Hunger

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PHOTOGRAPHIE Matthias Ziegler

Ärzte, die ihre Sprache nicht sprechen, Nahrung, die sie nicht vertragen, fremde Krankheiten: Im größten Flüchtlingslager der Welt ist für manche Kinder nicht nur der Hunger bedrohlich - sondern auch das Lager selbst.

 

Er tastet im Halbschlaf nach ihr, greift um sich, von der Hitze des Nachmittags benommen. Die Knie hat Issak Aden zum Bauch gezogen. Die Finger des 55-Jährigen gleiten über das Laken, auf dem er liegt, aber sie fahren ins Leere. Sie fühlen nichts, was ihnen Halt gibt, tasten erst träge, dann hektisch, bis er sich verstört auf der Matratze hochreißt. Issak Aden blickt in den Krankenhaussaal. Es ist die zweite Woche, die er hier verbringt. Er sieht die Plastikschläuche und Beatmungsmaschinen an den Nachbarbetten, riecht den Durchfall und das Erbrochene der Kinder, das ihre Eltern fortwährend wegwischen. Es ist ganz still in diesem Saal. Die Kinder, die hier leben, schreien nicht. Issak Aden findet seine Tochter in einer Lakenfalte neben sich. Spürt die Brust des Kindes, die sich unter seiner Hand hebt und senkt. Ihre Wärme. Fardosa. "Das Paradies". So heißt ihr Name übersetzt. Sieben Monate, 22 Tage. Er beugt sich herunter und sucht ihren Blick. Seit Wochen ringt sie mit dem Tod.

Das Leben hat sich bis hierhin zurückgezogen, wo es eigentlich keines mehr gibt, tief in die Wüste Kenias, die für Hunderttausende zur einzigen Hoffnung wurde. Die Menschen sind in den vergangenen Monaten aus Somalia geflohen, weil zum dritten Mal in Folge der Regen ausblieb. Weil der Boden trocken fiel und es kein Grün mehr gibt. Ihre Tiere verendeten. Die Massen setzten sich bereits Ende 2010 in Bewegung, die Reicheren mieteten sich Lastwagen, die Armen gingen zu Fuß. Der Zug der Flüchtenden ist seither nicht mehr abgerissen. Ein Land evakuiert sich selbst, es entleert sich in die Nachbarstaaten, nach Äthiopien und eben nach Kenia. Dort, im unfruchtbaren Saumland zu Somalia, ist das größte Flüchtlingslager der Welt entstanden. Eiterblase des Nachbarstaates, der sich selbst zerfleischt. Jeden Tag wächst das Camp um 1200 Einwohner, Dadaab, einst ein Dorf von Ziegenhirten, gilt heute mit einer halben Millionen Menschen als drittgrößte Stadt des Gastlandes. Sie ist auch sein größtes Gefängnis. Die kenianische Regierung fürchtet das Volk auf der Flucht und pfercht es auf 50 Quadratkilometern zusammen. Hier endet der Horizont somalischer Hoffnungen. Hierhin hat es vor zwei Monaten der Viehhändler Issak Aden mit seiner Familie geschafft. Im Dadaab fand er Rettung und das Verderben.

Das Kind im Nachbarbett von Isaak Aden ist heute morgen gestorben, einfach so. Er war nur kurz draußen, um im Hof die Wäsche zu waschen, und als er zurückkam, atmete der Zweijährige nicht mehr. "Er lag da mit offenen Augen", erzählt Aden. "Stabilisierungstrakt" steht auf der Doppeltür des Krankensaales. In ihm bekämpfen Mediziner ein Übel, das in Europa längst ausgerottet wurde. Den Hunger. "Nur dort kann man euch noch helfen", wird im Lager den Eltern über das Zentralkrankenhaus gesagt. So tragen sie ihre Kinder hierher, das, was von ihnen übrig ist. Etwas Knochen, etwas Sehnen, weniger als sechs Kilogramm Muskelgewebe. Das bisschen Körper umschlossen von einer dünnen Haut, in der blutige Risse klaffen. In den vergangenen Monaten verwandelte die Dürre das Krankenhaus in eine Intensivstation für Kleinkinder. An den Türen haftet die deutsche Flagge, im Sommer war der Berliner Entwicklungshilfeminister da. Die "Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ)" finanziert das Spital zum Teil. Die erwachsenen Patienten hat die Verwaltung in Zelte ausquartiert und die Kleinen auf die festen Gebäude verteilt. In ihnen ist die Hitze erträglicher. Die lebensbedrohlichsten Fälle kommen in den Zwölf-Betten-Trakt, wo Isaak Aden mit seiner Tochter liegt.

Zwei Wege führen aus diesem Saal. Der eine ist am Westgiebel des Raumes, wo die Kinder morgens gewogen und das Milchpulver gemischt wird. Der andere, im Osten, liegt neben dem Büro, in der die Pfleger die Totenscheine verwahren.

Ich, der Reporter, sitze jeden Tag am Bett von Isaak Aden. Oft fühle ich mich unnütz. "Bist du ein Arzt?", fragt mich Aden. In seiner Heimat gibt es weder Ärzte noch Journalisten. Für anderthalb Wochen bin ich aus Deutschland angereist, um über eine Katastrophe zu berichten, die vergessen zu werden droht. Zu lange dauert sie schon für die Medien, die sich abgewendet haben. CNN, BBC, sie alle waren schon einmal da und kommen so bald nicht wieder. Der Tod in Dadaab hat seinen Nachrichtenwert verloren, das Unfassbare ist gewöhnlich geworden.

"Du siehst es ihnen nicht an", sagt der leitende Krankenpfleger Mohamed Shakur, 31. Er ist zur Spätvisite an die Betten getreten. "Du glaubst, alles ist ok, die Werte sind gut, dann drehst du ihnen den Rücken zu und sie sind tot." Er arbeitet seit drei Jahren in der Kinderabteilung. Er lacht viel, wenn er unter Kollegen ist. Traurig wirkt er, glaubt er sich unbeobachtet. Shak rufen sie ihn, er hat zwei Kinder, die sechs Autostunden entfernt im Süden wohnen, alle acht Wochen kann er sie sehen. Er vermisst sie. "Wie ging es die letzten Stunden?", fragt er am Bett von Isaak Aden. Der Viehzüchter, klein, klug, schaut ihn an, aber versteht ihn nicht. Shakur spricht Somali. Wie die meisten der Dürrevertriebenen diesen Jahres, die tiefer aus Somalia kamen als alle anderen Flüchtlinge zuvor, redet Aden nur Mai-Mai. Die Brust Fardosas bewegt sich so rasch wie ein zuckender Herzmuskel. 3,8 Kilogramm hat sie heute Nachmittag gewogen, hundert Gramm mehr als gestern. Shakur liest das Krankenblatt, kein Durchfall, fragt er. Verständigt sich durch Gesten, erhöht die Milchration um vorsichtige zehn Gramm. Ein Etappensieg.

Er geht von Bett zu Bett, klatscht manchmal in die Hände, um die Reaktion der Kinder zu testen. "Hallo Hassan!", streicht er einem Dreijährigen über den Kopf, dem fast alle Haare ausgefallen sind. Der Schlauch der Magensonde ist ihm über den Nasenrücken zur Stirn hochgeklebt. "Er macht uns Sorgen", sagt Shakur, der unschlüssig auf den Jungen sieht. Hassan, dessen Vater ihn rastlos umsorgt, gewinnt seit Wochen Gewicht und verliert es sofort wieder. Die Darmwände des Kindes nehmen keine Nährstoffe mehr auf. Sie haben ihre Fähigkeit verloren, Proteine und Eiweiße zu absorbieren. Der Junge hat Arme und Beine, dürr wie Wurzelgeflecht. Er erbricht weißen Schaum und hockt in einer Lache gelben Kots. Es gibt Eltern, die setzen sich mit ihren Kindern von ihm weg, sobald in einer anderen Ecke des Raumes ein Bett frei wird.

Die Namen merkt sich Shakur nicht, zu kurz bleiben die Patienten. Da ist die Großmutter, erstes Bett, linke Reihe, die ihren dreieinhalbjährigen Enkel hütet. Ganz still auch er. Nur einmal am Tag hört man ihn, wenn die Alte ihn badet. Dann wimmert er und weint. Sie reibt die Seife über seine Haut, die in breiten Streifen blutig aufgeplatzt ist. Als sei Napalm auf ihn herabgefallen. Der Hunger ist wie das Aidsvirus, er attackiert den Körper in vielfältigen Formen. Unter dem Proteinmangel löst sich bei manchen Kindern die Haut auf, sie büßt ihre Elastizität ein. Shakur verschreibt Salbe. "Schau mal", zeigt er auf hellrosa Wundränder, "es heilt schon." Im Bett nebenan liegt ein Vater, der immer lacht. "Warum lachst du immer?", fragt ihn Shakur. "Das ist meine Art", sagt der Vater. "Ich bin nun mal gerne fröhlich." Seine zweijährige Tochter hat als Komplikation eine Hirnhautentzündung bekommen. "Sie ist jetzt für immer behindert", weiß er. Ihre Augen rollen und ihr Mund grimassiert. Oft liegt er auf dem Bett und schaut sie nur an, küsst ihre Füße, birgt seinen Kopf zwischen ihren Armen und Beinen.

Die Welt des Flüchtlingslagers gliedert sich in drei Sektoren, die Camps Dagahaley, Hagadera und Ifo. Jedes von ihnen besitzt die Ausmaße einer Großstadt. 1991 war Dadaab nach dem Ausbruch des Bürgerkrieges für 70 000 Menschen angelegt worden. Nun verfestigt sich das Lager zur Stadt. Die erste Generation wohnt in Steinhäusern, sie unterhält Schulen und bildet sogar ihre eigenen Lehrer aus. Die nachkommenden Familien ließen sich in ihrer Nachbarschaft nieder. Wie Jahresringe der Not umschließen die neuen Quartiere die alten Kerne. Jede militärische Offensive der letzten Jahrzehnte findet in Dadaab in Elendsbehausungen ihre Entsprechung. Die Neuen leben in Zelten, eine Vielzahl an unterschiedlichen Modellen masert die Wüste. Wie Windpocken bedecken sie das Land.

"Wenn so ein Kind zum ersten Mal wieder lacht", sagt Shakur, "dann weisst du, es hat es überstanden."

Fardosas Fieber steigt. Lungenentzündung. Isaak Aden beträufelt sie mit einem nassen Lappen. Der nächste Morgen bricht an. Draußen aufflirrende Hitze. Seine Frau Muslima hat sich zu den beiden aufs Bett gelegt. "Wie war die Nacht", fragt sie ihn. Die 35-Jährige hat erstmals seit Fardosas Einweisung nicht im Spital geschlafen. "Ich muss mich um die anderen Kinder kümmern", sagt sie. Muslima kann kochen, Isaak nicht. Ihre vier Jungs leben alleine im Flüchtlingslager, in dem Zelt, das der Familie vor zwei Monaten zugewiesen wurde. "Ich traue den Nachbarn nicht", klagt Muslima. Die Jungs seien noch zu klein; beim Wasserholen am Brunnen würden sie weggestoßen. Muslima selber ist unterernährt, leidet unter Blutarmut, hat Grippe, doch nimmt sie jetzt jeden Tag zwei Stunden Fußmarsch in Kauf, um zwischen Fardosa und den Jungs zu pendeln. Sie redet viel, Isaak schweigt. Gleichermaßen erschöpft schlafen Mutter und Tochter nebeneinander ein. Da stirbt an diesem Tag das erste Kind, drei Betten von Fardosa entfernt.

Es ist kaum zugedeckt, als das zweite stirbt. Der Zweijährige ist seit acht Tagen im Saal. Über einen Plastikschlauch in der Nase bekommt er Sauerstoff. Der Krankenpfleger Shakur sucht schweigend nach einer Vene am Hals. Will ihm ein Kreislaufmittel verabreichen, schnell, doch findet er keine Vene. "Wir müssen es durchs Knochenmark geben", sagt Shakur und setzt die Injektion am Knie. Das Kind zieht ruckartig die Luft ein. Die Mutter am Bettrand beginnt zu weinen, zieht den Schleier über die Augen. Shakur sticht in den Knochen, das Kind reagiert nicht auf den Schmerz. Es ringt um Atem, mit aufgerissenen Augen. Shakur lässt vom Knie ab, setzt zwei Fingerspitzen auf die Brust des Kleinen. "Ich kann keinen Puls mehr fühlen", sagt er und massiert das Herz, das aufgehört hat zu schlagen. "Er ist tot", flüstert die Mutter. Doch Shakur kämpft weiter, zählt bis zwei, drückt aufs Herz, zählt bis zwei, drückt wieder. Schweißperlen treten auf seine Stirn. Die Mutter will die Augen ihres Kindes zudrücken, Shakur schiebt ihr die Hand zur Seite. Er versucht es immer noch, wischt sich zwischendurch den Schweiß ab, dann hält er inne. Mit hängendem Kopf, die Arme auf den Bettrand aufgestützt.

Fardosas Mutter ist aufgewacht. Sie beobachtet von ihrem Bett, wie Shakur den Beatmungsschlauch aus dem Jungen zieht. Er entfernt die Pflasterstreifen von Stirn und Wangen. Löst die Kanüle am Knie. Shakur meidet die Blicke der anderen Eltern. "Ich hab alles getan", sagt er in den Saal hinein. Den Jungen bedeckt er mit einer Filzdecke. Nur der große Zeh ragt noch heraus. Dann verlässt er den Saal, für einige Stunden, und niemand weiß wohin. Fardosas Mutter geht zum Bett des Toten und zieht die Decke auch über den nackten Zeh.

"Dieses Haus ist Gottes Schlachthaus", sagt der immer lachende Vater. Er grinst und zuckt mit den Augenbrauen.

   

Abends fließt das Blut einer Ziege, die die Krankenpfleger schlachten. Sie feiern den Abschied einer Kollegin, sie hat gekündigt. Ich treffe mich mit Shakur auf dem Wohnareal der GIZ, von Wachposten und Stacheldraht gesichert. Ärzte und Pfleger arbeiten in Dadaab unter ständiger Entführungsgefahr. Shakur lächelt wieder. "Ich bin auf Amphetamin", grient er. "Ein Scheiß-Tag." Er kaut die Droge Khat, ein Bündel dunkelgrüner Blätter liegt vor ihm. "Ich hab mir das nach vier Monaten in Dadaab angewöhnt." Die meisten sind auf Droge, zumindest nach Dienstende. Es steht zur Zeit nicht gut um die Stimmung in den Krankenhäusern. Immer wieder werden Streiks ausgerufen. Die Beschäftigten wollen mehr Geld und Urlaub. Acht Wochen Arbeit, fünf Tage frei, so ist etwa die Regel der GIZ. "Früher hatten wir acht Wochen Schicht und zwei Wochen frei", klagen die Leute. Die Katastrophe, die dieses Jahr über Dadaab hereinbrach, zehrt an den Nerven aller. "Ich bin bei der Arbeit nur noch körperlich anwesend", sagt ein Kollege von Shakur. Bis tief in die Nacht tanzen sie, um den Abschied der Kollegin zu feiern. Sie liegen sich in den Armen, um für einige Momente die Bilder des Tages zu vergessen.

Die Betten, in denen gestern die Kinder starben, sind heute von Neuankömmlingen belegt. Ihre Mütter bewegen sich wie tastend durch den Raum, so fremd ist ihnen alles, noch nie waren sie in einem Krankenhaus. "Warum bist du nicht früher gekommen?", schaut Shakur auf ein bewusstloses Kind, das eine Mutter zur Tür hereinträgt. Zuckerwerte alarmierend, die Blutwerte auch, dünn ist es wie Wasser. Doch die Frau spricht nicht seine Sprache. Heute ist Isaak Aden mit Fardosa abermals alleine. Sie hat in der Nacht eine Kanüle in die Kopfhaut gesetzt bekommen. Damit Shakur besser die Lungenentzündung bekämpfen kann. Stundenlang verweilt der Vater auf dem Bett und verscheucht die Fliegen über seiner Tochter. Bei ihrer Geburt hatte ihr seine Frau einen anderen Namen geben wollen. Sie favorisierte "ein Schiff, das Lasten trägt". Und es ist die Sache der Mütter, die Namen der Kinder zu bestimmen. Aber Aden setzte sich durch, er wählte "Paradies". Das Neue sollte das Alte beschwören, das Leben der Familie vor der Katastrophe.

Er hatte sich hochgearbeitet, ehrgeizig, war als junger Mann in die Stadt Dinsoor gezogen, weg vom Vater, der Vieh züchtete im Busch. Er eröffnete einen Tee-Ausschank, sparte Geld, kaufte Ziegen, später auch Kamele, lernte, sie zu Tiefpreisen zu kaufen und zu Höchstpreisen zu verkaufen. Die ganze Familie arbeitete ihm zu, er wurde wohlhabend, litt nie Not, überstand viele Dürren, ohne nach Kenia fliehen zu müssen. Ein kluger Kaufmann, der nie lesen und schreiben lernte. Die Mutter Fardosas wurde ihm zur Frau gegeben, da war er 35 Jahre alt. Die zweite Ehe für beide. Sie war im Alter von zehn Jahren verheiratet worden, lief dem Mann dann aber davon. "Fardosa soll es besser haben", sagt sie. "Sie wird selber ihren Mann wählen." Aber dann erkrankte Isaak Aden, lag zwei Jahre mit Fieber im Bett, wurde fast taub. Das Geschäft litt, und es war ihm nicht mehr viel geblieben, als in diesem Jahr die schwere Dürre über Dinsoor hereinbrach. Sie entschieden sich zu gehen, mit den letzten Ziegen als Wegzehrung.

Fardosa überlebte alle Strapazen, alle Entbehrungen, drei Wochen Flucht, die Hitze, die Kämpfe an der Grenze, wo sich somalische Regierungstruppen gegenseitig beschossen. Isaak trug zwei Kinder, eines am Bauch, eines am Rücken. Seine Frau nahm die Tochter und das Gepäck. Sie marschierten jeden Tag von Sonnenaufgang bis zur Mittagszeit, dann wieder vom Nachmittag bis in den Abend. Die älteren Jungs, sechs und zwölf, liefen nebenher, jammerten oft, doch ihr Vater richtete sie immer wieder auf, zeigte auf dem Horizont, sagte, dort, unter diesem Baum, rasten wir und trinken Tee. In der Nacht, um ihren Schlafplatz herum, entzündeten sie einen Kreis an Feuern. Das hielt die Löwen fern. Wenn sie den Schein von Taschenlampen sahen, versteckten sie sich, legten sich auf den Boden, fürchteten Banditen, die wie Geier die Fluchtwege der Hungernden säumen. Sie rauben, vergewaltigen und töten. Alles überstand die Familie mit ihrer Tochter, doch dann erreichte sie vor zwei Monaten das Lager.

Masern bekamen sie hier und die Grippe. Unterschiedlichste Infektionskrankheiten befielen die Adens "Wir wussten bei uns zu Hause nicht, was Grippe ist", sagt Isaak. Die ersten Wochen lag er krank in der Hütte, die er aus Ästen und aufgelesenen Plastiktüten gebaut hatte. Zu viele Menschen lagern auf zu engem Raum. Stecken sich gegenseitig an. Treten überall in Exkremente, weil die Frauen aus Angst vor Vergewaltigung ihre Notdurft direkt an der Hütte verrichten. Fardosa, die sie auf der Reise mit Ziegenmilch durchgebracht hatten und die gut ernährt ankam, weigerte sich jetzt, die Lebensmittel des Lagers zu essen. Das UN-Welternährungsprogramm (WFP) versorgt die Bewohner vor allem mit Weizenmehl und Mais. Das Essen wird verteilt in Ausgabezentren, die große Käfige sind und an Fütterungsanlagen aus der Massentierhaltung erinnern. Wie Rinder werden die Menschen durch die vergitterten Gänge geschleust. Ein genau durchdachtes System. 2100 Kilokalorien für den Erwachsenen, 3000 für das Kind. Doch Fardosa mochte den Mais nicht. Ihre Mutter schaffte es nicht, ihn an sie zu verfüttern. Fardosa ist Kamel- und Ziegenmilch gewöhnt, auch etwas Reis, aber all das gibt es im Lager nicht.

"Das Problem der Unternährung ist ein Camp-Management-Problem", sagt die Ernährungsbeauftragte des GIZ-Krankenhaus Sarah Oteri. "Du kannst die Kinder nicht mit etwas versorgen, was sie nicht mögen." Die Essensgewohnheiten der neuen Flüchtlinge unterschieden sich von denen der alten. Sie fordert die Ausgabe von Reisrationen. "Die Kleinen kommen bereits unterernährt ins Camp, aber bauen erst hier so richtig ab." Dieses Problem haben die meisten Eltern, die im "Stabilisierungstrakt" des Krankenhauses um ihren Nachwuchs kämpfen. Ihre Kinder fallen durchs System.

"Norto", das Licht, ein zweieinhalbjähriger Junge, liegt seit diesem Mittag im Nachbarbett von Fardosa. Isaak sieht ratlos auf dessen Mutter. Sie kümmert sich nicht, lässt das Kind allein auf der Matratze. Geht im Hof spazieren. Sie streitet mit Shakur. Norto darf nur über die Magensonde ernährt werden, aber seine Mutter lässt ihn immer wieder Milch aus dem Becher trinken. "Das ist zuviel für ihn!", sagt Shakur. "Er kann sterben. Das Herz schafft es nicht." Heimlich reicht ihm die Mutter weiter den Becher. Es gibt Eltern, die den Sinn der Anweisungen des Personals nicht begreifen. Sie haben im Leben noch keine Spritze gesehen. Ein Beatmungsgerät ist für sie Magie. Andere Eltern töten die Kinder vorsätzlich, um ihnen Leiden zu ersparen. Ziehen die Beatmungsschläuche, pressen Nase und Mund zu. "Ich könnte denen manchmal ins Gesicht schlagen", flucht Shakur. "Ich kämpfe um ihre Kinder, und die Eltern geben auf."

Der Junge reißt den Mund auf, als seine Mutter wieder draußen unterwegs ist, ich trete an sein Bett. Norto, der sonst nur still auf dem Rücken lag, bewegt plötzlich hektisch seine Kiefer. Als wolle er Luft beißen. Es ist kein Pfleger im Raum, wie überhaupt selten einer da ist. Bei nur zwei Kräften für 46 Kinder in vier Krankensälen. Ich lege meine Hand auf seine Brust, sie glüht. "Er stirbt", sagt Isaak. Ich laufe hinaus, um Shakur zu holen. Als der bei Norto eintrifft, ist er bereits tot.

Allah gibt und Allah nimmt. Die Eltern trösten sich gegenseitig mit kargen Worten. Weine nicht, sagen sie einander. Zweifle nicht. Es ist Allahs Kind, und er hat es wieder zu sich gerufen. Weine nicht, sagen sie, und Allah wird dir vielleicht beim nächsten Mal ein noch besseres Kind schenken. Ein klügeres, ein kräftigeres. Frauen halten sich an den Händen. Männer werfen ihre Umhänge über die Köpfe, verstummen.

Das Kind mit der Hungerhaut stirbt, in den Armen der Großmutter, trotz Einsatz des Beatmungsgerätes, das sein Vater zunächst abgelehnt hatte. Und auch das Mädchen des lachenden Vaters ist eines Morgens tot im Bett gelegen. Sie würde es schaffen, hatten alle gedacht. Eine Grippe hat sie dann ganz schnell hinweggerafft. 18 Kinder sterben in den anderthalb Wochen, die ich in diesem Krankentrakt verbringe, 18 Kinder von zwölf Millionen, die jedes Jahr weltweit verhungern.

Am letzten Tag vor meiner Abreise erhöht Shakur für Fardosa die Drei-Stunden-Ration Milch auf 120 Milliliter, zehn mehr als gestern. Er hat die Kanüle an ihrem Kopf entfernt. Sie streckt ihren Arm aus, als ihre Mutter von draußen herein kommt, erschöpft, sich kaum noch auf den Beinen haltend. Die Nacht über hat Muslima das Grippefieber wachgehalten. Fardosa lacht, zum ersten Mal. Muslima legt sich neben sie, strahlt plötzlich, kitzelt ihr Mädchen, Mutter und Tochter lachen sich an. Isaak sieht ihnen zu, bis Fardosa ihren Kopf dreht und auch ihn anlacht.

Er wendet sich ab. Er weint.

 

 

 
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Matthias Ziegler, München
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