noch ab. Zehn Meter über ihnen liegt auf ägyptischer Seite ein Olivenhain, und der Bauer hat neulich begonnen, ihn überreichlich zu wässern. „Dieses Schwein!“, flucht Nasir. Fünf Tunnel haben durch diesen Bauern Probleme mit aufgeweichten Decken. Die Schmuggler boten ihm Geld, wenn er das Bewässern lasse, zunächst 5000 Dollar, dann 10 000 Dollar. Er verlangte 16 000 Dollar, die gaben sie ihm. Sie bezahlten ihn sogar die Umsetzung des Wassertanks. Er pumpt immer noch Wasser in die Oliven.

Der zweite Balken bricht. Er war etwas stärker als der vorige, und Nasir hat ihn noch vorsichtiger angehoben. Morgens im Café Brasil erfuhr er, dass einer seiner besten Freunde gestern ein Bein verlor. Er hatte an der Elektrowinde in einem Nachbartunnel gesessen und die Warenzüge gezogen, als das Stahlseil riss und ihm das Knie durchtrennte. Jeder Tag hier macht dich trauriger, sagt Nasir. Er kennt Jungs in seinem Alter, die sind erstickt am Benzindampf lecker Pipelineschläuche. Neulich starben bei einem solchen Unglück sieben Mann. Die Arbeiter verbrennen, wenn sie schlecht isolierte Stromkabel berühren. „Halte Abstand zu den Kabeln!“, rufen sich die Jungs im Untergrund zu. Sie ersaufen, weil die Ägypter ohne Vorwarnung Abwasser in entdeckte Stollen leiten. Barmherzigkeit zeigen die arabischen Brüder, wenn israelische Bomber im Anflug sind. Dann ziehen die Ägypter rote Flaggen auf ihre Mauer und tausende Tunnelarbeiter fliehen zu Fuß und mit Taxis.

Der dritte Balken scheint zunächst zu halten, dann bricht auch er. Wasser tropft durch die Decke. Sie wissen nicht weiter. „Wir müssen den Stollen breiter machen“, sagt Nasir. Er will Druck von der Verschalung nehmen und sticht die Schaufel in die Wand. „Hör auf, Nasir“, rufen die anderen. „Das geht nicht gut!“ Die Hände hält Nasir der Erde entgegen, die in Schollen auf ihn stürzt. Er will, wenn sie es nach Ägypten schaffen, im Sommer heiraten. Der Schmuggel soll ihm die Hochzeit finanzieren. Die anderen brüllen ihn an, schreien, aber er lässt nicht ab. Eine halbe Stunde kämpft er, verzweifelt, wütend, und gibt dann auf.

„Das gehört dir,“, sagt Hassan, der Chef, zu Nasir, als der zitternd aus der Tiefe steigt. „Wenn wir es schaffen.“ Im Staub von Rafah steht ein Motorrad weiß wie Schnee. Frisch aus Ägypten. Nasir streichelt es, starrt auf seinen Glanz. Er ist blass und ausgezehrt. Zwei Tage lang hat er nicht geschlafen. Er wird morgen wieder in den Tunnel gehen.

* Namen geändert

 

 

 
 
       
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