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PHOTOGRAPHIE Theodor Barth

Der durchlöcherte Frieden

Wird es in Libyen gelingen, Gaddafis Anhänger mit den ehemaligen Rebellen zu versöhnen? Eine Reportage über die Nachbarstädte Misrata und Sirte, die sich gegenseitig zerfleischten und nun wieder zusammenwachsen müssen.

 

In der Stadt, die alles besaß und jetzt alles verlor, in diesem Ort der Geächteten, dessen Name in Libyen nur gezischt wird, voller Abscheu, Sirte, kauert Imad Sliman auf dem Fußboden seines Hauses und presst die Hände gegen die Ohren. Von draußen dringt der Lärm schwerer Explosionen. Unter ihm bebt der Boden. Imad beugt sich so weit nach vorn, dass er mit der Stirn fast den Teppich berührt. „Ich bin müde“, sagt der 35-Jährige.„Es muss doch mal aufhören!“ Im Nachbarzimmer schreien seine Kinder. Ein weiteres Mal geht ein heftiger Ruck durch das Haus, „Panzergranate“, sagt Imad. Der Geruch von Sprengstoff tritt durch die Türritzen. „Mörser“, sagt Imad bei einem Dröhnen kurz danach. Es ist Anfang Februar. Gaddafi ist seit drei Monaten tot, seine Armeen sind geschlagen, und doch ist für Imad der Krieg noch nicht vorbei. Der Krieg, sagt er, war für ihn nie schlimmer.

Die „Zone 2“ in Sirte, das Wohnviertel von Imad, in dem er aufwuchs, seine „goldenen Tage“ verbrachte, war Gaddafis letzte Bastion. Nach dem Fall der Hauptstadt Tripolis floh der Diktator in seine Geburtsstadt. Am Ende blieben den Resten der libyschen Armee nur anderthalb Quadratkilometer: die unmittelbare Nachbarschaft von Imad Sliman. Viele Tonnen Munition schlugen auf das kleine Quartier am Mittelmeer. Noch immer fahren die Bewohner den Schutt an die Strandpromenade, laden ihn ab, nur wenige Meter von Imads Haus entfernt.„Ich sage ihnen, macht das nicht, zwei Nachbarn wurden schon verletzt, aber die Leute hören nicht auf mich.“ Sie stecken den Müll in Brand, bergeweise, das Holz zerborstener Dachbalken, Möbeltrümmer, Isolierwolle, vermischt mit Blindgängern aller Kaliber. Vor Sirte steht jeden Abend eine meterhohe Flammenwand, in der Munitionsreste explodieren. Im Minutentakt splittern Metallschrapnelle in die Häuserzeilen. Ein Schauspiel der Selbstzerstörung, auf das Scharen junger Männer starren, die bis vor Kurzem noch für Gaddafi kämpften. Sie sitzen auf Plastikstühlen und können den Blick nicht von den Flammen wenden.

Libyen ist nach dem Bürgerkrieg in seine Regionen zerfallen. Sie trennen tiefe Narben, die nicht abheilen, sondern zu eitern beginnen. Die schlimmste Wunde im Land ist zwischen den Nachbarstädten Sirte und Misrata gerissen. Im Krieg haben sich die Orte gegenseitig verwüstet.„Wir betrachten Sirte vorläufig nicht mehr als Teil von Libyen“, sagt das Mitglied des Nationalen Übergangsrates, Dr. Sulaiman Fortia in Misrata.„Die meisten hassen Misrata“, erklärt Dr. Sulaiman Ahmed Abu Aboshwishe in Sirte. „Sie haben uns alles genommen.“ Das Verhältnis dieser beiden Städte entscheidet über die Zukunft des Landes, über Frieden und Unversöhnlichkeit. Ob es den neuen Mächtigen gelingt, die Feinde von einst in einem Staat zu vereinen. Oder ob die Revolution des 17. Februars schon bald zur nächsten führt. Der Gegenrevolution.

Das Haus, in dem Imad Sliman geboren wurde, ist zur Hälfte verschwunden. Es steht in der ersten Reihe zur Küstenstraße nach Misrata, ganze Räume sind aus ihm gebrochen. In scharfen Zacken hängen Trümmer von Wänden und Zimmerdecken über dem Gebäudestumpf. Imads Familie hat sich tief ins Innere zurückgezogen, wo sich im Erdgeschoss 19 Menschen in den letzten drei intakten Räumen drängen. Dort hat der Grundschullehrer die verrußten Wände mit weißer Farbe bestrichen, er besorgte neue Teppiche. Halbwegs wohnlich ist es nun, wäre nicht der Brandgeruch. Imad redet schnell, gehetzt, er will erzählen, davon, dass seine Frau unter den Explosionen eine Fehlgeburt erlitt, zwei seiner drei Kinder immer noch ins Bett nässten. Der Lehrer führt durch die Ruine, zeigt die Türen, die er mit Sperrholzplatten vernagelt hat, damit die Kinder nicht in den Abgrund fallen. Hilflose Versuche, Schutz zu bieten, wo es keinen Schutz geben kann. Zwei mehrstöckige Nachbarhäuser drohen auf das Gebäude zu kippen. Das Gebilde aus zerschmetterten Wänden hält noch ein einziger Pfeiler.

„Was soll ich tun?!“ fragt Imad. Die Ingenieure des Übergangsstadtrates rieten ihm, sofort auszuziehen.„Ich war überall, um nach einer Wohnung zu fragen. Nichts, nur Vertröstungen.“ Der Familiensitz wurde Imad zur Falle. Die Hälfte der 1200 Häuser in „Zone 2“ sind unbewohnbar geworden. Gleichzeitig ist Sirte Zufluchtsort für Flüchtlinge aus ganz Libyen. Sie bevölkern die Stadt und die Dörfer im Vorland, jeden Winkel, Container und Lagerhäuser. Es sind versprengte Unterstützer des alten Regimes und Angehörige von Stämmen, die aus den Vororten von Misrata vertrieben wurden. Weil von hier aus das Stadtgebiet der Aufständischen monatelang beschossen wurde, wird ihnen jetzt kollektiv eine Rückkehr verwehrt. Imad steigt hinauf aufs Dach, auf dem noch die Patronen von Gaddafis Scharfschützen liegen. Hoch über Sirte steht er dann und zeigt das Viertel im weiten Bogen: zerhackt und zerschlagen.

Sirte und Misrata. Wie sich die Rollen verkehrt haben. Die Hauptstadt der „Vereinigten Staaten von Afrika“ hatte Gaddafi aus seinem Geburtsort machen wollen. Sirte, 50 000 Einwohner, durchzogen von vierspurigen Paradeachsen, ist eine Kollektion an Repräsentationsbauten, eine Projektionsfläche für Gaddafis Fantasien. Libyens größte Versammlungshalle für 3000 Menschen steht hier, gigantische Anlagen zur Verköstigung von Staatsgästen, VIP-Hotels, zwei Residenzen des Despoten. Sirte, die Unantastbare. Noch im September ernannte sie Gaddafi zur Hauptstadt Libyens. Mit ihm sah sie nun auch sich selber fallen.

Misrata hingegen ist Industrie, drittgrößte Stadt Libyens, 350 000 Einwohner, ebenfalls reich, aber eine Stadt, die sich ihren Wohlstand hart erarbeitete. Das ist das Selbstverständnis der Misrati. Das Hamburg Libyens. Standort einer der wichtigsten Häfen, Sitz vieler alter Kaufmannsfamilien und des einzigen Stahlwerkes des Landes, Bürger - und nicht Beduinen wie in Sirte. Als sich ihre Bewohner im März 2011 gegen Gaddafi erhoben, kesselte er die Stadt ein und ließ sie mit Panzern und schwerer Artillerie beschießen. Er schickte Scharfschützen auf die Hochhäuser. Viele der Soldaten kamen aus Sirte. Lange sah es so aus, als könne sich die abgeschnittene Stadt nicht halten, doch mit der NATO-Unterstützung änderten sich die Kräfteverhältnisse. Die Misrati schlugen mit ihren Bürgerbrigaden die reguläre Armee zurück. Ihre Milizen jagten die Anhänger Gaddafis durch das Land und stellten ihn schließlich im Oktober in Sirte. Es waren Misrati, die ihn erschossen, Misrati, die seine Leiche tagelang in einem Kühlcontainer zur Schau stellten. Ihre Brigaden sind mittlerweile eine der wichtigsten Machtfaktoren im Staat. Schon heißt es unter Libyern, halb anerkennend, halb eingeschüchtert: „Willkommen in der Republik Misrata“.

„Ihr foltert!“, sagt Donatella Rovera von Amnesty International ihrem Gegenüber, Dr. Mohammed Fortia. „Einzelfälle!“ erwidert er. Die beiden begegnen sich in der Sofalandschaft des Al Baraka Hotels in Misrata, zufällig. „Ihr habt die Einwohner der Vororte vertrieben! Ihr verbrennt ihre Häuser!“ „Was sollen wir denn mit denen machen?“, sagt Fortia, ein Mittsechziger, sanft im Umgangston, der politische Chef einer 3000 Mitglieder starken Miliz. Früher stand er der Polyklinik als Ärztlicher Direktor vor. „Die haben unsere Frauen vergewaltigt!“ Rovera und Fortia kennen sich seit den Tagen der Einkesselung Misratas. „Ihr könnt die doch nicht kollektiv bestrafen,“ sagt Rovera entsetzt. „Unsere Jungs würden die nachts umbringen,“ sagt Fortia.

Um Misrata schließt sich ein Ring aus Siedlungen seiner ehemaligen Sklaven. Die Kaufleute der Stadt hatten sie vor Jahrhunderten aus Schwarzafrika hierher verschleppt. Das ist lange her. Doch die gegenseitige Fremdheit ist nie gewichen. Es gibt in der Stadt – wie in ganz Libyen – einen tief verwurzelten Rassismus. „Würden Sie so reden, wenn man Sie selber vergewaltigt hätte?“, sagt Fortia, aggressiver jetzt. Rovera schnappt nach Luft, und Fortias Telefon klingelt. Seine Miliz meldet ihm die Festnahme eines möglichen Gaddafi-Unterstützers. „Komm mit“, sagt Fortia, steigt in seinen Audi und fährt los.

Mohammed Fortia steuert das Gelände eines Sportvereins an. Hier befindet sich das provisorische Hauptquartier seiner Brigade. Es gibt so viele dieser Brigaden in Misrata, und keiner besitzt mehr den Überblick. Die Zahlen schwanken zwischen 125 und 242. Sie tragen die Namen von Raubtieren wie „Tiger“ und „Adler“. Der Krieg ist vorbei, doch trauen sie dem Frieden nicht. Sie wollen sich erst dann entwaffnen lassen, sagt Fortia, wenn es eine neue stabile Regierung gibt. Das Gatter öffnet sich für ihn, Bewaffnete in Zivil grüßen. Der Gefangene ist bereits in der Verhörzelle. Drei Milizionäre schreien ihn an. Fortia beobachtet sie vom Hof aus, durch zwei offen stehende Türen. Das Brüllen der Wächter wird lauter, sie bemerken uns nicht, Fortia übersetzt widerwillig. Ein Dröhnen dringt aus der Verhörzelle, ein dumpfes Geräusch wie von einem Schlag. Fortia wendet sich ab, die Milizionäre entdecken ihn, sie schließen die Tür.

Fortia beschließt, zu warten, läuft zur Teeküche der Brigade, in der gerade ein Hollywood-Streifen läuft. Ein Milizionär wäscht an der Spültheke. Sein rechtes Handgelenk ist geschwollen und bandagiert. Wie er sich verletzt hat? Er lächelt, sieht ins Waschbecken.„Ich habe neulich vor Wut an die Wand geschlagen.“ Systematisch stellten sie Gaddafi-Anhängern nach, erklärt Fortia beim Tee. Aus dem ganzen Land bringen sie Verdächtige nach Misrata. Der Mann, den sie jetzt verhörten, fiel ihnen beim Auswerten von Videos von Pro-Gaddafi-Demonstrationen auf. „Wenn er nichts gemacht hat, lassen wir ihn wieder laufen.“ Wenn doch, sperrten sie ihn ein. Niemand weiß, für wie lange. Denn noch gibt es keine funktionierende Gerichtsbarkeit in Libyen. Eine Gruppe Männer aus Sirte kauert im Hof, sie waren im Minibus nach Tripolis unterwegs. Fortia geht hastig an ihnen vorbei, vier Wärter schreien sie an, die Männer blicken zu Boden. Ein Bewacher geht auf die Festgenommenen zu, die Lederpeitsche lässig über die Schulter geworfen, dann fährt mich Mohamed Fortia hastig vom Hof. Er wird über diese Nacht nie wieder sprechen.

Am nächsten Tag verkündet die Organisation „Ärzte ohne Grenzen“ ihren Rückzug aus Misrata. Sie hat im Zentralgefängnis die Insassen versorgt, wo sie immer wieder Patienten behandelte, die kurz darauf unter der Folter starben. In der Weltpresse ist die Hafenstadt wieder in den Schlagzeilen, dieses Mal nicht als Opfer, dieses Mal als Täter.

Der Krieg liegt in Misrata nur ein halbes Jahr länger zurück als in Sirte. Aber während es in Sirte nach Asche riecht, nach Brand und Feuer, duftet es in Misratas Innenstadt schon hier und da wieder nach Kaffee und Kebab. Die Läden haben weitgehend geöffnet, überall neue Fenster. Doch sind die Geschäfte leer, die Verkäufer langweilen sich hinter ihren Tresen.„Die Kunden aus Sirte und dem Umland kommen nicht mehr,“ klagt ein Händler. Die Geschäftswelt der Stadt ist auf den lokalen Markt zurückgeworfen. Der Hass hat die Handelswege unterbrochen.

Es sind auf den 240 Kilometern, die beide Städte trennen, sieben Kontrollpunkte zu passieren. Die wichtigeren von ihnen sind wuchtig übereinandergestapelte Schiffscontainer, die Tore simulieren. Milizionäre aus Misrata verlangen Ausweispapiere. Wer als Wohnort Gaddafis Heimatstadt eingetragen hat, ist nervös. Viele aus Sirte versuchen die Durchfahrt erst gar nicht. Der Asphalt der Küstenstraße ist eine Chronik der Gewalt. Kreuz und quer ziehen sich die Furchen von Fahrzeugketten. An Stellen, an denen der Belag kreisförmig angeschmolzen ist, hat die NATO Panzer bombardiert. Je näher Sirte kommt, desto schlimmer werden die Zerstörungen. Die Stadtmitte schließlich sieht aus wie ein einziger fürchterlicher Bombentrichter.

Nur wenige Autos fahren von außerhalb hierher. Es scheint, als sei die Belagerung von Sirte immer noch nicht aufgehoben. Bisher hat sie kein Regierungsvertreter besucht, niemand vom Übergangsrat. In der Stadt liegt eine Besatzungstruppe aus Darna, der libyschen Hochburg der Salafisten, die das Gesetz der Scharia durchsetzen wollen. Sie verhaften Betrunkene und Männer, die ihre Frauen betrügen. Dass ihnen die Revolution ausgerechnet die islamistischen Extremisten geschickt hat, empfinden die Sirter als besondere Schmach. Es gibt bislang nur einzelne zaghafte Versöhnungsversuche.

Einer der Ersten, die vermitteln wollen, drei Monate nach Kriegsende, ist der Psychologe Farej Mahdawi, der Gründer einer kleinen Hilfsorganisation:„Es ist ein Skandal, wie mit dieser Stadt umgegangen wird.“ Der Sprecher des Gaddafi-Stammes hat seine Einladung akzeptiert, doch jetzt schaut er Mahdwai nicht in die Augen, dreht sich zur Seite, wendet sich ab. Sein ganzer Körper scheint sich gegen diese Begegnung zu wehren. Denn Dr. Sulaiman Ahmed Abu Aboshwishe weiß, wen er vor sich hat. Den Feind. Mahdawi gehört zu den Revolutionären der ersten Stunde. Er half in Frontlazaretten, evakuierte Zivilisten und transportierte Lebensmittel an die Feuerlinie. „Wir wollen die Kräfte der Zivilgesellschaft in der Stadt wecken,“ sagt Mahdawi ihm. 30 Ärzte und Rechtsanwälte habe er in Sirte bereits um sich geschart. Er wolle nichts, was der andere nicht auch wolle. Das Gesicht von Abu Aboshwishe verzieht sich zu einer Grimasse.

Er ist ein großer, hagerer Mann, Ende fünfzig, elegant, er trägt einen schwarzen Anzugsmantel. Der Psychologe der Revolution beugt sich zu ihm vor, faltet die Hände. „Wir haben gestern mit dem Militärchef von Misrata gesprochen. Wir haben erreicht, dass sie die Ausrüstung eures Flughafens zurückgeben. In der nächsten Woche schon.“ „Ich will das Zeug nicht,“ entgegnet Abu Aboshwishe. „Nicht mehr brauchbar.“ Außerdem, sagt Feraj Mahdawi, habe Misrata zugesagt, etliche der gestohlenen Müllfahrzeuge zurückzugeben. Einen Teil der Hafentechnik. „Was ist mit unseren Verwundeten?“ fragt der Gaddafi-Mann. Die Gesundheitsministerin der neuen Regierung weigere sich, verletzte Regimesoldaten zur Behandlung ins Ausland zu schicken – wie Zehntausende Kämpfer der Gegenseite auch. „Wie kannst du da erwarten, dass wir die Vergangenheit vergessen.“ Es dauert anderthalb Stunden, bis sich Abu Aboshwishe seinem Gegenüber zuwendet. Eine weitere halbe Stunde vergeht, bis er die Hand auf die Schulter von Feraj Mahdawi legt.

Als sie wenig später ohne Begleitschutz durch das Hinterland fahren, ins Geburtsdorf Gaddafis, dem Unterschlupf Tausender geflohener Anhänger, bemüht sich Mahdawi, keine Angst zu zeigen.„Die hätten uns vor wenigen Wochen noch zusammengeschossen,“ murmelt er. Mahdawi lässt sich die Zerstörungen vorführen. Ausgebrannte Häuser, Russfahnen über allen Fensterhöhlen. Der Psychologe hatte ursprünglich zwei Milizionäre des örtlichen Revolutionsrates um Unterstützung gebeten, die haben abgelehnt. Sie seien verhindert. Doch das Experiment, wie er es euphorisch nennt, gelingt. Abu Aboshwishe und er beschließen gemeinsame Projekte, etwa die Instandsetzung der örtlichen Telefonzentrale.„Das Gute ist,“ klopft Mahdawi begeistert auf die Wände der ausgebrannten Polizeistation, „das Haus steht noch“. Er zieht aus dem Müllhaufen intakte Polizeischutzschilde und Helme.„Kann man alles wieder verwenden. Es braucht hier nur zwei Mann, die anpacken.“ Die Menschen müssten sich aus ihrer Erstarrung befreien.„Es ist schwierig,“ sagt Abu Aboshwishe zu den meisten von Mahdawis Ideen. „Es ist nicht unmöglich!“, wirft Mahdawi ein. Da sehen sich beide an, für einen kurzen Moment, und lachen.

 

In der Hauptstadt Tripolis ist die Revolution mit sich selber beschäftigt. Der Weg zum neuen Staat ist lang. Zunächst muss das Gesetz zur Abhaltung der Wahlen verabschiedet, darauf im Juni das Nationalparlament gewählt werden. Dessen 200 Mitglieder diskutieren dann ein Jahr lang die künftige Verfassung, auf dessen Grundlage später die jeweiligen Fachgesetze beschlossen werden können. Seit Kriegsende diskutieren die Mitglieder des Übergangsrates die Zusammensetzung des künftigen Parlamentes, wie viel Sitze die Listen von Parteien bekommen und wie viel Einzelkandidaten. Die Muslimbrüder bevorzugen das Parteiensystem, weil sie als Einzige landesweit vertreten sind. Liberale wollen eine Mehrheit der Religiösen verhindert und tendieren zur Persönlichkeitswahl. Es wird debattiert, ob Libyen in zehn Wahlbezirke aufgeteilt werden soll oder in 22. Misrata streitet mit Bengasi, Zintan mit Tripolis. Das sind unerhörte Freiheiten in einem Land, in dem der Clan der Gaddafis 42 Jahre lang bis ins Detail alles entschied. So viele Probleme, so lange unterdrückt, gibt es in diesem Land. Alle auf einmal drängen sie an die Oberfläche.

Die Sieger von Misrata, die den Krieg nie wollten, keine Soldaten waren, nur Studenten, Handwerker und Lehrer, sie können sich nur schwer an den Frieden gewöhnen. Die Überlebenden sitzen zu Hause vor den Fernseher und schauen auf die Toten. In Endlosschleife zeigt der Lokalsender von Misrata die Bilder der Gefallenen, untermalt mit Trauermusik. Die Überlebenden flanieren nachts in den Straßen und schießen von Zeit zu Zeit mit ihren Gewehren. Einfach so, ziellos in die Dunkelheit hinein. Es gibt welche, die Weiterbildungskurse besuchen, kostenlos, eine Art Beschäftigungstherapie der Übergangsregierung. Andere kehren immer wieder in die Garagen ihrer Freiwilligenbrigaden zurück, liegen dort auf Matratzen, die nach Katzenpisse stinken, und lassen die Tage vergehen.„Wir rauchen jetzt dreimal so viel wie im Kampf“, sagt einer von ihnen. Sie wollen anknüpfen an ein Leben vor dem Krieg und haben keine Ahnung, wie das geht.

Der Kämpfer, den sie in Sirte mehr hassen als alle anderen aus Misrata, der ihre Welt zerstörte, mit einem Handgriff, als er Gaddafi aus seinem letzten Versteck zog, ist ein gebrochener Mann. Ahmed will aus Angst seinen Nachnamen geheim halten.„Ich bin ein Wrack“, sagt der 25-Jährige, klein, zart, mit Zittern in der Stimme.„Es gibt keine Nacht, die ich durchschlafen kann.“ Alle paar Stunden schrecke er auf.„Kämpfer, die nach dem Krieg behaupten, sie seien ok, die lügen.“ Im Gespräch bei ihm zu Hause ringt er mit den Tränen. Er beantragte bei der Übergangsverwaltung in Misrata eine Therapie, blieb bislang noch ohne Antwort. Der Tiefbauingenieur hat den ganzen Befreiungskrieg mitgemacht, von der Belagerung seiner Heimatstadt bis zur Eroberung von Tripolis. Nach sechs Monaten und dem Tod von acht Freunden lag er vor Sirte und beschoss Gaddafis letzte Bastion mit seiner Panzerfaust.„Wir hatten denen die Chance gegeben, die Stadt zu verlassen, ihnen eine Frist gesetzt und die dann zweimal verlängert.“ Es treffe sie keine Schuld, dass Sirte so schwer zerstört worden sei. Es schwingt kein Triumph mit, wenn er erzählt, nur Müdigkeit.

Die Haut Gaddafis habe sich seltsam angefühlt, als er ihn aus dem Regenwasserrohr zog, ihm ins Gesicht schlug, am letzten Tag des Krieges. So menschlich. Ganz weich. Ahmed hatte als Erster die Gruppe Flüchtender gesehen, wie sie am Ende ihrer Kräfte über eine Wiese liefen, schließlich Schutz suchten in den Betonrohren unterhalb der Straße. Zwei Leibwächter will Ahmed auf dem Weg dorthin erschossen haben, einen davon, als er schon das Gewehr weggeworfen hatte.„Er hat noch kurz davor auf mich geschossen!“ Ahmed war der Erste an den beiden Abwasserrohren, sieben Meter lang, 70 Zentimeter hoch, er schoss hinein, sagt er, mit seiner Kalaschnikow, tötete alle in der ersten Röhre, feuerte auch kurz in die zweite, dann ergaben sich die Insassen. Dass es Gaddafi war, sah Ahmed erst als er vor ihm stand, mittlerweile umringt von vielen Menschen. „Ich hatte ihn bis dahin nie gesehen, nur im Fernseher, er war ja fast wie ein Gott.“ Der Tiefbauingenieur riss ihn an den Haaren, ohrfeigte ihn, trat ihn in den Hintern. „Was ist hier los?“, hörte ihn Ahmed murmeln, bevor Gaddafi von anderen weggeführt wurde, Ahmed auf der Wiese zurückblieb. Gaddafi wurde auf dem Weg nach Misrata erschossen, und niemand, klagt Ahmed, habe ihm bis heute gedankt.

Die Zeit zwischen Krieg und Frieden sitzt er nun bei sich zu Hause ab, zunehmend verbittert. Er verdient 300 Dinar im Monat, umgerechnet 180 Euro, das Einheitssalär für Kriegsteilnehmer, ob sie nun für oder gegen Gaddafi waren. Manchmal schlendert Ahmed hinaus auf das Gelände der türkischen Baufirma, seinen Arbeitsplatz. Das Areal ist verlassen, nur ein Wachmann grüßt ihn mit müder Handbewegung. „Angeblich soll neulich der Manager aus Istanbul gekommen sein, um die Lage zu prüfen“, sagt Ahmed, der immer noch nicht weiß, wann es hier weitergeht. Ein paar andere Ingenieure stehen an diesem Morgen vor den verschlossenen Büros der Firma und tauschen Neuigkeiten aus. Ahmed hatte einige Wochen lang Wachdienste für seine Brigade übernommen, ein Waffenlager bewachte er, ein Krankenhaus, 24-Stunden-Schicht, für ein paar Dinar. Er entschied sich, ganz damit aufzuhören.„Es ist vorbei,“ sagt er. „Ich werde in meinem Leben keinen Schuss mehr abfeuern. Ich habe meinen Teil getan.“

Nach Sirte ist Ahmed nie wieder gefahren.

Die Revolutionsführer bekommen Angst vor den eigenen Revolutionären.„Wir müssen die außer Landes bringen,“ sagt Mohammed El Muntasser in Misrata, einer der reichsten Unternehmer des Landes, Mitglied im Nationalen Übergangsrat. „Egal wie. Wir schicken sie zur Behandlung weg, wir geben ihnen Stipendien.“ Für eine Milliarde Dollar hat der libysche Staat seine jungen Männer in den vergangenen Monaten ins Ausland verfrachtet. Manchmal reicht schon ein verrenkter Daumen. Die Krankenhäuser und Rehazentren Europas sind voll von ihnen. Sie wohnen zum Teil in Fünf-Sterne-Herbergen. Das neue Libyen, für das sie kämpften, zahlt ihnen Minibar und Telefonate nach Übersee, dazu noch monatlich 1500 Euro Taschengeld. Die Prämie der Revolution. Libysche Journalisten kritisieren heftig das Milliardengeschenk. „Wir müssen Zeit gewinnen, bis die Wirtschaft läuft“, sagt El Muntasser. „Die brennen uns sonst alles unter den Füßen weg.“ Der Militärrat von Misrata hat kürzlich die Auflösung von sechs Freiwilligenbrigaden erzwungen, weil sie völlig außer Kontrolle waren. Plündernd und prügelnd waren sie durchs Land gezogen.

Der Krieg war für die Wirtschaft wie ein Kolbenfresser, nur sehr langsam läuft sie wieder an. Die alten Gesetze gelten nicht mehr, neue sind noch nicht geschaffen. Ausländische Investoren warten auf die gewählte Regierung und auf klare Rechtsgrundlagen. Die Banken leiden unverändert unter Bargeldmangel, je nach Stadt geben sie pro Kunden nur 700 Dinare, 430 Euro, monatlich frei. Firmen bekommen keine Kredite für den Wiederaufbau, die dringend benötigten Gastarbeiter aus Ägypten keine Einreisevisa. „Der kostet mich jetzt dreimal so viel wie vor dem Krieg“, klagt ein Ladenbesitzer in Misratas Innenstadt und zeigt auf den Elektriker aus Tunis, der ihm die Leitungen neu legt. Dazu kommen unklare Besitzverhältnisse. Gaddafi hatte 1979 das halbe Land enteignet, Geschäftsleuten ein Grossteil ihres Immobilienbesitzes genommen. Jetzt fordern sie das Verlorene wieder ein. Doch je länger es dauert, Fabriken und Büros zu öffnen, desto größer wird die Gefahr eines erneuten Umsturzes. In Misrata haben empörte Demonstranten bereits den Wechsel des revolutionären Stadtrates erreicht. Sie blockierten die Zufahrt seiner Büros so lange, bis er in Wahlen einwilligte. In einer Woche ist es so weit, die ersten freien Wahlen in Misrata seit 42 Jahren.

Nie gleichen sich Sirte und Misrata so sehr wie im verzweifelten Rausch der Abendstunden. Betrunken wanken junge Männer durch die Straßen, die Pupillen groß wie Artilleriegeschosse. In Sirte treffen sie sich in den wenigen Cafés, die nach den Kämpfen aufmachten, sie sitzen in langen Reihen auf den Bürgersteigen, es riecht nach Marihuana. „Gras!“ ruft einer von ihnen.„Gaddafi!“ ruft ein anderer. „Er lebt!“ „Er wird wiederauferstehen.“ Während der Jahrestag der Revolution am 17. Februar näher rückt, kommen in Sirte immer mehr Gerüchte auf. Der nach Niger geflohene Gaddafi-Sohn Saadi sei im Besitz eines Zaubertranks und wolle ihn der Leiche des Vaters injizieren, um ihn zum Leben zu erwecken. Ein Aufstand stehe bevor. Die Kinder rufen es in Sirte fröhlich von den Balkonen. „Allah! Libya! Muammar!“ Jeder zweite Haushalt hat im Kampf für Gaddafi einen oder mehrere Angehörige verloren. Ihr Tod war nicht umsonst, sagen die Trauernden. Ihr Tod hatte einen Sinn.

„Bleib im Wagen“, sagt der Übersetzer, der sicherstellen will, dass den ausländischen Besuch keine Nachbarn sehen. Dann winkt er ins Haus der Familie, die bei den Kämpfen ihren Jüngsten verlor. Fast alle Männer haben hier auf der Seite Gaddafis gefochten, sie gehören seinem Stamm an. Haben Regimetreue früher Journalisten festgenommen, möchten sie jetzt mit ihnen reden. Damit ihre Sache nicht vergessen wird.

Das Gewehr hat Muneer* in der Verschalung der Zimmerdecke versteckt, auch die Portraits Gaddafis, die bis vor Kurzem an den Wänden hingen. Mit 27 Jahren ist er der älteste von fünf Brüdern. Der Teppich, auf den er sich setzt, ist grün, auch die Polstergarnitur, in Libyen die Farbe Gaddafis. „Bei den Kämpfen haben wir in diesen Raum unsere Verletzten behandelt.“ Zusammen mit den Jungs aus der Nachbarschaft, die meisten jünger als 25, habe er 30 Tage lang die Rebellentruppen am Ortsrand von Sirte aufhalten können, sagt er. „Wir haben an etwas geglaubt.“ Sein Bruder habe sich früh freiwillig gemeldet, er starb bei den Kämpfen in Tripolis. Das berichtete sein Neffe, der kurz darauf ebenfalls in Sirte ums Leben kam. Wo er begraben ist, ob er begraben wurde, das wird die Familie vermutlich nie erfahren. Im Fernseher läuft das arabische Programm von Russia TV. Muneer erträgt die Märtyrerbilder der neuen libyschen Fernsehsender nicht. Wie dort aus den Mördern seines Bruders Nationalhelden werden. Die Schmähgesänge auf Gaddafi. Fernsehen in Libyen ist das Fernsehen der Sieger.

Die Familie kam erst vor wenigen Tagen in ihr Haus zurück, noch unsicher und ängstlich. Immer wieder werden ehemalige Gaddafi-Kämpfer in ihren Wohnungen verhaftet und in die Gefängnisse nach Misrata verschleppt. Muneer wagt sich zwischenzeitlich an seinen Arbeitsplatz, der Personalverwaltung einer Regierungsagentur. „Da habe ich keine Sorge, da sind alle für die Grünen.“ Womit er die Anhänger des alten Regimes meint. Kurz nachdem die Rebellen seine Nachbarschaft eingenommen hätten, sei er mit der Familie geflohen. Mehr als einmal hätten die Rebellen gedroht, ihn einfach umzubringen, weil er ein Gaddafi ist. Das steht in seinen Ausweispapieren. Seine Hände waren blutig gerissen, er hatte sie sich beim Häuserkampf verletzt. „Du hast für Gaddafi gekämpft!“, hielten ihm die Wachtposten vor. Doch jedes Mal redete er sich heraus. Nach Abflauen der heftigsten Verhaftungswellen in Sirte wagte die Familie die Rückkehr, als eine der ersten in ihrer Straße.

Der Nachbar zur Linken, erzählt Muneer weiter, verlor den Sohn und floh nach Bengasi. Der zur Rechten, dessen zwei Söhne binnen drei Tagen getötet wurden, ist nach England gegangen. Muneer blickt mir selten in die Augen, er schaut die ganze Zeit auf den Fernsehmonitor. Der Sender Russia TV hielt Gaddafi bis zum Schluss die Treue. Muneer zeigt auf die Bilder der blutigen Demonstrationen in Kairo.„Die Araber brauchen einen starken Mann“, sagt er.„Sieh dir das an. Demokratie ist ein schöner Traum, den wir nie erreichen können.“ Muneer hat Gaddafi verehrt, eine starke Persönlichkeit, sie sind vom selben Blut, erklärt er.

In Misrata proben derweil Kinder in Theatersälen für den ersten Jahrestag der Revolution. Sie singen und tanzen. Entlang der einst schwer umkämpften Tripolis-Straße errichten Bauarbeiter neue Lichtmasten. Auf einer Hauptkreuzung hebt ein Bagger das Fundament für eine 40 Meter hohe Revolutionsfahne aus. Die ersten Gefallenendenkmäler sind gebaut, in den Parks von Schulen und Universitäten, als Erinnerung an getötete Schüler und Studenten. Es werden erste Parteien gegründet und Ansprachen gehalten. Die Redner loben die „glorreiche Revolution“.

In Sirte ist nichts von den Feierlichkeiten zu spüren. Die wenigen, die hier für die Revolution gekämpft haben, bewegen sich in diesen Tagen nervös durch die Stadt. Sie haben Angst vor Anschlägen und Autobomben.„Ihr Ratten!“ ruft man ihnen zu.

„Libyen“, sagt der Gaddafi-Loyalist Muneer,„ist ein Land der Wunder und Überraschungen. Du wirst hier bald noch Erstaunliches erleben. Pass gut auf dich auf.“ Er lacht dabei.

*Name geändert

 

 

 

 

 
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Theodor Barth, Köln
www.theodorbarth.de