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PHOTOGRAPHIE Alessandro Gandolfi

Mit dem Taxi in den Tod

Libyenkrieg, 2. Woche

 

Er reißt am Straßenrand das Gewehr hoch, mit dem er drei Tage und drei Nächte in der libyschen Wüste kämpfte, er brüllt und lacht, feuert aus Freude über das eben gewonnene Gefecht, hält den Lauf dabei viel zu niedrig und schießt nur knapp über die Köpfe der anderen. Sie ducken sich unter den Kugeln. Zwei Männer greifen nach seiner Waffe, doch er wehrt sich, ein Bärtiger in Jeans, er feuert weiter, streut Salven in willkürliche Richtungen. Immer mehr Umstehende stürzen sich auf den Besinnungslosen. Schreiend ringen sie mit ihm, ein Knäuel aus Menschen mit einer Kalaschnikow in der Mitte, bis sie schließlich die Waffe aus seinen Händen zwingen können. Dann prügeln sie ihn, mit Füßen und Gewehrkolben, eine Staubwolke hüllt sie ein. Am Vorabend haben die Befreiungskämpfer den Ölhafen Ras Lanuf zurückerobert. Ich bin ihnen gefolgt, bleibe aber mit meinem Fahrer nur kurz. Der Sieg ist hier so tödlich wie die Niederlage.

Der Krieg der Revolutionäre ist in diesen ersten Tagen ein wildes Vorwärtsschieben, ein an die Front Drängeln, ohne Plan, mit wenigen ausgebildeten Offizieren, die nur mäßig eine Schlachtordnung herstellen können. Dieser Krieg wird ohne Kompanien und Brigaden geführt. Die Armee, der sich der Diktator Muammar Gadhafis gegenübersieht, ist ein loses Konglomerat aus Gruppen und Grüppchen, sie binden sich rasch und zerfallen genauso wieder. Tausende junger Männer säumen im Osten Libyens die Nationalstraße in Richtung Tripolis und suchen eine Mitfahrgelegenheit an die Front. Sie trampen zum Töten, unbewaffnet meist, ein Handy in der Tasche, ein bisschen Geld, sonst nichts.

"Weißt du, wie das geht?", fragt mich am Anfang der Kämpfe Isam Alhamali, 23, der sich über die vielen großen Metallteile beugt, die zusammengesetzt ein doppelläufiges russisches Flugabwehrgeschütz ergeben. Am Ortsausgang seines Heimatortes Brega hat er mit vier Freunden Stellung bezogen, 800 Kilometer von Tripolis entfernt, das Grenzdorf der Revolution. In der Wüste dahinter beginnt irgendwo Gadhafi-Land. Isam kniet über dem Verschluss der Waffe, eine halbe Stunde hat er daran herumgehämmert und ist ratlos. Der rechte Geschützlauf funktioniert nicht, und er weiß nicht warum. Ein Onkel hat ihn gestern die Flugabwehrkanone vorbei gebracht, damit sie bei künftigen Angriffen besser gerüstet seien, gab ihnen dazu eine kurze Einführung, wie man so etwas bedient. "Der Lärm beim Schießen ist Scheiße," sagt Isam. "Da kriegst du richtig Kopfschmerzen davon."

Die Jungs sind bei den Pfadfindern, Studenten und Bauarbeiter, und Isam ist ihr Leiter. Sie haben das Geschütz an der Küste aufgebaut, auf der Klippe, von der sie sich im Sommer zehn Meter tief ins türkisblaue Mittelmeer stürzen. Der Ort, an dem sie ihre Mutproben wagen. Die Rohre haben sie so ausgerichtet, dass sie auf den Badestrand zeigen, das halbe Dorf zeltet dort in den Ferien. Nichts scheint hier abwegiger als Krieg. "Wenn Gadhafi weg ist," ist sich Isam sicher, "kommen die Touristen." Richtung Meer haben sie eine Sperrholzplatte schräg gestellt, darunter eine Matratze gelegt und sechs Kisten Munition. Es soll morgen mit dem Gegenangriff losgehen, erzählen sie. Isam weiß noch nicht, wo er eingesetzt werden soll. Kurz vor Sonnenuntergang kommt sein jüngerer Bruder vorbei, er bringt Tee, erzählt, dass im Laufe des Tages zehn Kundschafter verschwunden seien. Sie hätten nach Gadhafis Stellungen suchen sollen, jetzt sind ihre Handys abgeschaltet. Die Jungs hören beim Tee den Berichten zu und schweigen.

Die Revolution in Libyen, die am 15. Februar mit Sprechchören und Mahnwachen begann, eskaliert zu einem Krieg mit Luftangriffen und Artillerieattacken. Im Hauptquartier der Freiheitskämpfer, dem Gerichtsgebäude in Bengasi, umarmt Salwa Bugarghis eine Mitstreiterin, den Tränen nahe. Sie drücken die Wangen aneinander. "Ich kann den Druck kaum noch aushalten," flüstert sie auf dem Gerichtsflur.

Die Anwältin Bugarghis hat den Protest in der zweitgrößten Stadt Libyens mit inszeniert. Eben hat sie erfahren, dass Söldnereinheiten das Dorf Brega und die dortigen Ölanlagen erobert haben, nach kurzer Zeit jedoch wieder zurückgeschlagen wurden. Seit Tagen versucht Bugarghis eine Übergangsverwaltung für Bengasi zu organisieren, sie schläft kaum, redet ohne Unterlass, eilt von einer Sitzung zur nächsten. Es ist Krieg, und doch muss die Müllabfuhr neu geregelt werden, weil die schwarzafrikanischen Arbeiter flohen oder sich nicht mehr aus dem Haus trauen. Freiwillige müssen nun die Lücken füllen, Viertel für Viertel. Die Wasserversorgung muss gesichert werden, die Arbeit der Krankenhäuser. Es gibt Zehntausende Freiwillige, aber sie sind unzuverlässig. Immer häufiger bleiben sie jetzt zu Hause. Die Kräfte der Menschen schwinden. Bugarghis hatte die Hoffnung, dass alles bald vorüber sei, doch Gadhafi lässt sich nicht so rasch aus dem Land jagen wie die Diktatoren der Nachbarländer. Und die Anwältin weiß, entweder Gadhafi weicht oder sie.

Die Küstenstraße, auf der sich das Schicksal Libyens besiegelt, in dessen Asphalt sich die Wracks zerschossener Busse und Pickups einbrennen, ist deutsche Ingenieursarbeit aus dem vergangenen Jahr. Die Industrie des Westens machte mit dem Unterdrückungsregime glänzende Geschäfte. "Es ist alles ruhig", sagt mir Isam, der Pfadfinder, der mit seiner Gruppe jetzt ganz vorne eingesetzt wird, an der Spitze der Chaostruppe. Überraschend weit sind sie vorgestoßen, fast 200 Kilometer haben sie gewonnen. Die Orte auf ihrem Weg haben sie nach nur kurzen Gefechten besetzt, sie sind mittlerweile kurz vor Sirte, dem Geburtsort Gadhafis. Ein Fall dieser Stadt würde den aufständischen Osten mit den aufständischen Städten im Westen vereinen, das wäre ein heftiger Schlag gegen das Regime. Mit 160 Stundenkilometern rast mein Fahrer über das Schlachtfeld, regelmäßig macht er diese Pendeldienste. Er erzählt von einem Fahrgast, einem jungen Mann aus Tobruk. Der habe vor drei Jahren im Irak gegen die Amerikaner kämpfen wollen, doch die Eltern ließen ihn nicht. "Dieses Mal," hat er dem Fahrer gesagt, "halten mich meine Eltern nicht auf."

Dem Direktor der Zentralbank in Bengasi droht derweil das Geld auszugehen. Der Mann im silbergrauen Anzug will seinen Namen nicht nennen, weil er Gadhafi fürchtet. "Es ist für mich eine unglaublich komplizierte Situation", klagt er in seinem Büro, an dessen Wand nur noch ein Nagel ist, wo früher das Despotenporträt hing. Das Bargeld in seinen Tresoren, aus denen er ganz Ostlibyen versorgt, reiche vielleicht noch ein Monat, vielleicht auch etwas mehr. 200 Dinare täglich dürfen Bankkunden abheben, sonst wären die Bargeldreserven bald verbraucht. Die Zentrale in Tripolis schicke kein Nachschub mehr. "Stellen Sie sich vor, was passiert, wenn uns das Geld ausgeht?", sagt er. "Chaos! Gewalt!" Im Gespräch bleibt der Direktor vollkommen reglos, als stecke er mit dem Oberkörper zwischen zwei Betonplatten, einzig die Fingerspitzen bewegen sich leicht, sie zeigen mal nach links und mal nach rechts. Er lehnte ab, dem neuen Finanzausschuss der Übergangsverwaltung beizutreten, sie hätten ihn gefragt, aber er könne nicht. Sogar die Fingerspitzen sind jetzt erstarrt. Es ist, als sei der Hausherr Muammar al-Gadhafi nur einmal kurz vor die Tür getreten und man erwarte ihn jederzeit zurück.

   

"Ich komme dir entgegen", schreit Isam ins Telefon. "Wir liegen unter Beschuss." Ich stehe am letzten Posten der Aufständischen in Bin Jawad, einem staubigen Weiler, der für die nächsten Tage im Zentrum schwerster Kämpfe stehen wird. Isam ist auf Erkundungstour jenseits der Front und will nach Ben Jawad, wo wir uns treffen sollen. Doch dazu kommt es nicht. Einer der Freiwilligen löst hundert Meter neben mir versehentlich einen Raketenwerfer aus, der Sprengkopf explodiert zwischen den Rebellen, verletzt zum Glück niemand. Es heißt aus den Krankenhäusern, dass solche Unfälle unter den Aufständischen ähnlich viele Opfer fordern wie der feindliche Beschuss. "Helikopter!" rufen die Kämpfer nur Sekunden später. "Rennt! Rennt!" Die Menge stiebt auseinander, ich flüchte mich in eine Seitengasse, wo ich auf zwei spielende Kinder treffe. Ein Junge und ein Mädchen. Sie lächeln.

Das Gerichtsgebäude in Bengasi ist fast menschenleer, tausende hatten sich in den ersten Tagen auf seinen Fluren gedrängt.
Salwa Bugarghis sitzt alleine auf dem Sofa eines Besprechungsraumes."Gadhafi ist stärker als noch vor einer Woche. Er hat die erste Schockwelle absorbiert." Der Aufenthalt im Gerichtsgebäude wird zunehmend gefährlich, drei Sprengkörper haben die Wachleute in den letzten Tagen gefunden. Zwei TNT-Pakete am Eingang, unter Müll versteckt. Ein drittes versuchte ein Attentäter hinein zu schmuggeln, wurde aber gefasst und, wie es heißt, zunächst zusammengeschlagen und dann festgenommen. Eine Explosion in diesem Gebäude wäre für die libysche Revolution ein schwerer Schlag als der Verlust einer ganzen Stadt. Es gibt Gerüchte, dass Gadhafi auf die 31 Mitglieder des Übergangsrates Kopfgelder ausgesetzt habe. Bugarghis berichtet von einer Prämie von einer Million Dollar für den, der einen der ihren töte, dazu eine neue Identität und ein Leben im Ausland. Als Reaktion wurde ein Geheimdienst-Komitee gegründet, das Zellen von Gadhafi-Anhänger in der Stadt ausheben will. Wer die Waffen abgebe, gehe straffrei aus, wer nicht, werde verhaftet. Angst vor einem Aufstand gegen die Aufständischen macht sich breit. Im Eingang eines großen Hotels verteilen Gadhafi-Anhänger offen das "grüne Buch," in einem Konvoi durch die Innenstadt schwenken sie grüne Fahnen und skandieren: "Lang lebe Gadhafi!"

Er stoße wieder vor, berichtet mir Isam am Telefon. Ich bin auf der Rückfahrt, zweige in Ras Lanuf auf das Gelände des Ölterminals ab, des größten in Nordafrika. Die Tore stehen offen, die Wächterhäuser der sonst streng bewachten Anlage sind verlassen. Mein Fahrer kann es nicht fassen. "Das ist der ganze Reichtum unseres Landes!" Es ist niemand mehr da, der Wind weht über die riesigen Flächen der Kaianlagen. In den Maschendrahtzäunen hängen Tausende Dokumente. Die Schiffe liegen aufgegeben an ihren Pollern. In den Büros stehen noch die Kaffeetassen auf den Schreibtischen, Gadhafi Portraits in goldenen Bilderrahmen liegen zerbrochen auf den Teppichen. Es zischt und köchelt in der Raffinerie, die von niemandem mehr gesteuert wird, lange Dampffahnen züngeln zwischen den Rohrleitungen. Plünderer huschen umher. Sie kommen mit Lastwagen und stehlen Generatoren, andere wollen das Benzin, die Firmenwagen, die Tresore. In vielen Gebäuden hämmert und klopft es. "Das gehört doch der Nation!", beschwert sich unser entsetzter Fahrer bei einem einfahrenden Minibus voller Diebe. "Nein," entgegnet ihm einer von denen,"jetzt gehört das alles uns."

Der Vorstoß der Aufständischen wird zurückgeschlagen. Gadhafi schickt Verstärkung und setzt erstmals schwere Artillerie ein. Die Revolutionäre mobilisieren ihre Panzer. Die nächsten Tage versuche ich Isam zu erreichen, immer wieder. Er hat zwei Handys. Beide antworten nicht mehr.

Nachtrag: In der Nacht, in der ich diese Zeilen schreibe, gegen 4.30 Uhr, explodieren unterhalb meines Hotelzimmers in Bengasi zwei Sprengsätze und zerstören einen Teil der Lobby. Wenige Stunden später entführen zwei Bewaffnete einen jordanischen Arzt aus seinem Zimmer im ersten Stock, bedrohen seine Kollegen, die sie aufhalten wollen. Offenbar sind sie Mitglieder eines der vielen Geheimdienst-Komittees, die den Arzt der Spionage für Gadhafi verdächtigen. Die alten Reflexe der arabischen Überwachungsapparate erwachen wieder. Mitarbeiter des Übergangsrates sind entsetzt, versprechen seine baldige Wiederkehr. Bis zur Abgabe dieses Textes war dies noch nicht geschehen.

 

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Alessandro Gandolfi, Parma
www.parallelozero.com