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HELDEN VON BAGDAD

In Bagdad explodieren jeden Tag Sprengfallen. Unterwegs mit den Männern, die sie entschärfen

 


A
m Anfang, der immer gleich ist, brechen Elektronen aus ihren Umlaufbahnen. Im Innern der Dinge kollabiert die Ordnung. Das Gitter der Moleküle zerreißt. Atomkerne geraten aus dem Gleichgewicht, sie taumeln, ziehen sich an und stoßen sich ab. Sie drängen sich gegenseitig hinaus, schnell, bis zu 9.600 Meter in der Sekunde, schneller als der Schall, der durch die Gassen jagt, der ins Land hinausrollt und den nur noch die Lebenden hören und nicht mehr die Toten.

Als sich eine halbe Stunde nach der Explosion der Rauch gelegt hat, steht der Chemiker Hayder al-Dschisani auf der ausgebrannten Straße. Wasser rieselt aus geplatzten Leitungen. Die Asche auf dem Boden wird zu schwarzem Brei. Das Leben von sechs Frauen und Männern ist ausgelöscht. Hayder, ein 29-Jähriger mit schmalen Schultern, der Schmalste von allen, zwängt sich durch die Menschen, die die enge Straße füllen und ihre Fäuste zum Himmel ballen, den anrückenden Polizisten drohen, sie an den Uniformen reißen und mit verzerrten Mündern schreien, schreien, schreien. Die Polizisten fordern Verstärkung an, rufen in ihre Funkgeräte, halten die Gewehre schützend vor sich und brüllen und brüllen. Hayder folgt der Spur der Asche, konzentriert, unbeachtet von den Wütenden, als sei er hier allein. Die Spur führt ihn zu einem Haufen Blech, der ein Wagen vom Typ Daewoo war. Ursprung des Chaos. In ihm ist die Bombe explodiert. Aus dem Augenwinkel sieht Hayder die abgerissene Hand einer Frau, den Ehering noch am Finger.

Im Chaos ist eine feste Ordnung, und Hayder macht sich daran, sie zu bestimmen. Er ist Offizier einer Einheit der irakischen Polizei, zu der sich nur selten jemand freiwillig meldet. Im Funkverkehr heißen sie die »Falken von Bagdad«, die Silhouette des Raubvogels ist auf ihre Einsatzwagen gesprüht. In vier Teams zu jeweils zwölf Männern rasen sie durch die irakische Hauptstadt. »Wir sind die, die schon tot sind«, sagen sie über sich. Die Falken sind die Bombenräumer von Bagdad. Rund um die Uhr entschärfen sie Sprengsätze. Seit der Gründung ihrer Einheit 2005 haben sie im Auftrag des Innenministeriums über 11.000 Bomben unschädlich gemacht. Sie untersuchen explodierte Bomben, um noch nicht explodierte besser zu begreifen. Das deutsche Bundeskriminalamt unterstützt sie und lud Hayder auch schon zur Weiterbildung nach Usedom ein.

Das Reporterteam des ZEITmagazins hat die irakische Spezialeinheit eine Woche lang begleitet. Die Polizisten wollen nicht mit Nachnamen genannt werden, aus Angst, außer Hayder al-Dschisani. Autor und Fotograf haben in dieser Zeit gelernt, was die wahre Bedeutung eines altertümlichen Wortes ist, das wir nur widerwillig aussprechen: Helden.

Hayder bleibt nicht viel Zeit. Er geht auf die Knie, zieht sich die Plastikhandschuhe über und kratzt Rußproben vom Boden. »Ihr Hurensöhne!«, ruft es hinter ihm aus der Menge. Junge Männer aus dem Viertel bauen sich vor den Polizisten auf, einzelne fangen an, auf sie einzuschlagen. Die Ladenbesitzer hatten begonnen, Glassplitter von der Straße zu fegen, und die Polizisten befahlen ihnen, das zu lassen. Damit die Spurensicherung und Hayder Beweise sammeln können.

Im Viertel Al-Rabia hat es in den vergangenen Jahren zu viele Razzien und Festnahmen gegeben. Vertreter der Regierung sind hier verhasst, egal welche. Es drohen Hinterhalte. »Wir müssen aufpassen«, hat Hayder auf der Fahrt hierher gesagt. »Ich habe kein gutes Gefühl.« Er fürchtet, dass sie von Scharfschützen auf den Dächern unter Beschuss genommen werden könnten. Möglicherweise ist die Explosion der ersten Bombe auch nur der Köder gewesen, um die Polizei anzulocken und dann bei deren Eintreffen eine zweite oder dritte zu zünden. So passiert das oft in Bagdad. Jede Situation könnte eine Falle sein. Er beeilt sich, sammelt Materialproben in einem Plastikbeutel, wortlos. Die Polizisten hinter ihm können die Menge nicht länger kontrollieren, einer entsichert sein Gewehr, die Menge grölt, Hayder bricht ab. Er will keine weiteren Toten.

Die Stadt mit ihren fünf Millionen Einwohnern liegt im Hochsommer unter einem braunen Schleier aus Wüstensand. In den Straßen flirrt die Hitze. Die Temperaturen steigen auf bis zu 48 Grad. Die letzten amerikanischen Besatzungstruppen sind vor einem Jahr abgezogen. Doch von der alliierten Invasion 2003 und dem Bürgerkrieg hat sich Bagdad noch nicht erholt. Das Sterben geht weiter. Bis November sind in diesem Jahr 3.843 Menschen ermordet worden, 2006 waren es allerdings noch 28.814. Der Statistik nach sterben heute täglich zwölf Menschen durch Attentate – 2007 waren es noch 81. Wobei die Mehrzahl der Morde wohl nie vermeldet wird. Die Stadt ist auseinandergefallen in sunnitische und schiitische Wohngebiete, getrennt von Betonmauern. Es gibt 10.243 Checkpoints. Sie halten die Stadt zusammen, notdürftig wie Eisenklammern einen morschen Schiffsrumpf. Immer noch sind ab und zu Gewehrsalven zu hören. Misstrauisch belauern sich die früheren Milizen. Ihre Mitglieder arbeiten jetzt in Ministerien, Verwaltungen, in den Läden ihrer Familien, doch jederzeit können sie wieder zu den Waffen greifen.

Die Regierung des Premierministers Nuri al-Maliki wankt. Seine schiitischen Verbündeten, die Anhänger des radikalen Muktada al-Sadr – die Sadristen –, unterstellen ihm, er konzentriere zu viel Macht auf sich. Die Sunniten werfen ihm vor, er habe sich auf die Seite der Schiiten geschlagen. Die sunnitischen Untergrundmilizen sind angeblich kurz davor, sich wieder zu erheben.

An der Oberfläche scheint Bagdad erstarrt, eine hässliche graue Kruste, aber an der Stadt zerren immer noch die Kräfte des Krieges. Alle paar Tage schleudern sie den Ascheregen der Vernichtung. Es sind Mörsergranaten aus alten Armeebeständen und Selbstmordattentäter, Autobomben, Straßenbomben größter Sprengkraft, Haftbomben unter Fahrzeugen, ausgelöst durch Handys oder Bewegungssensoren.

Die Stimmung beim Spezialkommando ist miserabel. Müde sitzen die Männer in ihren weißen Jeeps und quälen sich durch den Verkehr. Kreuzung für Kreuzung. »Du Arschloch!«, sagt ein Unteroffizier zu dem Beamten, der eben neben dem explodierten Wagen fast das Feuer eröffnet hätte. »Sie haben mir das Kabel vom Funkgerät abgerissen«, wehrt der sich. Dann fallen sie wieder in Schweigen.

Es ist fast Mittag, als der Konvoi sich dem Hauptquartier der Falken nähert, dem sogenannten Direktorat. Ein einstöckiges Geviert mit einem staubigen Innenhof, überragt vom Tulpenbau der Verwaltung, vor einem halben Jahr eingeweiht, in dem die Generäle residieren. Der Neubau der Verwaltung wiederum liegt tief im Schatten eines noch größeren Baus. Das irakische Innenministerium ragt über 30 Stockwerke auf wie ein monströser Geschützturm, Fenster, schmal wie Schießscharten, eine Trutzburg aus Saddams Zeiten, sichtbar bis zum Horizont.

Die Einheit besteht aus 48 Männern. 53 Polizisten kamen seit ihrer Gründung 2005 ums Leben, der letzte starb vor einem halben Jahr. In nur sieben Jahren ist die Einheit praktisch einmal aufgerieben worden. Die Porträts der Getöteten hängen im Durchgangsflur zwischen Kantine und Mannschaftsräumen. Sie sind unscharf, grobkörnig und manchmal schon etwas verblichen, und trotzdem bleiben die Augen der Polizisten im Vorbeigehen oft an ihnen hängen.

Die Stadt ist in dieser Woche so verletzbar wie lange nicht. Die Menschen, die sonst kaum aus ihren Häusern gehen, werden sich bald ins Freie wagen: Am Freitag werden sieben Millionen Schiiten in schwarzem Schador und Trauerkleidung durch Bagdad ziehen. Der alljährliche Pilgerzug zum Schrein des Imams Karim ist eine der größten Prozessionen der Welt. In allen Himmelsrichtungen werden sich die Straßen schwarz färben.

»Hayder!«, rufen die anderen Offiziere, als Hayder al-Dschisani von seinem Einsatz in den Aufenthaltsraum zurückkommt. Sie machen sich manchmal lustig über ihn, weil er sehr still ist. Muthanna schlägt ihm lachend auf den Rücken. Wie Hayder hat er Chemie studiert, keine Arbeit gefunden und sich bei der Polizei beworben. Thamer, ein ehemaliger Verkehrspolizist, schaut im Feinripp-Unterhemd grinsend auf. Er hat kürzlich seinen zweiten Versetzungsantrag gestellt, um in eine andere Polizeieinheit zu kommen. Der Antrag wurde abgelehnt. Dschassim, der beim Versuch, eine Bombe zu entschärfen, schwer verletzt worden ist, ebenfalls Chemie-Ingenieur, spielt am Computer die Eroberung von Stalingrad. Hayder legt seine Splitterschutzweste ab, hockt sich auf ein Feldbett und beginnt seinen Rapport zu schreiben. Thamer zeigt auf den Fernsehschirm: »Ein schlimmer Tag.« Im Liveticker laufen die Meldungen über Explosionen in der Endlosschleife.

Quer durch Bagdad gehen die Sprengsätze hoch, abwechselnd in schiitischen und sunnitischen Wohnvierteln. 21 Autobomben und 50 Sprengfallen werden es bis zum Abend sein. 70 Menschen sterben bis 18 Uhr, es ist der bisher blutigste Tag des Jahres. Aber auch eine Welle von Fehlalarmen jagt die Bombenentschärfer durch die Stadt. Hier ein zu lange parkender Wagen, dort ein Imbissstand, dessen Inhaber seit Tagen nicht gesehen wurde.

Mittags ist es wieder Hayder, der ausrücken muss. Er bricht den Kühlschrank einer Garküche auf, in dem Anwohner eine Sprengladung vermuten, aber da ist nichts. Ministerpräsident Maliki beruft am Abend das Kabinett zu einer Krisensitzung ein. Das Sicherheitskonzept für den Freitag, den Höhepunkt des Pilgerzugs, soll nochmals überprüft werden. Fast alle verfügbaren Ordnungskräfte im Land werden nach Bagdad beordert. »Ein Witz!«, lacht Thamer vor dem Fernseher. Noch so viele Polizisten könnten den Zug der Millionen nicht schützen.

Es ist ein ungleiches Duell zwischen Bombenlegern und Bombenentschärfern, ein Zweikampf, bei dem der eine Techniker den anderen zu überlisten versucht. In schneller Fahrt rauscht der Konvoi am nächsten Morgen über breite Autobahnen. Ahmed, der Hayder heute abgelöst hat, ist der diensthabende Offizier, der sich gern als Frauenheld und Partylöwe gibt und in Wahrheit nichts davon ist. Die Straßenränder sind gesäumt von den Zelten der Pilger, schiitische Fahnen flattern auf den Dächern. »Bombe am Al-Kanna-Highway«, lautete der Funkspruch. Mehr wissen sie nicht. Bald stecken sie im Morgenstau. Sie weichen auf den Mittelstreifen aus, bis plötzlich ein Taxi den Weg versperrt. Blinkend, hupend kommt der Konvoi dahinter zum Stehen. Zwei Menschen steigen aus dem Taxi und rennen davon. »Sieht beschissen aus!«, flucht einer der Polizisten in Ahmeds Wagen. »Das könnte eine Autobombe sein. Wenn die hochgeht, sind wir alle tot.«

In einem ruhigen Moment zuvor hat Ahmed gesagt: »Du hast zwei Möglichkeiten, wenn du einen Sprengsatz entschärfen willst. Du jagst ihn in die Luft, zerstörst ihn mit einer anderen Bombe. Aber dann ist alles dahin, jeder Hinweis auf den Bombenbastler, jede Chance, dem Terror eines Tages ein Ende zu machen. Oder du suchst den Stromkreis, der die Detonation auslöst: Du gehst zur Bombe hin, beugst dich dicht über sie und versuchst, sie zu begreifen.« Sie überholen das Taxi und kümmern sich nicht weiter.

Gruppen von Pilgern wandern auf dem Al-Kanna-Highway, als Ahmed mit seiner Kolonne eintrifft. Die Sprengfalle liegt nur zehn Meter von der Fahrbahn entfernt. Zwischen den Grasbüscheln ist sie kaum zu sehen. Gegenüber sind Zelte und Imbissstände aufgebaut, die die Prozession mit Getränken und Essen versorgen. »Fuck«, sagt Ahmed, was nicht der Bombe gilt, sondern dem Bombenräumkommando der Bundespolizei, Hayder und seine Leute sehen die »Löwen« als Konkurrenz. Die sind eher da gewesen und haben die Zündkabel des Sprengsatzes bereits gekappt. Die Experten beider Einheiten stehen jetzt vor der Bombe wie vor einem erlegten Tier. Zwei mit Klebeband umwickelte Mörsergranaten haben sie aus dem Gras geholt und einen Plastikkanister mit Sprengstofffüllung. »Die Terroristen haben nicht sauber gearbeitet«, sagt Ahmed, die Hände in den Hosentaschen. »Ich bin sicher, die haben beim Verkabeln einen Fehler gemacht.« Die drei Sprengladungen waren mit einem Zeitzünder verbunden, einem Wecker chinesischer Produktion. Plötzlich ein Knall, Ahmed zuckt zusammen. Hinter ihm ist in einer Garküche eine Kühlschranktür laut zugefallen.

Jeder Angriff auf den Pilgerzug kann Bagdad zurück in die Anarchie bomben. Wie die meisten Länder der arabischen Welt ist der Irak eine Schöpfung der Kolonialmächte, ein künstliches Gebilde, das umfasst, was sich nicht zusammengehörig fühlt. Die machtvollen schiitischen Pilgerzüge, unter Saddam verboten, sind für viele eine Provokation. 2005 starben auf einer Brücke in Bagdad bei einer Massenpanik 950 Pilger. Sie drängten sich gegenseitig in die Tiefe, weil Gerüchte über eine Bombe kursierten. Der Bürgerkrieg eskalierte vollends, nachdem 2007 bei einem Anschlag auf die Goldene Moschee in Samara 1450 schiitische Gläubige ums Leben gekommen waren. Diese Bombe war das Fanal zum großen Abschlachten, der Auftakt zum Krieg zwischen Sunniten und Schiiten, in dem Hunderttausende ermordet wurden – und der im Grunde bis heute anhält.

  PHOTOGRAPHIE Marcel Mettelsiefen

Bei Ahmeds Rückkehr schaut Thamer wieder fern, einen türkischen Polizeithriller mit vielen Flammen und Explosionen. Dschassim sitzt am PC, hat aber das Computerspiel gewechselt. Muthanna betet auf dem Boden zwischen den Betten. »Wir sind zu spät gekommen!«, klagt Ahmed. »Die Löwen haben die Zündkabel mit der Hand zerrissen, nur damit sie zeigen können, wie schnell sie sind.« – »Deshalb haben die auch so viele Unfälle«, ruft Thamer. Lange Jahre waren die Falken die Einzigen in Bagdad, die Bomben entschärften, sie sind die Muttereinheit, sagt Thamer, der von Anfang an dabei ist. »Wir haben alle ausgebildet. Ohne uns wären die nichts.« Mittlerweile gibt es fünf untereinander konkurrierende Trupps, jedes Ministerium hält sich einen. Bisher haben sie es noch nicht geschafft, die Stadt in Zuständigkeitsbereiche aufzuteilen. Oft stürzen sich alle fünf auf einmal auf eine Bombe. Es finden regelrechte Wettrennen zwischen den Räumkommandos statt.

Im korruptesten Land der Welt hat die Falken zudem ein Korruptionsskandal gebeutelt. Ihre Kassen sind geplündert. Es ist kein Geld da für moderne Ausrüstung. Für bessere Roboter und Schutzanzüge. Ihre ehemalige Führung ist in Haft: Der Gründungsvater der Einheit, ein General, sitzt mit drei weiteren Offizieren im Gefängnis, verurteilt zu viereinhalb Jahren. Er hatte 800 Sprengstoffdetektoren des Typs ADE 651 für 32 Millionen Dollar aus England gekauft. Jeder Checkpoint im Irak verwendet diese Handgeräte. »Zauberstäbe« heißen sie im Volksmund. Der General wurde verurteilt, weil er Geld hinterzog und die Detektoren für 60.000 Dollar statt für 18.500 Dollar pro Stück erwarb. Er wurde aber nicht etwa bestraft, weil sie ganz offenbar nicht funktionieren. Die Sicherheit von Millionen von Irakern, das ist der begründete Verdacht, stützt sich auf Scharlatanerie. Noch ist der Zauberstab überall im Land im Einsatz.

Ihre Gegner, die Bombenbauer, sehen die Sprengstoffexperten nie. Doch manchmal reden sie mit ihnen am Telefon. Thamer erzählt, wie er vor einem Jahr versuchte, eine Autobombe zu entschärfen. »Ich hatte am Gaspedal den ersten Stromkreis gekappt.« Einen zweiten habe er unter dem Beifahrersitz durchgeschnitten. »Okay, dachte ich, das war’s. Doch plötzlich klingelt irgendwo im Auto ein Handy.« Handys sind die gebräuchlichsten Zünder, ihr Klingeln gibt der Bombe den elektrischen Impuls. Thamer rettete der Umstand, dass er zuvor zufällig ein Kabel durchgeschnitten hatte, das den Zünder mit dem Sprengstoff verband. Was er nicht wusste. Als er das Handy fand, nahm er den Anruf an und brüllte hinein. »Du hast mich nicht erwischt, du Ratte!« Mit ruhiger Stimme habe der Anrufer erwidert: »Ich krieg dich ein andermal.«

Am Donnerstag füllen sich die Straßen. Wo am Vortag Dutzende liefen, sind es jetzt Tausende. Freiwillige besprühen die Pilger am Wegesrand mit parfümiertem Wasser, damit sie nicht in der Hitze kollabieren. Musik spielt aus Lautsprechertürmen.

Für die Falken bleibt es vorerst still. Sie führen ein Leben zwischen Extremen. Da sind Tage voller Langeweile, in denen sie sich auf ihren Betten rekeln und über die Hitze und die Bezahlung klagen, Tage, in denen sie Pornos auf den Handys abspielen, Tee trinken. Ins Endlose gedehnte Zeit. Sie endet, wenn Polizei- oder Militärstreifen in der Zentrale anrufen, sie endet mit dem Schrillen der Klingel im Flur, diesem kleinen bonbonroten Ding, das die Zeit tausendfach beschleunigt. Die rote Klingel des Alarms komprimiert Stunden zu Sekunden, in denen über Leben und Tod entschieden wird.

Die ganze Stadt ist am Tag vor dem Höhepunkt des Pilgerzugs Sperrgebiet. Nur wenige Straßen dürfen befahren werden. Das soll die Gefahr von Autobomben verringern. Am Nachmittag schellt die Klingel, es trifft wieder Hayder. Die älteren Offiziere wie Thamer und Muthanna lassen gerne die jüngeren vor. Hayder läuft zum Spind, wo das Foto seines vier Monate alten Sohnes hängt, Qaswr, sein erstes Kind. Dann schließt er die Klettverschlüsse seiner Schutzweste, schweigend wie immer.

Die Mannschaften rennen zu den Fahrzeugen. Sie rasen durch leere Straßen. Am Rande von Sadr City ist ein verdächtiges Fahrzeug gemeldet worden, an der 83. Kreuzung. Aber dort ist nichts zu sehen. Die Kontrollposten wissen von nichts, und gerade als Hayder beginnt, misstrauisch zu werden, ob sie hier nicht in eine Falle geraten, finden sie den Wagen. Ein Taxi, es steht in einer Nebenstraße. Der Fahrer ist angeblich nach einem Streit mit einem Nachbarn geflohen. »Macht den Roboter klar«, sagt Hayder zu seinen Leuten, weil das Vorschrift ist. Doch sie wissen, dass das nicht nötig sein wird. Denn Hayder geht selbst zu dem Wagen.

Das ist der Grund, warum ihn die niederen Dienstgrade nicht, wie die Offiziere, als den Stillen verspotten, der nie Witze macht. Hayder ist der Furchtloseste. »Man hat da so einen Instinkt«, sagt er später. Er hätte den Roboter benutzen können, im schlimmsten Fall wäre die Maschine auf halber Strecke stehen geblieben. Wegen der alten Batterien. Im besten Fall hätte er es zum Taxi geschafft, ein Schütze hätte das Seitenfenster zerschossen, und der Roboter hätte eine Sprengladung ins Innere geworfen. Dann hätten sie den Wagen in die Luft gejagt. So ist das Standardverfahren, so machen es die älteren unter den Offizieren. »Ich habe keine Lust mehr, mein Leben zu riskieren«, sagt etwa Thamer. »Es hätte den ganzen Tag gedauert«, sagt Hayder. »Wir hätten alles evakuieren müssen und hätten alles zerstört.« Als er das Taxi erreicht, blickt er durch die Fensterscheiben, geht mit etwas Abstand drum herum. Angespannt beobachten seine Leute aus sicherer Entfernung das Geschehen. Die Terroristen lassen ihre Bomben selten allein. Sie beobachten aus der Ferne, lauern manchmal nur darauf, dass die Sicherheitskräfte näher kommen. Wählen dann die Nummer des eingebauten Handys und zünden. Hayder hätte keine Chance.

»Warum hat Allah dem Menschen die Nasenlöcher nach vorne wachsen lassen und nicht an den Schläfen?«, fragt Muthanna, als Hayder eine Stunde später in den Aufenthaltsraum tritt. Muthanna liest gerne in theologischen Abhandlungen. Allah hat einen Plan, will er damit sagen. Egal, wie grausam die Wirklichkeit sein sollte, es gibt dahinter einen Sinn. »Fehlalarm«, sagt Hayder, die Offiziere schauen nur kurz auf. »Warum hat Gott«, fährt Muthanna fort, »die Augenbrauen über die Augen gesetzt und nicht darunter?«

Hayder öffnet seinen Spind, sieht das Fotos seines Kindes, legt die Weste ab. Er hat mit einem Brecheisen das Seitenfenster eingeschlagen, dann die Wagentür geöffnet, behutsam, nur wenige Millimeter, um zu sehen, ob ein Draht dazwischen gespannt ist. Er öffnete dann den Wagen, suchte mit zwei weiteren Polizisten in jedem Winkel und fand – nichts.

Den Tod haben die Bombenbauer in immer vielfältigere Formen verpackt. Thamer musste schon Thermoskannen entschärfen, Colaflaschen und eine Zigarettenschachtel. In den Moscheen haben sie religiöse Bücher gefunden, ausgeschabt und mit Sprengstoff gefüllt. Es gibt Bombenbauer, die sich auf die Herstellung von Ziegelsteinminen spezialisiert haben. Sie sind von echten Ziegeln nicht zu unterscheiden. Die Sprengstoffe kommen aus den Nachbarländern, vornehmlich dem Iran, oder werden aus Düngemitteln gemischt. Bei den Zündern verwenden die Untergrundwerkstätten zunehmend elektronische Sensoren statt Handys. So umgehen sie Störsender.

Hayders Einsätze sind für ihn schwerer geworden, seit sein Sohn auf der Welt ist. »Ich habe schon Kinder gewollt, als ich zehn Jahre alt war.« Zu Hause trägt er den Säugling durchs Haus und kann gar nicht von ihm lassen. Er konnte bei der Beschneidung nicht zusehen, weil er den Schmerz im Gesicht seines Sohnes nicht ertrug. Nach Schichtende, wenn er die Uniform auszieht, geht er in den Handyladen seines Bruders und hilft beim Verkauf. Fast alle Sprengstoffexperten haben einen Zweitjob. Mit dem Gehalt eines Polizisten alleine, 900 Dollar monatlich, könnten Hayder und seine Familie nicht auskommen.

Am Freitag erreichen die Pilger unbeschadet das Heiligtum in Kasimija. Kilometerbreit umsäumen sie den Schrein. Nur Luftaufnahmen können die gewaltigen Dimensionen erfassen. Beim Gebet flehen die Pilger in religiöser Verzückung, beweinen den Imam, der im 8. Jahrhundert vergiftet worden war. Frauen und Männer klammern sich an die Gitterstäbe seines Grabes. Das Trauern ist aber auch Feiern, der Beweis für ihre Liebe zum Propheten Gottes.

Es hält nun auch die Bombenentschärfer nicht länger auf ihrem Stützpunkt. Sie alle sind Schiiten. Muthanna läuft mit seiner Familie quer durch die Stadt, kehrt aber vorzeitig um, weil ihm die Menschenmassen für die Kinder zu bedrohlich erscheinen. Thamer nutzt die Gelegenheit für den ersten Ausflug nach der Geburt seiner Zwillinge. Den Kinderwagen vor sich her schiebend, folgt er seiner Frau im Strom der Gläubigen. Die Bombenanschläge bleiben zum Glück bislang aus.

Am Ende, als die Massen auf dem Heimweg sind und niemand mehr damit rechnet, sprengt sich ein Attentäter an einem Stand von Sammeltaxis in die Luft. Er tötet elf Menschen und verletzt 45. Das einzige Attentat an diesem Tag.

Wenig später sitzen die Offiziere des Bombenkommandos im Aufenthaltsraum. »Ich habe so etwas noch nicht erlebt«, sagt ein junger Polizeileutnant, der für die Feiertage zur Verstärkung aus der Provinz hierher versetzt worden ist. »Fleisch und Knochensplitter überall.« Er sitzt zitternd im Polstersessel, presst die Handflächen aufeinander, versucht, nicht zu schluchzen. »Ich weiß nicht, was ich gesehen habe. Ob dieses Fleisch auf dem Boden Frauen oder Kinder waren.«

»Ein paar Minuten vorher bin ich da mit meiner Familie noch durchgelaufen«, sagt Thamer erschrocken. »Den Pilgerzug müsste man polizeilich verbieten«, findet Ahmed.

 

 

 

 

 
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PHOTOGRAPHIE
Marcel Mettelsiefen, Berlin