PHOTOGRAPHIE Daniel Etter
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Die syrische Großstadt Aleppo leidet im August 2012 unter den schwersten Luftangriffen seit dem Vietnamkrieg. Trotzdem gelingt es den Menschen, einen Alltag zu organisieren.

 

Die Hände zittern zu sehr, um die Schnürsenkel zu binden, diese albernen Schnürsenkel, sie flattern beim Laufen herum. Ich renne in die Dunkelheit des Treppenhauses, renne die Stufen hinab. Eine weitere Bombe schlägt in ein Gebäude der Nachbarschaft ein, der dritte Abwurf in fünf Minuten. Nicht über die Schuhbänder stolpern, denke ich, um an irgendetwas zu denken. Der Boden bebt von der Wucht der Explosion. Ich erreiche das Erdgeschoss, drücke mich an die Wand. Hier soll der Beton am massivsten sein.

Das Kindergeschrei, das bis eben von der Straße drang, ist verstummt. Eine Ratte trippelt durch das Treppenhaus. Stille. Fliegen setzen sich auf meine Haut. So viele gibt es jetzt von ihnen. Der Müll zieht sie an. Er bedeckt Plätze und Straßenränder. Die Stadt verfault von innen heraus. »Unsere Stadt Aleppo ist jetzt eine Stadt der Fliegen«, sagen hier viele. Aus dem schmalen Lichtschacht hallt das Triebwerksgeräusch eines Kampfflugzeuges. Hoch oben kreist es wie ein Raubvogel über einem Kaninchenbau. Die Menschen, die in dieser Straße wohnen, die ihnen Zuflucht ist und Falle zugleich, sind in ihre Häuser geflohen. Mohammed, der Taxifahrer von gegenüber, dessen Kinder auf dem Balkon eben noch miteinander gestritten hatten, sein Cousin Ahmed, der Schneider im Untergeschoss, und der Friseur vom Eck, sie starren auf die Betondecken über ihren Köpfen oder schließen die Augen. Sie alle lauschen demselben Geräusch. Dem gleichmäßigen Röhren der Maschine.

Der Tod in Aleppo kommt willkürlich wie ein Gottesurteil. Es gibt keinen Schutz vor ihm. Er trifft die Menschen meist wahllos, plötzlich, an den unterschiedlichsten Orten, fast ohne System. In den vergangenen Monaten ist der syrische Bürgerkrieg immer unerbittlicher geworden, mit beinahe allen Mitteln kämpft das Regime von Baschar al-Assad ums Überleben. Den Aufständischen der Freien Syrischen Armee (FSA) gelang es, die Regierungstruppen aus weiten Teilen des Landes zu verdrängen. Mit Panzerfäusten und Maschinengewehren haben sie den Norden Syriens erobert. Sie haben die meisten Grenzübergänge zur Türkei und zum Irak in Besitz genommen. Lange hofften sie darauf, dass sich auch die Einwohner der zweitgrößten Stadt Syriens erheben – vergeblich.

Aleppo ist der Wirtschaftsmotor des Landes, viel Industrie, viel Handwerk, zweieinhalb Millionen Einwohner, so bedeutend wie Mailand oder Madrid oder Marseille für ihre Länder. Als die Städter nicht zu Revolutionären wurden, beschlossen die FSA-Kommandeure, sie dazu zu machen. Im Handstreich nahmen sie im Juli einen Großteil der Stadt ein. Doch seit vier Wochen haben sich die Kämpfe in den Straßen festgefressen. Assad setzt jetzt eine seiner furchtbarsten Waffen ein, die er bisher zurückgehalten hatte: Kampfflugzeuge. In diesen Tagen erlebt Aleppo die schwersten Luftangriffe, die es auf eine Großstadt seit dem Vietnamkrieg gegeben hat.

Als der Himmel ruhig wird und sich der Kondensstreifen des Bombers im Wind verliert, füllt sich die Straße wieder mit Lärm. Kinder kommen aus den Hauseingängen, einzelne erst, dann viele. Eine Gruppe von ihnen läuft zu ihrer Schule am Ende der Gasse, um zu sehen, ob sie getroffen wurde. Frauen mit Kleinkindern an der Hand machen sich auf den Weg zum nahen Gemüsemarkt. Mohammed, der Taxifahrer, tritt ebenfalls wieder auf die Straße, lacht. Er sagt: »Der Pilot muss auftanken!« Er wohnt seit zehn Jahren im Viertel, er kennt jeden hier und hat uns eingeladen, in die Wohnung eines Freundes zu ziehen. »Wir haben aber keinen Strom«, sagt er wie entschuldigend. Er steigt auf eine Leiter an der Fassade und prüft mit einem Leuchtstift, welche Drähte intakt sind und welche tot.

Die Bomben des Kampfjets haben die Männer der Straße bei ihrem Versuch unterbrochen, die Stromleitungen zu reparieren. Maschinengewehrgarben der Helikopter kappten sie vor drei Tagen. Seitdem hat die Straße keinen Strom mehr. Die Menschen leben im Dunkeln, die Sommerhitze staut sich in ihren engen Wohnungen an. Sie schlafen in ihrem eigenen Schweiß. Die Hitze steigt auf bis zu 40 Grad. Die Menschen versuchen, die Stromkabel zu flicken, um sich nicht ganz ohnmächtig zu fühlen. Sie arbeiten, um nicht fortdauernd an die Toten zu denken, die sie von der Straße räumen.

Der Krieg, von dem sie hier bisher nur gehört hatten, der weit weg zu sein schien, in Homs, in Hama, in den Vororten, ist endgültig zu ihnen gekommen. Zu Beginn traf eine Granate den einzigen Baum in der Gasse, sie schlug ihn in zwei Hälften. Eine andere traf einen Gemüsestand an der Querstraße, tötete zwei Menschen. Ein Versehen, glaubten die Anwohner da noch. Doch dann griff ein Kampfjet die Warteschlange vor der Bäckerei an. Mitten in die Menge warf der Pilot seine Bombe. Hunderte Menschen stehen dort jeden Morgen für Brot an. Es ist die einzige Bäckerei, die ihnen im Viertel geblieben ist. »Ich habe heute stundenlang Mehl gesiebt«, erzählt Mohammed. »Wir brauchen es, und es ist noch voller Splitter.« Der Mehllaster hatte zufällig vor der Bäckerei geparkt und einen Großteil der Sprengwirkung abgefangen. Trotzdem starben fünf Menschen. Mohammed, ein Mann mit starken Schultern, breitet die Arme aus, um zu zeigen, wie er die Kinder trug.

Das erste Kind«, sagt Mohammed, »wurde in die Beine getroffen.« Aus den knopfgroßen Wunden rann dunkles Blut. »Das zweite Kind«, sagt er. Die Gedärme quollen aus seinem Bauch. »Das dritte Kind«, sagt er. Es war an den Händen verletzt, dieses eine überlebte. »Ich konnte nicht auf die Beerdigungen. Ich hatte keine Kraft.« Er steht vor den heruntergelassenen Jalousien eines Ladens. Der Besitzer Ahmed, ein 55-jähriger Schneider, und sein 25-jähriger Sohn sind ebenfalls vor der Bäckerei ums Leben gekommen. Jahrelang hatten sie unter Mohammeds Wohnung ihr Geschäft betrieben.

Ende August werden zehn Bäckereien von der Luftwaffe Assads angegriffen. Bei der schlimmsten Attacke sterben 60 Menschen. Die Warteschlangen werden zu Todeszonen. Systematisch attackieren die Kampfjets auch die Bäckereien des Umlandes. Die Stadt Marea im Norden, die wir auf dem Weg nach Aleppo passierten, hatte Glück: Die erste Fliegerbombe explodierte nicht. Sie war 500 Kilogramm schwer und reichte einem Erwachsenen bis zur Brust. Die Wartenden konnten fliehen, bevor wenige Minuten später eine zweite Bombe fiel – die dann explodierte.

»Assad, oder Syrien wird verbrennen!«, schreiben die Regimetruppen in den Kampfgebieten auf die Häuserwände.

Die Straße, in der wir wohnen, liegt in der westlichen Hälfte der Innenstadt. Die Kampflinie ist knapp einen Kilometer entfernt. Die Straße ist eine von vielen. Sie trägt in dieser Reportage keinen Namen – um sie für Piloten nicht zum Ziel zu machen. Sie ist ungefähr 400 Meter kurz und 15 Meter schmal. An ihrem Anfang steht die Moschee mit dem Gemüsemarkt, an ihrem Ende die Grundschule mit der Bäckerei gegenüber. Sie ist gesäumt von grauen achtstöckigen Wohnhochhäusern, die beidseitig wie Felsen einer Schlucht aufragen. Ihre Fassaden sind überwuchert mit Kabelsträngen der Stromleitungen, lianengleich überziehen sie die Wände. Die Ärmsten Aleppos leben hier, Sunniten die meisten, Arbeiter, die mit ihren Familien aus den Dörfern herzogen, vom Boom der Stadt gelockt, dazwischen viele Handwerker, vor allem Schneider. Die Wohnungen sind klein und eng, der einzige Luxus sind Balkone, die sie mit bunten Plastikplanen verhängen. Tief unten, vom Grund der Straße aus betrachtet, wirkt der Himmel wie ein Spalt, schmal wie ein Reptilienauge.

In fünf Häuserblocks hat Mohammed Stromkabel durchgeprüft, als er den Kopf hart in den Nacken legt, ein Sirren ist plötzlich dort oben. Ein Geräusch, als würde ein Modellflugzeug fliegen. »Ungefährlich«, sagt er. »Eine Überwachungsdrohne.« Unsichtbar schwebt sie über uns, sichtet das Schlachtfeld, späht mögliche Ziele aus. Angeblich liefert der Iran die Technologie, kürzlich haben Rebellen der FSA eine Reparaturwerkstatt für diese Späher erobert. Mohammed scheucht die Kinder davon. Er hat Angst, dass größere Menschenansammlungen die Aufmerksamkeit des elektronischen Auges auf sich ziehen. Dem Flug der Drohne folge häufig weiterer Beschuss. Der Friseur gesellt sich zu ihm, beide recken den Hals nach oben. »Siehst du was?«, fragt Mohammed. Eine Weile noch prüfen sie den Himmel, drehen sich langsam um die eigene Achse, dann fragt der Friseur: »Wie sieht es mit dem Strom aus?« Er möchte endlich wieder arbeiten, und ohne Strom kann er seinen Salon nicht aufmachen.

Eine kleine Kampfgruppe der FSA ist in die Grundschule am Ende der Straße gezogen. Sie ist eine von circa 60 »Brigaden«, die aus dem Umland nach Aleppo kamen. Ein Tischler führt sie an, ein massiger Kerl mit schwarzem Stirnband. Im Büro des Schuldirektors hat er sein Quartier aufgeschlagen. »Wir sind 25 Mann, haben aber nur Waffen für die Hälfte.« Er ist rundum heiter, strahlt die Gewissheit aus, am Ende zu siegen, sei es im Diesseits oder im Tode. Sie kämpfen mit Kalaschnikows, Panzerfäusten, Maschinengewehren und Flinten für die Hasenjagd. Ihr Arsenal lagert auf den Sesseln des Büros. Der Tischler hat sich vom Militärrat der Rebellen einen Frontabschnitt im Süden Aleppos zuweisen lassen. Die Schule ist sein Rückzugsraum. Matratzen liegen in den Klassenzimmern, es gibt Fernseher, damit die Rebellen in Ruhezeiten DVDs sehen können. Am Eingang haben sie mit einem Tisch und einem Stuhl eine Art Rezeption aufgebaut. Die Anwohner können in einem Buch eintragen, wie viel Mehl sie brauchen, wie viel Milch. Das FSA-Grüppchen versucht, Polizeiarbeit zu verrichten, versorgt die Bäckerei auf der anderen Straßenseite mit Diesel, und doch sind die Kämpfer mehr Gefahr als Hilfe. Fast täglich ist die Schule Ziel von Bombardierungen.

Für viele Anwohner ist die FSA nicht Befreier, sondern Besatzungsmacht. »Wir halten uns von denen fern, und die wollen nichts von uns«, sagt ein Grundschullehrer auf der Straße, der früher hier unterrichtete. »Bevor sie in Aleppo waren, war es besser. Wir hatten Arbeit. Uns ging es gut. Und jetzt? Schaut euch um!« Oft gibt es Streit in der kleinen Straße. In Gruppen stehen die Männer zusammen und diskutieren. »Du hast es doch selber gesehen«, herrscht Mohammed, der Taxifahrer, den Lehrer an. »Dein Assad hat auf die Menschen vor der Bäckerei gefeuert! Das war kein militärisches Ziel!« Es ist schwer zu sagen, wie viel Unterstützung das Regime in Aleppo tatsächlich noch hat. Zu viel Angst haben die Menschen, vor Assad und vor der FSA. Das Maschinengewehr eines Kampfhubschraubers donnert über der Nachbarschaft. Zwei, vielleicht drei Straßenzüge von hier entfernt. Der Lehrer grüßt kurz, beeilt sich, nach Hause zu kommen, Mohammed rutscht in den Hauseingang, wo er sicherer vor den Geschosssplittern zu sein hofft.

 

Den Bug nach vorne geneigt, pflügen drei Helikopter durch die Straßenschluchten. Sie treiben die Menschen vor sich her, Passanten suchen Schutz an Hauswänden, unter Türvorsprüngen. Manchmal attackieren sie Stellungen der Rebellen, meistens aber halten sie die Stadt einfach in permanentem Schrecken. Autofahrer, die unterwegs von Hubschraubern überrascht werden, fahren um ihr Leben, biegen von Hauptstraßen in Seitenstraßen ein, fliehen aus ihren Wagen. Die Hauptverkehrsachsen sind gesäumt von ausgebrannten Wracks. An diesem Tag reißt das Feuer der Bordkanonen nicht mehr ab. In den wenigen Pausen arbeitet Mohammed an den Kabeln, kommt aber nicht viel weiter. Wie Brandungslärm schwillt das Helikopterfeuern an und ab, rückt mal nahe und ist dann wieder weit entfernt. Die Schüsse durchdröhnen den ganzen Abend, die Familien essen derweil mit ihren Kindern, ein paar Jungs spielen auf der Straße Fußball. Nur wenn die Helikopter zu dicht herankommen, drücken sie sich an die Mauern, so sehr haben sie sich in den letzten Tagen daran gewöhnt. Kurz nach Mitternacht ist die Stadt plötzlich wieder still. Die Männer entfliehen der Hitze ihrer Häuser. Sie sitzen auf den Bürgersteigen, trinken Tee und reden bis zur Dämmerung. »Wir müssen morgen den Strom wieder hinbekommen«, sagt Mohammed.

Die Stadt, die ihren Bewohnern bis vor wenigen Tagen so vertraut war, mit den verwinkelten Gassen, in denen sie sich fast blind zurechtfanden, ist ihnen jetzt ein zerklüftetes Terrain. Jede Fahrt zwischen den Stadtvierteln bedeutet ein unkalkulierbares Risiko. Die Situation ändert sich manchmal stündlich. Scharfschützen des Assad-Regimes lauern an wechselnden Orten. Die Schabiha-Milizen können jederzeit einfallen, in Zivilfahrzeugen, in T-Shirts und Jeans, und sich mit den Rebellen Schießereien liefern. Fast täglich kommen Passanten im Kreuzfeuer um. Der Radius der Menschen wird immer enger. Die Bewohner der Straßen leben wie in einer Höhlengesellschaft. Selten entfernen sie sich von ihren Wohnungen weiter als ein paar Hundert Meter.

»Die Nacht ist nicht mehr wie die Nacht, und der Tag ist nicht mehr wie der Tag«, sagt Rahman Abdul, 50, im vierten Stock seines Wohnhauses. »Es ist alles durcheinander.« Sie wachen nachts, wenn die Flugzeuge bombardieren, und schlafen in den Tag. Er gehört mit seiner Familie zu den wenigen, die noch in den oberen Hausetagen leben. Die Vorhänge flattern durch die offenen Fenster. Seine zwei Jungs, elf und fünf Jahre alt, spielen auf dem Balkon. Vor dem Krieg hatte er eine gut gehende Werkstatt für Zierleisten, er exportierte bis nach Italien und Saudi-Arabien. Das Doppelstockbett der Kinder haben er und seine Frau aus dem Balkonzimmer in den Flur geschoben, als Sicherheitsmaßnahme. »Wo sollen wir denn hin?«, fragt er. Einige der Nachbarn sind auf die andere Seite der Front geflohen, in die von der Regierung kontrollierten Stadtteile, wo es keine Bombenangriffe gibt. Aber bald, glaubt Rahman, werden die Kämpfe auch dorthin kommen. Zehntausende Familien in Aleppo sind auf der Flucht, ständig auf der Suche nach dem jeweils sichersten Quartier. Wie Treibgut des Krieges schwappen sie von einem Viertel zum anderen, von Verwandten zu Bekannten, und enden oft genug in den Wohnungen, aus denen sie ursprünglich flohen.

Am Morgen ist die Familie aus der Etage unter ihnen ausgezogen. Jetzt sind Rahman und seine Familie die Einzigen auf sieben Stockwerken. Rahman sitzt auf einem Sofa, den Kopf schräg zum Himmel gewandt, und saugt an einer Zigarette, als wolle er alles Nikotin auf einmal daraus ziehen. Die Einbrüche in der Nachbarschaft, klagt er, nähmen zu. Auch deshalb bleibe er. »Sie wissen, wo die leeren Wohnungen sind.« Wenn die Assad-Truppen mit dem Artilleriebeschuss begännen, würden die Diebesbanden in der Stadt aktiv. Sie seien bewaffnet, brächen die Türen auf und räumten alles aus.

Ein Nachbar, der sich schwer atmend die Treppe hinaufgequält hat, klopft an die Tür, lässt sich neben Rahman aufs Sofa fallen, ein Wachmann, der nachts im Auftrag der Ladenbesitzer die Straße kontrolliert. »Ich bin am Ende, ich bin am Ende«, sagt er zu Rahman. Er drückt die Hände aufs Gesicht und reibt sie hart gegen die Wangen. Vor zwei Wochen hat eine Fliegerbombe sein Haus getroffen und bis auf die Grundmauern zerstört. Zwei Männer und zwei Frauen starben, die Leichen haben sie aus dem Schutt gegraben. Er zeigt das Bild der Trümmer auf seinem Handy. Zeigt dann das Foto seiner ältesten Tochter. Sie wurde vor einem Monat entführt. So viele Menschen in der Stadt verschwinden spurlos, besonders junge Mädchen. Die 17-Jährige hatte mit seiner geschiedenen Frau in New Aleppo gewohnt, einem der wohlhabenden Stadtviertel im Westen, bis heute unter Assads Kontrolle. Auf dem Weg zum Einkaufen sei sie von zwei Männern in ein Auto gezwungen worden. »Sie haben mich angerufen und erst eine Million Pfund und dann 500000 verlangt.« Seither wähle er die Telefonnummer der Entführer, wieder und wieder, aber es melde sich niemand mehr. Da heben Rahmans Söhne draußen auf dem Balkon die Arme, tuscheln und zeigen sich etwas am Himmel.

Sie sehen über den Dächern einen Kampfjet. Der Pilot fliegt eine weite Rechtskurve, geht dann plötzlich in den Sturzflug über und rast auf uns zu – als wolle er mitten durch das Wohnzimmer. Ich renne aus dem Raum, befürchte, dass der Jet die Häuserfronten beschießt. Rahman und der Wachmann stürzen von ihrem Sofa, alle flüchten in den Flur, die Kinder kommen hinterher, da ist der Kampfjet schon längst übers Haus geflogen. Mir zittern die Knie, ich ringe um Fassung. Rahman hat geweitete Augen. Die Jungs sind schockstarr. »Es ist nichts, es ist nichts«, versucht der Vater zu beruhigen. Das Dröhnen einer Explosion in unmittelbarer Nähe, das Bersten von Stein, Holz, Metall. »Beim Krankenhaus«, sagt Rahman rasch. »Die zielen immer aufs Krankenhaus.« Am Fenster ziehen schwarze Rauchwolken vorbei. FSA-Kämpfer hasten aufs Dach, um den Jet mit Maschinengewehren zu beschießen, ein verzweifeltes Unterfangen. Es steigt damit die Gefahr, dass der Pilot zurückkehrt. Ich beeile mich, aus den oberen Geschossen zu kommen, und laufe die Treppe hinab. »Ich wünschte«, sagt der Wachmann zum Abschied, »in mir wäre eine gewaltige Bombe und sie würde jetzt hochgehen. Dann wäre sofort Schluss mit allem.«

Am nächsten Morgen will Rahman mit seinem Ältesten wieder zur Bäckerei und für Brot anstehen.

Unten auf der Straße ringen sie immer noch um Strom. Mohammed ist sich inzwischen sicher, dass es nicht nur an den Kabeln liegen kann. Die Nachbarn stellen im Laufe des Tages eine kleine Delegation zusammen und schicken sie zum zentralen Kraftwerk, das noch von Assads Truppen kontrolliert wird. Sie passieren die Kampflinien, bangen an den Kontrollstellen. Die Soldaten lassen sie durch, doch empört kehren die Straßenbewohner am Nachmittag zurück. »Wir haben euch den Strom abgeschaltet«, hätten ihnen die Ingenieure dort gesagt. »Wenn ihr die Rebellen loswerdet, schalten wir ihn wieder an.« – »Wir haben doch keine Waffen!«, hätten sie den Technikern geantwortet. Die Männer entwickeln jetzt einen neuen Plan. Sie wollen aus einem Nachbarquartier, in dem die Versorgung noch funktioniert, den Strom umleiten und die Verteilerkästen manipulieren.

»Wie soll ich bloß wieder zur Schule gehen können?«, fragt ein 14-jähriger Junge, der ruhelos auf einem Mountainbike auf und ab fährt. Stets alleine, stumm über seinen Lenker gebeugt, hält er Abstand zu anderen Jugendlichen. Er holt aus der Hosentasche mehrere Schrapnelle, die er eben auf dem Schulhof aufgesammelt hat. »Noch ein Tag«, sagt er, den Tränen nah, »und die Schule ist völlig kaputt.«

Die Gesellschaft in der kleinen Straße hat sich in zwei Welten geteilt. Selten begegnen sie einander. Die eine lebt im Tageslicht, ihre Stimmen erfüllen die Luft. Die andere ist tief in der Erde versteckt. Einem Torwächter gleich sitzt ein 45-jähriger Familienvater stundenlang vor dem Kellerabgang des Nachbarhauses. Nervös beobachtet er das Leben in der Gasse, mustert die Passanten. Hinter ihm führen 43 Betonstufen hinab in fast völlige Dunkelheit, wo an den Wänden Kerzen flackern und zwei Kinder spielen. »Muneer und Abdel«, sagt der Familienvater. Mit ihrer Mutter und einer Tante leben sie hier seit einem Monat. Bisher gingen sie täglich ein paar Stunden auf der Straße spazieren. Doch seit vier Tagen haben die Frauen und Kinder das Sonnenlicht nicht mehr gesehen. »Der Beschuss ist so stark wie noch nie«, sagt ihr Vater. »Es ist da oben zu gefährlich«, sagt der sechs Jahre alte Abdel. Die Gesichter der beiden Jungs sind kalkweiß. Ihr Haar ist zerzaust. Sie schauen auf die Besucher, die Arme an den Körper gedrückt, ganz fest, ganz reglos, mit aufgerissenen Augen, bis wir wieder gehen.

Das Haus der Familie liegt gegenüber der Bäckerei. Als eine Druckwelle die Fenster bersten ließ, beschlossen sie, in den Untergrund zu ziehen. »Ich habe in diesem Keller früher eine Schneiderei betrieben«, sagt der Mann, ein Fabrikbesitzer. 15 Angestellte hatte er vor dem Krieg. »Wir kommen zurecht«, sagt er. »Die Frauen putzen und kochen, die Kinder spielen.« Die Situation ist ihm unangenehm. »Lass die Kinder doch etwas an die Luft«, raten die Nachbarn. An den Wänden hängt ein Dutzend Vogelkäfige, in denen Kanarienvögel mit kleinen Spiegeln spielen. Sie haben sie vom Balkon der Wohnung hierhergetragen, damit die Vögel nicht von den Druckwellen getötet werden. Der Mann hält eine Kerze in der Hand, nervös kratzt er mit dem Fingernagel über den Wachs. »Wir waren die ganze Nacht wach«, sagt er. »Dieser wahnsinnige Beschuss.« Vom Markt hat er zwei Tüten neue Kerzen geholt, es wird immer schwieriger, sie aufzutreiben, eine Stunde hat er dafür gebraucht. Der Fernseher steht blind in der Finsternis. »Bis vor ein paar Tagen hatten wir wenigstens Licht«, sagt er. Wenn eine schwere Bombe das Haus trifft und alles über ihnen zusammenstürzt, glaubt der Familienvater, »werden uns die Nachbarn ausgraben. Die wissen ja, dass wir hier unten sind.«

Die Front verläuft in den Nachbarvierteln, irgendwo in diesem Häusermeer da draußen. Wie ein Halbmond legt sich die von den Rebellen kontrollierte Zone um die Altstadt mit der antiken Zitadelle. Die Kämpfer der FSA haben die sunnitischen Quartiere weitgehend erobert. Im Norden Aleppos verhalten sich die kurdischen Gegenden noch neutral. Ihre Volksverteidigungseinheit greift Regierungstruppen wie Rebellen an, wenn sie in die Viertel eindringen. Am Saum der christlichen Gebiete wird gekämpft. Die Bewohner dort haben ihrerseits Milizen gebildet, um sich gegen Übergriffe der FSA zu schützen. Sie fürchten Massaker. In der Vergangenheit waren die Christen treue Verbündete des Regimes. Die Truppen Assads haben sich vor allem im wohlhabenderen Westen der Stadt aufgestellt, in den Militärakademien, dem großen Sportstadion, das zum Panzerdepot geworden sein soll. Mit einer Großoffensive und 30000 Mann versuchen die Generäle seit Wochen, das verlorene Gelände zurückzuerobern. Trotz der überlegenen Feuerkraft kommen sie kaum voran, zwei, drei Straßenzüge haben sie seither der FSA abgenommen. Und auch die FSA schafft es bisher nicht, die Armee ganz aus der Stadt herauszudrängen. Ihre eigene Stärke gibt sie mit bis zu 9000 Kämpfern an. Scharfschützen nehmen sich gegenseitig ins Visier. Es gibt Momente, da belagert die FSA verschanzte Soldaten des Regimes und sieht sich kurz darauf selbst von ihnen belagert.

Im Keller einer Villa koordiniert der Anführer des Rebellen-Militärrates die Operationen der FSA. Er trägt zwei goldene Sterne und einen Adler auf seinen Schulterklappen. Es hat selten einen nervöseren Heeresführer gegeben als Brigadegeneral Abdel Dschabbar al-Kaidi, und wohl auch selten einen mutigeren. Er ist vor einigen Monaten von der Regierungsarmee übergelaufen. Seither ist er mit seinem kleinen Stab von Kämpfern fortwährend auf der Flucht, von Haus zu Haus. Am Vorabend hat ein Kampfflieger mit der Bordkanone seinen Wagen attackiert, der Fahrer wurde schwer verletzt, der General selber konnte sich zwischen Büschen am Straßenrand verstecken.

»Wir arbeiten auf zwei strategischen Achsen«, sagt er, über die Karte von Aleppo gebeugt: Seine Männer versuchten, das bisher Eroberte zu halten und weiter anzugreifen. Er tippt mit dem Kugelschreiber auf die Stadtteile, die die FSA kontrolliert. Immer wieder, sagt er, gehe seinen Kämpfern die Munition aus. »Keiner will uns so richtig helfen. Das Ausland redet nur. Fast alle unsere Waffen stammen aus Beutebeständen.« 15 Stinger-Flugabwehrraketen hätten sie neulich auf dem Schwarzmarkt gekauft, einst von der Mafia aus US-Arsenalen im Irak gestohlen. Doch fehlten ihnen die Codes, um die Elektronik der Raketen zu aktivieren. Ein Team der CIA habe sich nach Aleppo schmuggeln lassen, auch andere Geheimdienste seien hier. »Aber sie fragen nur«, sagt einer der Kommandeure ungehalten, »sie wollen nur Namen und Waffenlisten. Sie fragen und fragen, aber geben nichts.«

Das Gerücht sickert am Abend von verschiedenen Seiten ein, Mohammed hat auch davon erfahren: Ein Kommando von Assads Scharfschützen sei in das Viertel unterwegs. »Ich habe es von ein paar Leuten gehört«, sagt Mohammed verstört. Mehrere Familien verlassen die Straße, sie packen das Notwendigste. Einem Traubenhändler ist nicht weit von hier in den Hals geschossen worden. Unser Nachbarhaus zur Linken wird in der Nacht von einem Schuss getroffen. Zufällig oder gezielt, niemand vermag das zu sagen. Trotzdem stellen sich bereits um drei Uhr morgens die Menschen abermals vor der Bäckerei an. Als es dämmert und die Kampfhubschrauber wieder über dem Viertel feuern, sind es bereits mehrere Hundert.

Ich überlege, zur Bäckerei zu gehen, wo Frauen und Kinder auf Brot warten. Ich wage es nicht. Es sind nur 200 Meter.

   

Die Stadt ist zur Selbstzerstörung verdammt. Die Welt hat sie aufgegeben. Während die Menschen in Aleppo sterben, wird international über eine Flugverbotszone diskutiert. Russland und China votieren dagegen, und im Westen findet sich keine Mehrheit dafür. Auch das deutsche Außenministerium ist dagegen. Stattdessen wolle man den Flüchtlingen in der Türkei und Jordanien helfen. Die USA wollen erst dann eingreifen, wenn das Assad-Regime Chemiewaffen einsetzt. Nur Frankreich prescht vor, doch wird das allein nicht reichen. In den Straßen der Metropole herrscht eine Pattsituation. Weder die Regierungstruppen noch die Rebellen werden in den nächsten Wochen eine Entscheidung herbeizwingen können. Die Stadt, sagen die meisten ihrer Bewohner, ist verloren. Das Feuer der Zerstörung werde brennen, bis die Flammen an sich selbst erstickten.

Der Aufzug des Krankenhauses funktioniert noch, sonst nicht mehr viel. Dieses Gebäude wird so heftig beschossen wie kaum ein anderes in der Stadt. Achtstöckig ist es zwischen die Häuser des Viertels gebaut. »In den letzten 20 Tagen wurden wir zehn Mal getroffen«, sagt ein junger Arzt im blutbefleckten Kittel. Er nennt aus Angst seinen Namen nicht, ist übernächtigt, wirkt wie in Trance. Er sieht auf die Dinge, und doch sieht er sie nicht. Im sechsten Stock hat die Rakete eines Kampfjets die Außenwand der Intensivstation aufgerissen, der Straßenlärm füllt den Raum. Im fünften Stock ist die Frauenstation zerstört, im vierten die Säuglingsabteilung, gläserne Inkubatoren stehen vor offenen Wänden, im dritten das Bettenlager. »Wir lassen die Patienten bei uns nicht übernachten, das wäre viel zu gefährlich«, sagt der Arzt. Die Zuflucht der sechs Ärzte und 20 Krankenpfleger ist der Keller, ein halbwegs sicherer Ort, sagen sie, zumindest bei einer Bombenlast von bis zu 300 Kilogramm. Beim Abwurf größerer Bomben bräche auch der Keller zusammen.

Der Fußboden der Notambulanz ist mit einem Muster an Fliegenkadavern bedeckt. Das getrocknete Blut zieht sie an. Im Takt der Bombenabwürfe kommen die Verletzten, 70 bis 80 jeden Tag. »80 Prozent sind Zivilisten«, berichtet der Arzt, der bisher einen relativ ruhigen Vormittag hatte, nur drei Opfer von Scharfschützen, zwei konnte er retten, einer starb. »Wir brauchen keine Medikamente«, sagt er. »Wir haben davon genug. Wir brauchen viel mehr Personal.« Die meisten der niedergelassenen Ärzte im Viertel seien geflohen.

In Mohammeds Straße beginnt sich die Stimmung gegen die Kämpfer in der Schule zu drehen. »Nicht nur wir stehen unter ihrem Schutz«, ruft der Friseur wütend, »sondern die stehen auch unter unserem Schutz!« Nachbarn, die morgens an der Bäckerei anstanden, haben beobachtet, wie die Rebellen eine Gruppe von Gefangenen in die Schule zwangen. »Das sind Männer der Al-Berri«, sagt der Friseur. Der Familienclan der Al-Berri gilt als eine der berüchtigsten Mafiabanden in der Stadt, eine Stütze des Regimes. Zum Schein, heißt es, betrieben sie ein Fuhrunternehmen, tatsächlich aber lebten sie von Erpressung, Drogen und Auftragsmorden für die Regierung. Acht ihrer Oberhäupter wurden neulich von der FSA in der Schule des Nachbarviertels exekutiert. »Die Al-Berri werden hierherkommen, um die Gefangenen zu befreien«, klagt auch Mohammed. »Nicht alle Al-Berri sind böse Leute«, sagt der Friseur. »Aber wenn du bei den Rebellen den falschen Namen hast, bist du ja schon verloren!« Drei weitere Familien räumen heute ihre Wohnung, beladen Lieferwagen, stapeln Habseligkeiten, setzen die Kinder darauf und fahren davon.

Der Kommandeur in der Schule ist sehr entspannt. Er gibt vor, von der Aufregung im Viertel nichts zu wissen. Die Gefangenen seien gut versorgt und würden gemäß der Genfer Konvention behandelt. Sie hätten zwei Lastwagen auf einer umkämpften Straße gefahren. »Dort sind nur Kämpfer unterwegs oder Idioten.« Man werde sie verhören und dann entscheiden. Die acht Männer kauern in einem Klassenzimmer auf dem Boden, nervös, aber noch unverletzt. Einheiten der FSA geraten immer stärker in die Kritik, weil sie prügeln und foltern. »Wir machen Fehler«, beschwichtigt der Kommandeur in seinem Büro, »aber wir korrigieren sie auch.« Da reißt ein Kämpfer die Tür zu seinem Büro auf. »Sie versuchen durchzubrechen!« Assads Truppen bedrängen die Front am Flughafen mit Panzern und Helikoptern, sie brauchen Verstärkung, sagt er und nimmt die letzte Panzerfaust, die auf dem Sessel liegt.

Ein weiterer Versuch der Straßenbewohner, die Stromversorgung zu reparieren, scheitert am Abend jämmerlich. Als Mohammeds Cousin an einem Verteilerkasten herumschraubt, kommt es zu einem Kettenkurzschluss. Fünf andere Verteilerkästen brennen durch. Die Rebellen in der Schule sind aufgebracht. Auch sie haben jetzt kein Licht. »Warum überlasst ihr das nicht uns?«, schreien sie die Bewohner der Straße an. Beide Seiten beschimpfen sich, Mohammeds Cousin zieht ein Messer, die Rebellen schießen in die Luft, einer schlägt ihn mit dem Gewehrkolben zu Boden. Für eine halbe Stunde ist die kleine Straße gefüllt vom Getöse der Streitenden – bis ihr Schreien im einsetzenden Kanonendonner der Helikopter untergeht.

In dieser Nacht wird ein Wohnhaus getroffen, drei Frauen und ein Kind sterben.

Ob Assad bald wieder Boden gutmacht, fragt sich Mohammed, der Taxifahrer, wenn er vor seinem Haus auf dem Trottoir sitzt. Was dann passieren wird. Ob er alle umbringen wird, die mit der FSA kooperierten? Es gibt noch so viele Spitzel in dieser Straße, einfache Nachbarn, die ihn später denunzieren könnten, um sich einen Vorteil zu verschaffen. Es sind nicht nur die Bomben, die ihn nachts nicht schlafen lassen.

Das Wunder geschieht am frühen Abend des nächsten Tages, zwischen zwei Helikopterangriffen. Die Nachbarn haben Geld zusammengelegt, um einen Techniker des Kraftwerkes zu bestechen. Das Licht springt an, erst nur in einem einzigen Laden, es flackert, geht aus, springt ein zweites Mal an. Und diesmal leuchtet die ganze Straße. Kinder und Männer laufen hinaus, die Frauen schauen von den Balkonen, sie umarmen sich, juchzen, hüpfen und klatschen in die Hände.

Die Straße hallt von ihrem Lachen.

 

 

 

 

 

 

 
 
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Daniel Etter, Istanbul
www.danieletter.com