Eine Reise im Mai 2012 in die syrische Stadt Azaz, in der die Rebellen die Oberhand haben und die letzten Regime-Truppen sich verzweifelt wehren.
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PHOTOGRAPHIE Nicole Tung

Es gibt ein Leben nach Assad

 

 

Der Mann, von dem sie in Azaz sagen, er sei ganz ohne Angst geboren, läuft die Straße entlang. Die Straße ist menschenleer. Glassplitter knirschen unter seinen Sandalen. Der 29-jährige Ahmed* läuft in immer gleicher Geschwindigkeit, in einem eigentümlichen Wiegegang, mit weit ausgreifenden Schritten. Ahmed hat das Downsyndrom. Er weicht Trümmern aus, die von den Hauswänden auf die Straße geplatzt sind, verschwindet für einen Moment in der Rauchschwade einer neuen Explosion. Er streckt die Hand nach einer Hauswand aus, weil in 200 Metern Nähe eine Mörsergranate einschlägt. Es ist Krieg in Azaz, einer Kleinstadt im nördlichen Syrien. Die meisten der 70 000 Einwohner sind geflohen oder haben sich tief in ihren Häusern versteckt, nur Ahmed bleibt auf der Straße. Seine Familie hat ihn zurückgelassen. Er ist einer der letzten Zivilisten.

„Ein Engel wacht über ihn“, heißt es in der Stadt über Ahmed, der wie unbeteiligt durch Tod und Zerstörung wandelt. Ich begegne ihm am Tag des schwersten Beschusses, als die Imame der Stadt von ihren Minaretten den Schutz Gottes erflehen und ich mich in ein Gebäude flüchten will. Ahmed breitet auf der Straße seine Arme aus und drückt mich fest an seine Brust. Drückt sein Gesicht in meinen Nacken. Ich möchte ihn hinter die Mauern des Hauses ziehen, aber Ahmed sträubt sich, mit unbestimmtem Lächeln, und läuft weiter die Gasse hinab.

Es war lange ruhig geblieben in diesen Teil Syriens, nur sieben Kilometer hinter der türkischen Grenze. Die Zentren der Revolution lagen weit entfernt, in Homs, in Hama und Daraa. Doch unbemerkt von der Außenwelt haben sich in dieser Region immer mehr Dörfer vom Assad-Regime befreit. Sie verjagten die Bürgermeister der Staatspartei, die Polizisten und die Spitzel. Hier entsteht das neue Syrien und beherrscht Assad nur noch kleine isolierte Areale. Die Machtverhältnisse haben sich umgekehrt. Von der Grenze bis 40 Kilometer ins Land hinein sind die meisten Dörfer der Kontrolle des Staates entglitten, darunter mehrere kleine Städte, die größte davon: Azaz.

Dieser unscheinbare Ort, so hoffen die Rebellen, könnte für die syrische Revolution das werden, was Benghazi für Libyen war, Hauptquartier und Rückzugsraum. Der Anfang vom Ende Assads. Nicht die Rebellentruppe der „Freien Syrischen Armee (FSA)“ ist hier belagert, sondern die syrische Armee. Was in Azaz geschieht, ist ein Trend im ganzen Land. Die Regierungstruppen schaffen es nicht mehr, Gebiete dauerhaft zurückzuerobern. Die heimliche Waffenhilfe des Auslandes zeigt Wirkung. Jeden Tag verlieren die Assad-Truppen Checkpoints und Basen. Nach Monaten scheinbaren Stillstands laufen immer mehr Soldaten zu den Rebellen über. Jede Bodenoperation birgt die Gefahr von Desertionen. Deshalb beschränkt sich die Armee in vielen Gebieten auf das Bombardement aus der Ferne. Dieser Beschuss macht jedoch nicht nur die Beschossenen mürbe, sondern allmählich auch die Schützen.

Der Tag, an dem ich Ahmed treffe, hat morgens um 5.40 Uhr mit zwei schweren Explosionen begonnen. Das Beben des Bodens weckt mich, neben mir dreht sich Anwar auf seiner Matratze um. „Unsere Leute“, murmelt er, „sie haben den Angriff begonnen.“ Seit zwei Wochen rennt die FSA in der Stadt gegen den letzten Armeestützpunkt an. Anwar ist der Leiter des örtlichen Medienzentrums des Aufstandes. Zwölf Aktivisten arbeiten in unserem Versteck rund um die Uhr, in Schichten, allesamt Universitätsstudenten der unterschiedlichsten Fakultäten. Anwar, der englische Literatur studierte, schläft wieder ein. Er ist in diesen Tagen mein Gastgeber, mein Beschützer, manchmal auch mein Zensor. Mahmoud, Student des internationalen Rechts, klein und flink, eilt aus dem Haus, er schließt sich den Kämpfern an, um deren Gefechte zu filmen. Abdul, massig und kurzatmig, steht lange vor dem Spiegel im Innenhof, er kämmt sich sorgfältig die lichten Haaren. Dann geht auch er.

It`s game time“, ist auf sein T-Shirt gedruckt. Er wird auf das höchste Wohnhaus steigen und eine Live-Schaltung einrichten. Abdul schaut von dort oben aus auf die ganze Stadt, den rosa blauen Himmel des frühen Morgens über sich. Im Westen sieht er das Quartier der Militärpolizei, die Bastion der Assadtruppen in der Stadt. 300 Mann und ein Panzer sollen hier noch den Rebellen Widerstand leisten. Alle anderen Feuerstellungen hat die Armee in den letzten Wochen räumen müssen. Die Soldaten haben faustgroße Löcher in die Wände ihrer Festung gebrochen, durch sie nach außen feuern. Scharfschützen sitzen in den Doppel-Minaretten der angrenzenden Moschee. „Meide die Türme“, warnt mich Anwar am ersten Tag. Drohend ragen ihre Spitzen über den Häusern. Im Süden sieht Abdul den Militärflughafen von Minagh, wo die Hauptstreitmacht von Assad steht, die größte Basis der Region, 2000 Mann angeblich. Von dort beschießen schwere Artillerie, Panzer und Raketenwerfer die Stadt. Abdul wird die Kamera zwischen diesen beiden Orten hin und her schwenken, von Mündungsfeuer zu Mündungsfeuer. Heute übertragen drei arabische Fernsehsender live seine Bilder. Auch Al Dschasira. Ein großer Erfolg. Üblicherweise riskiert Abdul sein Leben für revolutionäre Facebook-Foren und tausend Klicks am Tag. „Tausend Klicks sind super!“, sagt er. Stundenlang kauert er auf dem Dach hinter einem Mauervorsprung.

Als das Bombardement einsetzt, die Artillerie aus der Ferne schießt, bleibe ich im improvisierten Medienzentrum, einem Haus mitten im Gassengewirr, Erdgeschoss, von allen Seiten geschützt, so ist das Kalkül. Ich höre über mir das Bersten der Explosionen, den trockenen Doppelknall der Panzergranaten, das pfeifende Röhren der Raketen. Um mich herum tippen ungerührt die Aktivisten auf ihren Laptops, sie sitzen auf dem Boden und laden eben aufgenommene Videos ins Internet. Hin und wieder werfen sie einen Blick auf den Fernseher, wo das Standbild von Abdul flimmert, um zu überprüfen, an welchen Plätzen in der Stadt die Granaten einschlagen. „Schau, die Moschee“, sagen sie, und „das Haus meines Onkels.“

Der Angriff der FSA schlägt fehl. Ihre Kommandeure hatten zu wenig Männer zusammengezogen, auch war ihnen nach dem ersten Ansturm die Munition ausgegangen. Drei bewaffnete Gruppen kämpfen in der Stadt, um die 1000 Mann insgesamt, behauptet Anwar. Die größte Brigade wird von einem geführt, den alle nur den „Lehrer“ nennen, ein freundlicher Islamist, der früher an einer Mädchenschule unterrichtete. Neue Rekruten müssen bei ihm zuerst eine 14-tägige theologische Schulung absolvieren und dann erst eine ebenso lange Schießausbildung. Die zweite Gruppe besteht vor allem aus ehemaligen Schmugglern, wie es missgünstig in der Stadt heißt. Diese Gruppe liegt mit allen im Streit, sie beansprucht alles Benzin für sich, alle Ressourcen, entführt vermeintliche Anhänger des Regimes und lässt sie gegen hohe Lösegelder wieder frei. Sie hat auch die elf Libanesen verhaftet, denen sie vorwirft, Kämpfer der schiitischen Hisbollah zu sein. Die bisher auf der Seite Assads standen. Der Vorfall hat im Nachbarland zu tagelangen Straßenkämpfen geführt. Die dritte Brigade, die kleinste mit 50 Männern, Ahrar al Sham, bezog in einer Schule Quartier. Ihr Führer ist ein übergelaufener Ausbilder der Assad-Armee, Abu Anas, 31, mit rötlich wallender Löwenmähne.

Anwar fährt mich durch die Stadt. Der Artilleriebeschuss hat etwas nachgelassen, nicht mehr alle fünf Minuten, sondern nur noch jede halbe Stunde schlägt ein Geschoss in den Häusern ein. Den Wagen, den Anwar durch die Straßen jagt, haben sie einem Assad-Getreuen weggenommen. Anwar schont den Wagen nicht, er fährt ihn als wolle er mit jedem Gangwechsel seinen ehemaligen Besitzer bestrafen, er bremst abrupt, beschleunigt abrupt, geht so hart in die Kurven, dass er dabei immer kurz vorm Umkippen ist.

Wie sehr Anwar sich verändert hat seit dem Ausbruch der Revolution. Er sagt es von sich selber. Hager ist er geworden, hart, rastlos. Der Student, der mit Begeisterung Shakespeare zitiert, nie ein Gewehr in der Hand hatte, will jetzt immer dringender selbst auf die gegnerischen Schützen schießen. „Schweine“, sagt er. „Nicht wert, zu leben.“ Und wie sehr sich Azaz verändert hat. Wir fahren durch fast leere Straßen, in denen nur wenige Läden offen haben. Die Menschen, die sich auf die Wege wagen, schauen misstrauisch nach allen Seiten. Die Stadt versinkt in Müll. Das Provinznest ist zum Heerlager unterschiedlichster Rebellen aus Syrien geworden. Nur noch wenige tausend der einstigen Stadtbevölkerung verharren im Ort, der Rest ist geflohen in die umliegenden Dörfer, in die Türkei, nach Aleppo. Es ist alles so schnell gegangen, sagt Anwar. Er hat vor 14 Monaten die ersten Demonstrationen in Azaz organisiert, da waren sie zwei Dutzend.

Lange hätten sie friedlich demonstriert. Er erzählt, wie im vorigen August der erste Stein auf Polizisten geworfen, wie im Februar 2012 der erste Demonstrant erschossen wurde und danach zur Beerdigung 15 000 Menschen kamen. Wie die Regierung Panzer und 2000 Soldaten schickte, die zwei Einwohner erschossen, die Läden plünderten. Als die Truppe weiterzog, stürmten die Einwohner die Gebäude von Polizei und Geheimdienst. Bewaffnete FSA-Gruppen aus den Nachbarorten, die sich schon früher erhoben hatten, kamen ihnen zu Hilfe. Das war am 24. Februar. Damals stieg Anwar auf das örtliche Hauptquartier der Baath-Partei und hisste die Flagge des neuen Syriens. Dort weht sie bis heute.

An diesem Nachmittag schlägt eine Panzergranate in einer Wohnung nahe der Assad-Festung ein, tötet eine 70-Jährige und ihre 20-Jährige Enkelin.

In einem ehemaligen Kulturzentrum versammeln sich zur gleichen Zeit die Mitglieder des Übergangsstadtrates. Sie sind die Vertreter des alten Azaz, die Reste der Intelligenz, Lehrer, Ingenieure, ein Buchhändler. „Wir wollten vermeiden, dass Chaos ausbricht“, sagt Abu Osman, der Vorsitzende, ein Bauunternehmer. Vor zwei Monaten haben 70 Wahlmänner ein siebenköpfiges Komitee aus ihren Reihen gewählt. Sie diskutieren die Neuorganisation der Müllabfuhr, damit in der Stadt keine Seuchen ausbrechen, sie verteilen das rare Benzin, streiten mit Brigaden der FSA um die Ressourcen. Seit Wochen erreicht sie kein Tanklaster mehr, immer mehr Autos in Azaz stehen still. Der bisherige Bürgermeister, ein Assad-Getreuer, ist im Februar geflohen. „Dem ist es nur ums Geld gegangen“, klagt Abu Osama. Für alles habe man auf der Stadtverwaltung Bestechungsgelder zahlen müssen, zehn Euro beim Abholen des Personalausweises, tausend Euro für das Eröffnen eines neuen Ladens. Er selbst, so Abu Osama, habe im Schnitt zehn Prozent der Auftragssummen für Schmiergelder ausgeben müssen. Nach dem Sieg der Revolution werde in Azaz alles besser, sagen die Männer des Übergangsrates, vor allem gerechter. Wie sie das anstellen werden? Verlegenes Schweigen. Noch haben sie nicht viele Pläne über das Überleben hinaus.

Der Beschuss wird nach Einbruch der Dunkelheit intensiver, in der Nähe des Medienzentrums verletzt eine Rakete zwei Brüder, zehn und elf Jahre alt. Ich treffe sie im Behandlungsraum der Klinik. Der eine kauert auf einem Hocker, der andere auf einer Trage. Metallsplitter in den Armen und Beinen, aber zum Glück nicht tief. Unter Schock stieren beide in den Raum. Fast alle der zwölf Ärzte, die bis zum Ausbruch der Kämpfe in der Klinik arbeiteten, sind geflohen, nur einer nicht. Er hat seit Tagen nicht mehr richtig geschlafen, Schweiß auf der Stirn, Blut auf dem Kittel. Blut ist überall, Blut dieser Nacht, Blut der Tage davor, an den Wänden, in einzelnen Spritzern und schlierigen Bahnen. Ein 14-Jähriger wird eingeliefert, das linke Bein zerfetzt, Granatsplitter im Rücken. Eine halbe Stunde müht sich der Arzt, den Blutverlust zu stoppen, den Kreislauf zu stabilisieren. Diese Klinik in Azaz ist die einzige funktionierende nördlich von Aleppo. „Wir können nur Erste Hilfe leisten“, sagt der Arzt, dessen Name nicht genannt werden soll. Seine Familie lebt noch im Einflussbereich der Regierung. Er hat Angst, dass sie verhaftet wird, so wie es in diesem Krieg vielen Familien von Ärzten erging, die auf der Seite der Opposition Verletzte behandelten.

Den Jungen übergibt er dem Fahrer der Ambulanz, der an die türkische Grenze eilt, zu einer Lücke im Zaun, wo auf der anderen Seite ein Krankenwagen des Nachbarstaates wartet. Die beiden Wagen fahren im Grenzstreifen aufeinander zu, bis sich die Stoßstangen fast berühren. Der Junge wird von einem Fahrzeug in das andere gehoben. Die Weiterbehandlung übernimmt ein türkisches Krankenhaus. Der kleine Grenzverkehr zwischen dem FSA-kontrollierten Syrien und der Türkei funktioniert immer reibungsloser. Unter Aufsicht des türkischen Militärs fahren Kolonnen von Reisebussen heran, auf geschotterten Seitenwegen, unter Umgehung der offiziellen Grenzübergänge. Hunderte Flüchtlinge verkehren so zwischen den Ländern. Die FSA versteckt sich an der Grenze nicht länger, sie zeigt Präsenz, hat von den Assad-Truppen aufgegebene Wachtposten übernommen und ihre neue Flagge auf die Masten gezogen. Nur die offiziellen Übergänge werden noch von der Regierung gehalten. Die FSA hat sie offenbar vom Umland weitgehend abgeschnitten. Nur über Luftbrücken kann sie die Regierung versorgen.

Der konfessionelle Flickenteppich Syriens setzt sich jenseits der Grenze fort. Die Stadt Azaz hat das Glück, sunnitischen Siedlungen auf der türkischen Seite gegenüber zu liegen. Ihre Bewohner sympathisieren weitgehend mit dem syrischen Aufstand. Die Rebellen in der weiter südlich gelegenen Provinz Idlib stoßen in der Türkei auf die mehrheitlich von Alawiten bewohnte Stadt Antakya. In vielen Geschäften hängt dort das Foto von Bashar al Assad einträchtig neben dem von Atatürk. Hier sollen die Krankenhäuser sehr viel unwilliger sein, ihre Ambulanzen an die Schmugglerübergänge zu schicken, klagen syrische Aktivisten, sie verzögerten ihre Abfahrt oder verweigerten sich ganz.

Anwar klatscht im Medienzentrum in die Hände. „Gute Neuigkeiten!“ Alle Jungs haben sich wieder in dem Haus in der Altstadt versammelt, mit ihren Videoaufnahmen, die sie den Tag über gemacht haben, auch Abdul, der nachmittags von seinem Hochhaus gestiegen ist. Anwar hat kurz zuvor mit einem Soldaten gesprochen, einem Überläufer, der an diesem Morgen aus der Assad-Festung floh. „Der sagt, dass es jetzt nur noch 62 sind! So wenige! Wir dachten bisher immer, es seien 300.“ Die FSA hat für den nächsten Tag einen weiteren Angriff angesetzt, einen besser vorbereiteten. Abdul wird ganz früh mit seiner Live-Kamera auf das gleiche Hochhaus gehen, trotz Warnungen. Auch die Armeeführung schaut fern. Sie kennen jetzt sein Versteck. „Es gibt im ganzen Ort keinen besseren Ausblick!“, sagt er. Bis tief in die Nacht sind die Räume des Medienzentrums erfüllt mit den Geräuschen der Videos, mit dem Schreien und Brüllen dieser Stadt.

Den nächsten Morgen verbringe ich im Treppenhaus des Nachbargebäudes, das massivere Wände hat. Es hagelt wieder Granaten auf Azaz. Rund um den Armee-Stützpunkt toben Straßenkämpfe. In die Kellerräume des Hauses haben sich 200 Frauen und Kinder geflohen, einige stecken sich zusammengeknüllte Papiertücher in die Ohren. Es gibt nur zwei dieser Schutzkeller in Azaz. Die Mütter versuchen, ihre Kleinen ruhig zu halten, sie spielen mit ihnen, einige weinen. Viele beten leise. Oder starren still vor sich hin. Die Männer servieren mir im Bombardement ein Frühstück aus Tee und Falafel.

   

Es gelingt den Rebellen, einen Teil der Assad-Bastion zu erobern, das frühere Bürgermeisteramt. Sie haben einen 30 Kilo Sprengsatz an der Außenwand gezündet. „Ich bin mit der Bombe auf den Schultern zwei Stunden lang an der Wand entlang gekrochen“, strahlt ein Hochgewachsener bei der Brigade von Abu Anas. Der letzte Assad-Stützpunkt scheint kurz vor dem Fall. In der Schule, der Basis der Brigade, herrscht ausgelassene Stimmung. Jeder lacht, leuchtet, nur einer nicht, der Soldat, der am Vortag überlief. Er ist 20 Jahre alt, Hauptgefreiter, große jungenhafte Augen, hänflingsdünn. Seine Fingerspitzen zittern beim Erzählen. „Ich hätte dich vorgestern noch erschossen,“ zeigt Abu Anas grinsend mit der Hand auf ihn. „Ich war mit dem Herzen seit Langem einer von euch!“, sagt der Überläufer. „Die Offiziere haben uns gesagt, dass sind alles Kriminelle, ihr müsst sie beschießen.“ Um seine neue Loyalität zu beweisen, hat er Abu Anas den idealen Ort für die Platzierung der Bombe verraten. Ein blutiger Initiationsritus.

Die neuen Überläufer müssen sich beweisen, sie sind der alte Feind und der neue Freund. Sie richten die Gewehre gegen die, mit denen sie eben noch lebten. Den Oberkörper nach vorne gebeugt, erzählt der 20-Jährige mit gesenktem Blick, dass dem Stützpunkt die Lebensmittel ausgingen, seit zehn Tagen nichts mehr zu ihnen durchgekommen sei. Der Versuch, mit dem Hubschrauber, Brot abzuwerfen, sei gescheitert. Die Soldaten schwärmten aus, um die Nachbarhäuser zu plündern. Da sei aber auch nix mehr zu holen. Allmählich erkannten die Eingeschlossenen, wie prekär ihre Lage ist. Von den 30 Soldaten, mit denen er vor einen Monat nach Azaz verlegt worden war, seien vier getötet und zehn verletzt. Die Disziplin werde unter der Besatzung immer schlechter. „Die Soldaten fürchten die Offiziere nicht mehr.“ In einem Streik hätten sie durchgesetzt, private Handys zu besitzen. Damit sie mit ihren Familien telefonieren können. „Wir hatten einfach unsere Wachen nicht mehr besetzt.“ Doch noch immer sei es lebensgefährlich zu desertieren. Eine Handvoll alawitischer Scharfschützen halte die Truppe zusammen.

„Ich will nicht mehr kämpfen“, sagt ein zweiter Überläufer in der Brigade von Abu Anas, als er sich sicher ist, dass es die anderen nicht hören. Er ist Feldwebel, bis vor wenigen Stunden Mitglied der Panzereinheit, die Azaz vom Militärflughafen aus beschiesst. „Ich habe es so satt, diesen Krieg.“ 90 Prozent der sunnitischen Soldaten ginge es wie ihm, sagt er. „Die Armee weiß, sie ist schwach.“ Er sei Zeuge von Massakern geworden, bei denen seine Einheit Familien erschossen habe, Frauen und Kinder, nur weil sie bestimmten Familien angehörten. „Assad lügt. Wir erschießen nicht nur Terroristen. Jeder Soldat weiß, dass das Blödsinn ist.“ Auch die Rebellen zwängen ihn nun, zu kämpfen. „Ich frage mich die ganze Zeit, wie komme ich da raus?“

Weil Abu Anas heute guter Laune ist, zeigt er das Dokument eines weiteren Sieges seiner Brigade. Sie haben am Vortag den Distriktchef des Geheimdienstes verhaftet. Ihn auf der Nationalstraße aufgelauert. Er sei für den ersten toten Demonstranten in Azaz verantwortlich. Abu Anas sucht auf seinem Handy nach der Datei, dann spielt er die Aufnahme ab: Ein älterer Herr, das Gesicht blau geschlagen, der seinen Oberkörper hin und her wiegt. Knapp davor, das Bewusstsein zu verlieren. Er kann die Augen kaum offenhalten, dann hört man das Rasseln eines Elektroschockgeräts, und Abu Anas drückt rasch auf Stopp. Es gibt Feldgerichte, die gefangenen Assad-Leuten drei Möglichkeiten bieten: Du schließt dich uns an. Du kaufst dich frei. Bei Angeklagten, denen man einen Mord nachweisen kann: Du wirst erschossen. Dieses Urteil droht dem Geheimdienst-Mann.

Das Land ist in viele kleine Parzellen zersprungen, Risse tun sich auf, zwischen den Dörfern, durch die Dörfer. Keine Kriegspartei hat die Übersicht. Das Telefon von Abu Anas klingelt, einer seiner Checkpoints vor der Stadt. Die Männer berichten, im Niemandsland zwischen FSA und Militärflughafen hätten Panzer einen Mini-Bus beschossen, vier Kilometer vor der Stadt. Niemand traut sich zu den Leichen und den Verletzten. Abu Anas bricht auf, leiht sich einen Pritschenwagen, holt das von der Straße, was vom Busfahrer noch übrig ist. Ein blutiger Torso. Den Kopf kann er in der Hast nicht finden. Eine zweite Leiche, den Schädel zur Hälfte eingedrückt. Der Panzer hatte frontal auf die Windschutzscheibe gezielt. Zehn Lehrer aus Aleppo waren mit dem Mini-Bus auf dem Rückweg gewesen, sie hatten Schulprüfungen in der Nachbarstadt Afrin abgenommen. Dort herrscht noch Assad und die mit ihm verbündete Kurdenpartei PKK. Eine weitere Komplikation in der Region. Ein bewaffneter Konvoi aus zehn Fahrzeugen mit PKK-Fahnen nähert sich Azaz. Der Fahrer war Kurde. Sie wollen seine Leiche mitnehmen - und klären, wer der Verantwortliche für seinen Tod ist.

Es ist eine heikle Situation, selbst Anwar ist nervös, „das ist nicht gut“, sagt er, Abu Anas lacht alles weg, er drückt die PKK-Abgesandten, nimmt sie in den Arm. Er hat seinen Checkpoint angewiesen, nur zwei der zehn Fahrzeuge in die Stadt zu lassen. Zum ersten Mal nach Ausbruch der Kämpfe sind PKK-Kämpfer in Azaz. In einem Klassenzimmer der Schule sitzen sie dann im Kreis. Abu Anas versucht, aufzuklären. Die Kurden verdächtigen anfangs die FSA. Dann, nach wenigen Minuten, setzt plötzlich wieder Beschuss ein. Über der Stadt kreist ein Hubschrauber der syrischen Luftwaffe, er feuert mit Raketen und schwerem Maschinengewehr in die Straßen. Und mit einem Mal bekämpfen Kurden und FSA gemeinsam den Angreifer. Abu Anas läuft hinauf auf das Dach und schießt mit seinem Maschinengewehr. Im Erdgeschoss, in der offenen Tür, stehen PKK-Schützen und feuern ebenfalls. Das ganze Gebäude dröhnt vielfach vom Widerhall.

Dem Leben in der Stadt geben die Helikopter eine neue Ordnung. Unter dem Geräusch der Rotorschraube erstarrt der Ort. Niemand wagt sich auf die Straßen. Die Menschen meiden die Obergeschosse, schauen vorsichtig aus den Fenstern. Die Helikopter bleiben für die nächsten sieben Tage über der Stadt.

Im Medienzentrum hoffen die Aktivisten auf neue Waffen. Vor einem Monat seien zwei Truckladungen panzerbrechender Raketen aus Libyen angekommen. Sie seien auf die Brennpunkte der Revolution verteilt worden, auf Homs und Daraa. „Als Nächstes sind wir dran“, sagt Anwar. Er hat kürzlich einen zehntägigen Workshop in der Türkei besucht, mit Libyern, Türken und Vertretern der Golfstaaten, mit denen sie die Übergabe der Raketensysteme diskutierten. Wer genau dort mit ihnen redete, will er nicht sagen. „Sie wollen uns die Raketen nur Stück für Stück geben, damit die nicht in die falschen Hände geraten“, sagt Anwar. Bisher kämen die meisten Waffen, Gewehre vor allem, aus dem sunnitischen Gebieten des Iraks. In wenigen Tagen muss er wieder über die Grenze. Ein reicher syrischer Geschäftsmann hat ihn zu einer Fortbildung mit dem Thema „Militärjournalismus“ eingeladen. „Da sagen die uns, wie man Nachrichtenmeldungen schreibt, was man schreiben sollte und was nicht.“

Ahmed, der Mann mit Downsyndrom, setzt sich auf den Boden und ahmt das Tippen einer Laptop-Tastatur nach. Ein FSA-Kämpfer zielt aus Langeweile mit einer Kalaschnikow auf ihn, Ahmed hat keine Angst, grient die Aktivistenrunde. Doch Ahmed duckt sich weg. Er bedeckt den Kopf mit einer Hand. Sie geben Ahmed die Waffe, er richtet den Lauf auf den einen, auf den anderen, dann bemerken sie, dass das Gewehr entsichert ist. Rasch nimmt Anwar ihn die Waffe ab.

In der Klinik heben der Arzt und seine Helfer sorgenvoll die Köpfe. Sie operieren jetzt unentwegt. Wie taumelnd bewegen sie sich durch die Flure. Die Splitter der Helikopter-Geschosse jagen über die Häuser. Das Feldkrankenhaus in der Nachbarprovinz Idlib ist vor wenigen Tagen durch eine Helikopterattacke zerstört worden. „Der gefährlichste Ort der Stadt“, nennt Anwar das Lazarett. „Die Armee weiß, wo unsere Klinik ist. Sie hätte längst umziehen sollen.“ Viele Leichtverletzte kommen heute zur Erstversorgung, getroffen von oft nur millimetergroßen Metallklingen. Ein Kämpfer verzieht das Gesicht, als der Arzt eine Pinzette durch eine Fünf-Cent-große Wunde in der Wange führt. „Wir haben keinen CT Scan“, sagt der Doktor. „Also muss uns der Schmerz zum Splitter führen.“ Er dreht und wendet die Pinzette im Fleisch, Blut fließt aus der Wunde, über Wange und Kinn, dann hat er es. Ein winziges Körnchen. Er hält es vor die Augen des Verletzten. „Das ist nicht schön für den Patienten“, sagt der Arzt, sich die Handschuhe abstreifend. „Aber wir haben bei der Behandlung kein anderes Hilfsmittel als den Schmerz.“

* Name geändert

 

 

 

 

 
       
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PHOTOGRAPHIE
Nicole Tung, New York
www.nicoletung.com