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PHOTOGRAPHIE Alessandro Gandolfi

Im Irrgarten der Freiheit

Libyenkrieg, 5. Woche

 

Die Luft stößt aus dem Rachen von Abdul Essa El-Mohoshhash, sie entweicht ihm mit einem Zischen. Ein Arzt drückt die überkreuzten Handballen auf den Brustkorb des 20-Jährigen, Stoß für Stoß, im Sekundentakt, immer wieder, seit einigen Minuten, bis er nicht mehr kann. Bis er mit Schweiß auf der Stirn aufgibt, selber außer Atem, und ein anderer Arzt auf die Brust von Abdul zu schlagen beginnt. Das Zischen aus Abduls Lungen mischt sich in das Klingeln und Surren der Überwachungsinstrumente auf der Intensivstation des Zentralkrankenhauses in Bengasi. In den Betten liegen die Verwundeten aus den Kämpfen der letzten Tage. Es ragen Schläuche und Kanülen aus ihnen, die meisten sind bewusstlos, bei manchen zucken ganz leicht die Fingerspitzen.

Die Stationsärztin Ghada Eloud, 38, verharrt unentschlossen in der Mitte des Krankensaales, sie stemmt die Arme in die Hüften."Ich weiß nicht weiter", sagt sie. Ihre Assistenzärzte an Bett 8 ringen um das Leben von Abdul, dessen Haut verbrannte, als eine Panzergranate neben ihm explodierte. Doch Dr. Eloud blickt ratlos auf einen anderen Schwerverletzten, den 18-Jährigen im Bett 3. Ein Autoelektriker, der heute Morgen auf der Straße vor dem Haus seiner Eltern gefunden wurde, dreifach angeschossen."Er verliert innerlich Blut, und ich weiß nicht, wo." Die Kreislaufwerte würden beständig schlechter, viel Zeit, sagt Dr. Eloud bleibe nicht. Der Bruder des Angeschossenen steht am Bettrand, streckt die Hand zu ihm aus, will ihn berühren, traut sich aber nicht. An Dr. Eloud vorbei hastet er aus dem Saal.

Die Stadt, die wenige Tage zuvor von den Truppen Gaddafis fast zurückerobert worden wäre, kommt noch nicht zu Ruhe. In ihren Gassen machen regimetreue Scharfschützen Jagd auf Revolutionäre und Journalisten. Umgekehrt jagen die Revolutionäre Gaddafi-Getreue. Ich bleibe nach Einbruch der Dunkelheit im Hotel, und ziehe nachts die Gardinen nicht mehr auf, um kein leichtes Ziel zu bieten. Schüsse umbranden die Herberge. Es gibt Räuber auf Beutesuche und Nachbarn, die sich aufs Blut nicht mögen. Die Gewalt ist in Bengasi wie ein Echo auf die Gefechte vor den Toren der Stadt. Erst ganz allmählich klingt sie in den nächsten Tagen ab.

"Ich kenne dich," zeigt ein Angeschossener in der Notaufnahme des Krankenhauses auf mich. Es ist ein Kunststudent, der mir vor Tagen eine Spottzeichnung auf Gaddafi geschenkt hatte. Jetzt tropft sein Blut auf den Marmorboden der Ambulanz, Schulterdurchschuss, zwei Metallstücke sind im Knochen verblieben. Der Student wollte als Aushilfssanitäter in einem Krankenwagen an die Front, der Schuss traf ihn in Bengasis Stadtkern am helllichten Tag. Einen Pilot der Emirates Airlines, den ich in den ersten Tagen der Revolution getroffen hatte, enthusiastisch, strahlend, sehe ich hier ausgezerrt, hohlwangig, den Arm in einer Schlinge. Drei Tage sei er in den Trümmern eines Hauses begraben gewesen, mit der Leiche eines Freundes neben sich, nachdem regimetreue Truppen ihr Luftabwehrgeschütz getroffen hatten."Ich werde weiter kämpfen," sagt der Pilot."Ich bin Gaddafis Alptraum!" Er weicht meinem Blick aus, seine Augen flackern.

Dr. Eloud, die kaum über Pflegekräfte verfügt, weil die meisten entweder das Land verließen oder aus Angst zu Hause bleiben, entscheidet sich, den Patienten im Bett Nr. 3 zu operieren. Er wird überleben, bleibt allerdings querschnittsgelähmt. An Bett 8 klopfen die Ärzte eine halbe Stunde lang im ständigen Wechsel auf die Brust von El-Mohoshhash, der Bettrost quietscht unter ihren Stößen. Doch dann hört um 15.43 Uhr sein Herz ganz auf, zu schlagen. Er stirbt, wie es hier in den letzten Tagen viele andere vor ihm taten. Sie bedecken ihn mit einem Tuch und kleben dort, wo sich der Nasenrücken abzeichnet, einen Papierzettel mit der Sterbenummer drauf. Es ist die 256.

Die Front hat sich durch die alliierten Luftschläge abermals weit in den Westen vorgeschoben. Die Straßen Bengasis füllen sich wieder mit Verkehr, mehr und mehr Läden öffnen, die Menschen ersehnen sich ungeduldig den Alltag zurück, nach einer Art Ordnung im Chaos, doch die bleibt aus. Die Revolution tut sich schwer, Regierungsstrukturen auszubilden, wo es 41 Jahre lang keine gab. Denn das System Gaddafi kannte nur Gaddafi. Die Angst vor Anschlägen lässt eine Untergrund-Verwaltung wachsen, eine, die nach nur vier Wochen so verschlungen und hermetisch ist, dass es niemanden gibt, der sie in allen Details übersieht. Der "vorläufige Übergangsrat," tagt im Geheimen, er besteht aus 31 Mitgliedern, benannt von der entsprechenden Zahl an Distrikten in Libyen. Es sind jedoch nur die Hälfte der Namen bekannt, die meisten Mitglieder sind Anwälte. Der Rat fungiert als eine Art Kriegsparlament, das alle Beschlüsse im Konsens fällt. Es gibt Nebenkammern und offizielle wie halboffizielle Beratergremien. Dem Rat übergestellt sind drei Komitees, das politische, das militärische und das außenpolitische. Doch schon bei der Frage, ob der Übergangsrat Entscheidungen trifft oder nur Empfehlungen ausspricht, beginnen die Unklarheiten. "Die dürfen nicht lange so weitermachen," warnen viele in Bengasi, "sonst erhebt sich die Jugend ein zweites Mal."

Die Führung des Rats meidet das unsichere Bengasi. Ahmed Gebreel, 37, der Stabschef des Ratsvorsitzenden, sitzt im "weißen Haus" der Revolution, wie sie das Bürogebäude der "National Commerce Bank" in Al Baidaa nennen. Die weite Parkplatzfläche vor der Bank ist leer, die Tür unbewacht, kein Schild weist auf das Team des vorläufigen Staatsoberhaupts hin. Gebreel war vor dem Umsturz einer der Spitzendiplomaten Gaddafis, Sprecher der libyschen Delegation beim UN-Sicherheitsrat in New York. Ich habe ihn zum letzten Mal vor anderthalb Wochen getroffen, da erschien er in feinem Anzug und italienischen Herrenschuhen."Ich habe wieder nur vier Stunden geschlafen," entschuldigt er die Zehn-Tage-Bartstoppeln und den Trainingsanzug, der sich über einen Bauchansatz wölbt. Der Stabschef des neuen Libyens sitzt gebeugt hinter dem Schreibtisch, auf dem Kopf eine schweißnasse Baseballkappe, an den nackten Füssen grüne Plastiksandalen. "Es ist doch gut, wenn die Leute den Übergangsrat kritisieren", sagt er müde. "Das ist Demokratie."

Das Bankgebäude als Hauptquartier sei praktisch, sagt Gebreel, der ein waches Lächeln versucht, es sei technisch gut ausgestattet, liege mitten in der Stadt, vor allem habe es genügend Sicherheitsabstand zum unruhigen Bengasi. In Al Baidaa, in der Libyens Revolution begann, schießen keine Heckenschützen. "Der Übergangsrat muss sich wieder stärker der Straße zuwenden," sagt er. "Die Räte müssen lernen, mehr zu kommunizieren. Aber das sind alles Personen, die bisher nie mit den Medien zu tun hatten." Er hat mich nach Al Baidaa eingeladen, weil er um die Gunst der deutschen Regierung werben will. Während Frankreich den Übergangsrat bereits als legitime Vertretung Libyens anerkannt habe, Diplomaten vieler Länder Kontakte suchten, hat er noch nichts aus Berlin gehört. Es habe bislang nur ein einziges Gespräch zwischen dem übergelaufenen libyschen Botschafter in New York und dem deutschen UN-Botschafter gegeben. "Es ist noch nicht zu spät für die Deutschen, den Fehler wettzumachen, den sie gemacht haben." Zum Abschied lässt er mir Pizzas als Wegzehrung in den Wagen legen, das sei so Brauch.

Die Stadt wandelt sich im Laufe der Woche erneut, alle paar Tage durchläuft Bengasi eine Metamorphose. Die Zahl der Opfer von Verkehrsunfällen übersteigt im Zentralkrankenhaus schon bald wieder die der verletzten Kämpfer. Die Hotels, die bisher nur mit Krisenjournalisten bevölkert waren, füllen sich mit Geschäftemachern aus dem Ausland, den Delegationen libyscher Oppositionspolitikern, die aus den USA, den Emiraten und Großbritannien anreisen. Schlips und Anzug beginnen allmählich die Splitterschutzweste zu verdrängen. Der Übergangsrat lässt sich mittlerweile von einer britischen PR-Firma beraten, die zuvor in Kabul die afghanische Regierung betreute. "Das war einfacher," sagt der Firmenchef, der noch ungenannt bleiben will."Die Nordallianz hatte jahrelange Kontakte zu freien Medien. Die in Libyen haben noch gar nicht mit so etwas zu tun gehabt."

Der Übergangsrat ist aus dem kargen Gerichtsgebäude in das elegante frühere ägyptische Konsulat umgezogen, hier hängt ein Kronleuchter in der Lobby und liegt Teppich in den Konferenzräumen."Ich habe heute meinen ersten Arbeitstag," erklärt der ehemalige libysche Botschafter in Indonesien. Er soll im Nachbargebäude ein neues Außenministerium aufbauen. Der Cousin des ersten und bisher einzigen libyschen Königs, der 1969 von Gaddafi gestürzt wurde, geht hier ein und aus. Ahmed Zubiar el-Sanussi, 77, der mit 31 Jahren vier Jahre länger im Gefängnis saß als Nelson Mandela, ist im Übergangsrat für die Gefängnisse der Revolution verantwortlich. Ein charismatischer, sanfter und ausgleichender Mann. Nicht wenige in Bengasi sähen ihn gerne als Oberhaupt einer künftigen parlamentarischen Monarchie.

   

Es wird Frühling in Bengasi, die Familien fahren zu Hunderten in Richtung Front, bis auf wenige Kilometer an den Tod heran, um auf blühenden Wiesen Kakteenfrüchte zu pflücken. Dunkle Rauchsäulen brennender Fahrzeuge steigen zum Himmel. Ihre Kinder beklettern begeistert die Metalltrümmer von Gaddafis 32. Panzerbrigade, die die Autobahn nach Adschdabiya säumen. Wie monströse Relikte aus einer längst vergangenen Zeit wirken die erst vor wenigen Tagen bombardierten Fahrzeuge. Die Reifen der Ausflügler rippeln über die Stellen im Asphalt, wo der Straßenbelag mit glühendem Metall zusammenfloss. Doch nach nur wenigen Kilometern geht die Familienidylle in den Wahnsinn über, am vorletzten Checkpoint zu Gaddafis verbleibenden Truppen, die zu diesem Zeitpunkt immer noch den Ortseingang von Adschdabiya halten. Ein Rebell hat sich mit einem Mikrofon auf der Straßenmitte aufgebaut und schreit: "Kauft keine chinesische Waren!" Er hat eine Stereoanlage neben sich stehen, es schlagen Granaten in der Nähe ein, die Rebellen beginnen wegzurennen, doch er weicht nicht und dreht die Stereoanlage nur noch lauter auf.

"Der Junge ist durch den Wind", sagt da einer zu mir, in bestem Deutsch, Naser Hagagi, 38, ein Sozialarbeiter aus Bielefeld. Er reiste vor drei Tagen aus Deutschland an, um sich dem Kampf um seine Heimatstadt Bengasi anzuschließen. "Ich bin hundemüde," sagt Hagagi, "ich muss mich duschen. Ich brauch meine Zahnpasta. Könnt ihr mich in die Stadt zurückfahren?" Er trägt Tarnjacke und schwarze Zimmermannshose, hat die erste Nacht an der Front hinter sich. Eine Gruppe Kämpfer mit einem Flugabwehrgeschütz hatte ihn spontan mitgenommen. "Gestern war es ganz schön knapp für mich," erzählt der Sozialarbeiter. Gaddafis Raketenwerfer hätten seine Gruppe beschossen, wenige hundert Meter von ihm entfernt habe es Einschläge gegeben."So rotes Feuer war da auf einmal, das ist ja alles neu für mich." Die Nacht habe er auf Wüstenboden verbracht, er reibt sich ständig den schmerzenden Handballen, irgendwie hat er sich einen Kaktusdorn in die Haut getrieben.

Die 570 Euro für den Flug nach Kairo lieh er sich von deutschen Freundinnen, er hat sich dann kurzfristig aus seiner Schicht im Wohnheim abgemeldet, "Bielefelder Modell. Jung und Alt, du weißt schon". Wie lange er bleibt, weiß er noch nicht, er müsse ja zu Hause seine Miete zahlen. Die Gruppe, der er sich anschloss, will am selben Abend wieder in die Kampf, doch Hagagi zögert. Er muss sich ausschlafen. Das Kopfweh. Sein Vater. Der bombardiere ihn mit Anrufen, er habe doch keine Erfahrung in der Handhabung von Flugabwehrgeschützen. Andererseits will er dabei sein, wenn etwas Großes passiert. Die meisten Freiwilligen der Rebellen, die an die Front eilen, bleiben nur einen einzigen Tag. Niemand kann es ihnen verdenken.

Die alliierten Luftstreitkräfte ermöglichen den Rebellen in den nächsten Tagen einen rasanten Vormarsch, der Tod, den sie bringen, ist bisher von höchster Präzision. Oft sind die Panzer, die ich auf den Schlachtfeldern sehe, genau in der Fahrzeugmitte getroffen. Bald heißt es schon, Sirte, die Geburtsstadt Gaddafis, sei eingenommen. Der Ort, den er einst zur Hauptstadt seiner geträumten "Vereinigten Staaten von Afrika" erheben wollte. Doch zehn Kilometer davor blockieren wieder Raketenwerfer den Weg. Landminen machen die Ebene unpassierbar. Zudem wird den Rebellen, die an einen Tag nahezu 400 Kilometer Küste eroberten, die Logistik zum Problem. Es gibt kein Benzin, die regimetreuen Truppen haben auf ihrem Rückzug die Pumpen aller Tankstellen zerstört.

In Bengasi entstehen unterdessen immer neue Komitees. "Ich schreibe die nächste Rede des Ratspräsidenten", verkündet mein Zimmernachbar im Hotel, ein ehemaliger Marxist und führendes Mitglied der gerade gegründeten "Körperschaft für die Unterstützung und Beratung des Übergangsrates."

"Ich hab keine Ahnung," sagt die Sprecherin des Übergangsrates auf das neue Beratergremium angesprochen. "Das kenn ich noch nicht. Manchmal ist das auch für mich alles viel zu viel." Sie lacht, macht auf dem Absatz kehrt und winkt mir fröhlich zu.

Am nächsten Tag werden die Rebellen wieder 400 Kilometer zurückgedrängt.

 

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Alessandro Gandolfi, Parma
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