Eine Klasse für sich

Abgeschrieben – ein Jahr mit Hauptschülern. Protokoll einer Sinnkrise.

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PHOTOGRAPHIE Heinz Heiss

 

Die alte Klassenlehrerin kommt nicht mehr. Ihre Schüler sprechen verständnisvoll von ihr. Die wusste nicht mehr weiter, sagen sie. Im Unterricht habe sie zum Schluss oft „richtig geheult“. Es ist Herbst 2008, Raum 605, Schulbeginn. Die 9b hat nach den Ferien eine neue Lehrerin bekommen. Ein schriller Chor hallt ihr entgegen. „Guten Moaaaargen, Frau Kimmerle.“ Sie muss in diesem Jahr 22 Jugendliche auf die Abschlussprüfung vorbereiten, nachdem ihre Vorgängerin aufgegeben hat. „Die letzte“, sagt Yavus*, 16, der Klassensprecher, der immer kurz vorm Schulverweis steht, „gab uns gute Noten, weil sie Angst vor uns hatte.“

So viele Namen gibt es für die Hauptschule. Vom Deppendepot sprechen manche Jugendliche. Im Jargon der Politiker heißt sie mitunter „Aufbewahrungsanstalt“ und Pädagogen sehen in ihr auch schon mal die „Resteschule“. Vor allem aber sind es die Eltern, die die Hauptschule schmähen. Bundesweit hat sie seit den 60er Jahren zwei Drittel ihrer Kinder eingebüßt. Nur noch zehn Prozent aller Schüler besuchen sie, 889 000 im ganzen Land. „Honk“ ist als Spottname geprägt. „Hauptschüler ohne nennenswerte Kenntnisse“. Der Arbeitsmarkt hat diese Bildungseinrichtung weitgehend abgeschrieben. Immer weniger Berufe stehen ihren Abgängern offen.

In der Hauptschule vollzieht sich die Kernschmelze des deutschen Bildungswesens. Was lange wie ein Glaubensbekenntnis verteidigt wurde, von allen CDU-Regierungen, das dreigliedrige Schulsystem, ist mittlerweile in der Hälfte der Bundesländer abgeschafft. In Baden-Württemberg forderten 97 Hauptschul-Rektoren ebenfalls ihre Auflösung. „Das wäre das Richtige“, ist auch der Rektor der Neugreuth-Hauptschule vom Sinn seiner eigenen Abschaffung überzeugt. „Aber die anderen Schulen fürchten sich vor unseren Kindern.“

Ein ganzes Schuljahr begleiteten Autor und Fotograf die beiden Abschlussklassen der Neugreuth-Hauptschule in Metzingen, einer wohlhabenden Kleinstadt in Baden-Württemberg. Ein Jahr lang saßen sie zwischen Schülern im Unterricht und tranken teerschwarzen Kaffee im Lehrerzimmer. Das Protokoll einer tiefen Sinnkrise.

Christina Kimmerle, 41, gelernte Bürokauffrau, die auf Lehramt umgesattelt hat, gilt im Haus als gute Kraft. Nie tritt sie vor die Klasse anders als in Schwarz. Die Farbe des Kampfsports. Ihr gegenüber sitzen der Sohn des Kneipenwirts, der meist nach Mitternacht nach Hause kommt, die Tochter einer viel zu jungen Mutter. „Dein Deutsch ist eine Schande für eine Deutsche!“, klagt die Mutter. Der Junge, der lispelt und häufig krankgeschrieben ist. Er lebt beim allein erziehenden Vater. „Quadratschädel“, sagt der Vater zu ihm. Wenn er etwas im Unterricht von sich gibt, wird es sofort von der Klasse wiederholt – gelispelt. Das Mädchen, deren Eltern getrennt leben und das ihren Vater im Glauben hält, sie besuche die Realschule. Viele Scheidungskinder sind in der 9b und einzelne Schüler aus intakten Familien. Und Yavus. „Er ist unser König,“ sagt die Klasse. „Ich bin ihr König“, sagt Yavus.

„Mir ist langweilig“, klagt er. Yavus ist wieder nur mit bloßen Händen in die Schule gekommen, wie zehn von zwölf Jungs. Stift und ein leeres Blatt Papier hat er ebenfalls nicht, die muss er sich bei Frau Kimmerle leihen.

Die Klasse hat nicht die Absicht, den Unterricht zu zertrümmern. Es passiert einfach so. Wie Feuerbälle sind die Jungs, die steuerungslos um ihre eigene Achse jagen. Einer macht es sich nach fünf Minuten plötzlich im Waschbecken bequem. Ein anderer steckt den Kopf in den Papierkorb, der Rest wirft Knöllchen, lacht, grölt, murmelt „oooch, Frau Kimmerle“, wenn sie einschreiten will. Es steht Wirtschaftslehre auf den Stundenplan, das Kapitel Konsumentenkredite, was ein Dispositionskredit ist und was ein Darlehen. Frau Kimmerle versucht es mit Fragen. Die schleudert die Klasse als „Fuzmuzwuz!“ auf sie zurück. Als „Bababababab.“ Sie gibt ihnen fünf Minuten, um acht Kreditbegriffe abzuschreiben. Die Blätter der Jungs bleiben leer, sie sind damit beschäftigt, ihre Schals wie Turbane um die Köpfe zu schlingen. Knapp zur Hälfte besteht die Klasse aus Mädchen, doch sie sagen so gut wie nie etwas. Die Mädchen sammeln schweigend die Krümel, die vom Unterricht für sie abfallen.

In den ersten Wochen scheint Frau Kimmerle um die Klasse zu ringen, dann gibt sie auf. Schon bald spricht sie mit einer Stimme, die immer knapp vor dem Reißen zu sein scheint. Die Lehrerin wird zur Flugbegleiterin einer abstürzenden Maschine. Ihre wichtigste Aufgabe: die Passagiere auf ihren Sitzen zu halten. „Okay“, sagt sie jetzt oft am Ende der Stunde, kaum hörbar, und hetzt nach draußen.

Es gibt zu diesem Zeitpunkt niemanden in der Abschlussklasse, der sich um eine Lehrstelle beworben hat. Dauernd kommt etwas dazwischen. Mal ist es eine „Batman“-DVD, mal eine Grillparty mit Freunden.

   


Die meisten Eltern können Frau Kimmerle in ihrer Not nicht beistehen. Auf sie wartet die Lehrerin in ihrer Sprechstunde vergeblich, zum Elternabend erscheint nur eine Hand voll. Ihrerseits weigert sie sich, Hausbesuche zu machen. „Das muss ich nicht mehr in Klasse 9.“ Etliche Eltern hat sie noch nie gesehen. „Wer ist Frau Kimmerle?“, fragt die Mutter von Yvonne, 17, als sie zwischen den Regalen des Discounters den Namen erwähnt. „Mama!“, stöhnt ihre Tochter, die den Einkaufswagen schiebt. „Das ist meine Klassenlehrerin.“ Yvonne, hängende Schulter, viel Trotz in ihrem Blick, viel Furcht, gilt als Senkrechtstarterin der 9b. Es liegt einiges hinter ihr. Die Trennung der Eltern, die Ablehnung des Vaters, dessen neue Freundin sie an der Haustür abfertigt. In der fünften Klasse begann sie zu schlägern, zu mobben und verließ in der achten die Schule. Jetzt ist sie wieder dazu gestoßen, freiwillig, sie will es wissen. Ihr älterer Bruder ist Weltmeister im Freestyle-Bodybuilding und wird zuweilen von einem Proteinhersteller gesponsert. Muskelbewehrt hängt sein Porträt im Schlafzimmer der Mutter, die stolz auf ihn ist. Stolz, sagt Yvonne, soll sie eines Tages auch auf ihre Tochter sein können.

Schwierig, Yavus, schwierig“, klagt Yavus Mutter, allein erziehend, die sich gegen ihn und seine beide erwachsenen Brüder nur schwer durchsetzen kann. Sie leben in einer Wohnanlage, in der die gläsernen Haustüren durch zentimeterdicke Metallplatten ersetzt wurden. „Er so wütend manchmal“, sagt sie in schlechtem Deutsch. Sie arbeitet als Putzfrau und Lagerhelferin. Die Porträts ihrer drei Söhne hat die türkische Christin – auf Fernseher und Lautsprechern - als Triptychon arrangiert. Was an einen Altar erinnert. „Wenn Mann weg“, erzählt sie, „dann gelten Frau bei Söhne nix in unserer Kultur. Manchmal Scheiß-Kultur.“ Sie weint, wenn sie über ihren Jüngsten redet, der jetzt verurteilt wurde zu 50 Arbeitsstunden und zwei Wochenenden im Jugendarrest. Gemeinschaftliche vierfache schwere Körperverletzung. Ein Schädelbasisbruch. Yavus balanciert in der 9b auf schmalem Grat, er wankt, doch noch stürzt er nicht. Er lernt im Jugendhaus auf die Klassenarbeiten, einen Ersatzvater fand er in Patrick, der Streetworker ist. „Aber ein Mann von Schule ganz hart zu ihm“, verzieht Yavus Mutter das Gesicht. Sie meint den Rektor.

Er steht in der 9b nachdenklich am Fenster. Er ist allermeistens die Ruhe selbst. Es ist Mitte Januar, es schneit. Er sehnt sich hinaus, rückt der Scheibe immer näher, bis es näher nicht mehr geht. Deutschstunde. Sachtext „Salz – die Gabe der Götter“. Teil der Prüfungsvorbereitung. Die Schüler sollen dem Artikel die wichtigsten Informationen entnehmen. Doch die Jungs lärmen, manche starren, einer schreibt. Die Hände hält der Rektor hinter dem Rücken verschränkt, seine Finger beginnen plötzlich zu zittern, dann seine linke Hand. Er dreht sich um. „Ich kann euch nicht zwingen, zu lernen“, schreit er in den Raum. „Das kann ich nicht!“

Kurz kommt noch einmal Hoffnung auf, dass die Abschlussklasse den Kampf um die Zukunft aufnimmt. 30. Januar. Die Ausgabe der Zwischenzeugnisse. Frau Kimmerle verteilt die Mappen, wortlos, abgekehrt, als überreiche sie Totenscheine. Die Klasse verstummt, zum ersten Mal in diesem Schuljahr. Das Blödeln verliert sich, es halten einige die Tränen zurück. „Aus keinem von uns wird etwas“, jammert es zwischen den Stuhlreihen. „Die Ausbildung kann ich mit den Noten vergessen“, murmelt einer, der noch zu den ehrgeizigsten zählt. Vielleicht sind diese Zeugnisse der nötige Schock, hofft Kimmerle. Nur Yavus, der eine Fünf in Deutsch bekam, bleibt regungslos. Noten haben für ihn keine Bedeutung, weder als Ansporn noch als Drohung. Auf den Tischen liegen die Mäppchen mit den Spuren der letzten Schuljahre, zerfetzt und zerkratzt, in der Mitte oft durchlöchert für die Handykameras. Sie sehen aus wie Schlachtschiffe.

Zögerlich beginnen die Jugendlichen, während der Wintermonate Bewerbungen zu verschicken, einzelne machen Praktika. Yvonne hat sich entschieden, Tierarzthelferin zu werden. „Das wär`s“, sagt sie. Weil sie so gut mit der Hündin Nelly kann. Es gibt eine Sozialpädagogin, die einmal in der Woche in die Klasse kommt. Sie möchte ihnen beibringen, wie man einen Lebenslauf schreibt, wie sie ohne Scheu bei Firmen anrufen. Worauf es beim Vorstellungsgespräch ankommt. Sie ist eine Art Geburtshelferin, die die Presswehen ins Berufsleben hinein erleichtern soll. „Will heute jemand etwas von mir?“, fragt sie mit dynamischem Strahlen. Wenige heben die Hände. Aber ausgerechnet Yavus ruft an einem Tag im März ihr zu: „Ich hab nächste Woche ein Vorstellungsgespräch!“ Er wäre der erste in der Klasse. Frau Kimmerle schaut ungläubig, die Jungs recken die Hälse. „Du erzählst Scheiße, Mann!“, lacht einer. Aber kein Scheiß. Media-Markt. 9. März, 9.30 Uhr, unbedingt pünktlich sein.

Du musst immer nett bleiben, hat ihm der Patrick vom Jugendamt eingebleut. Er war extra beim Friseur. Damit er nicht den Zug verpasst, ließ ihn Yavus Mutter bei ihrer Schwester im Nachbarort Nürtingen übernachten. In der dortigen Elektro-Markt-Filiale soll er für eine Lehrstelle zum Einzelhandelskaufmann vorsprechen. Alles hat sie generalstabsmäßig vorbereitet. Die gewaschene Jeans liegt auf dem Wohnzimmer-Tisch, dazu das gebügelte Herrenhemd. Er fingert vor dem Spiegel den Piercing-Ring aus der Unterlippe. „Weil ich gerne mit Menschen zusammenarbeite“, wiederholt er die Stichwörter des Streetworkers. „Ich bin flexibel.“ „Wenn ich etwas anfange, mache ich das auch zu Ende.“ Freunde haben ihm geraten, seine Lederjacke nicht anzuziehen. Gelt noch die Haare ein, sprüht Parfüm darauf. Dann geht er los. Ein netter, höflicher junger Mann, der er auch sein kann. Die Dame an der Info-Theke bittet ihn herein, er wartet zwischen den Elektrogeräten, nervös, die Hand am lautlos gestellten Handy. Yavus Mutter ruft da schon zum wiederholten Male an.

Er hat alles richtig gemacht, sagt er später, trotzdem hat es nicht geklappt. Als nächster Termin steht der Jugendarrest auf dem Programm.

Die Hüftschmerzen von Frau Kimmerle werden schlimmer. Mit verzerrtem Gesicht schleppt sie sich durch den Tag. Doch Glück und Unglück sind in der Hauptschule Wand an Wand. „Das ist mein schönstes Jahr“, schwärmt die Kollegin der zweiten Abschlussklasse, der 9a. Wie verliebt wirkt Karin Kinzer mit ihren 50 Jahren in ihre Schüler. „Ein Naturtalent“, sagt der Rektor. Er hat Recht: Wer ihren Unterricht besucht, würde gerne Hauptschüler sein. „Es ist Ihnen doch sowieso egal, was aus uns wird“, hielt ihr in der Siebten ein Schüler vor. Sie erinnert sich, wie sie das traf. „Ich verbringe mit euch mehr Zeit als mit meiner Familie,“ sagte sie. „Ihr seid wichtig für mich. Ich mag euch doch.“ Kinzer unterrichtet nicht nur, sie lebt in ihrer Klasse. Das merken Schüler.

Derweil in der B-Klasse Ausflüge zur Abstrafung gestrichen werden, sagt Kinzer zu den ihren: „Leut, jetzt läuft`s net so gut. Ich glaube, wir müssen mal wieder fortfahren.“ Zehn Jahre lebte sie in Afrika, sie weiß, zu improvisieren. Sie zieht ihre Gänse im Klassenzimmer hoch, schlägt im Unterricht spontane Schlittenfahrten auf dem Weinberg vor. Während andere Lehrer als erstes das Schulbuch aufschlagen lassen, erzählt Kinzer, wie in der Nacht das Kälble auf dem Hof ihres Mannes zur Welt kam. Die Schüler lauschen gebannt. Und kommen am Nachmittag das Kalb besuchen. Vier Mädchen von ihr sind beim Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten Landessieger geworden – als einzige Hauptschüler unter lauter Gymnasiasten. Manchmal schreiben die Schüler für ihre Lehrerin das Kürzel „hdl“ auf ihre Vokabeltests. „Hab dich lieb“. Kinzer ist eine, die Klassen umdrehen kann. Aber nicht jeder Lehrer kann wie Kinzer sein. In der 9a fanden bislang drei einen Ausbildungsplatz, alle, die suchten, sagt Kinzer. Die anderen gehen auf weiterführende Schulen. Die wenigen Jobs, die mit Hauptschulabschluss noch zu bekommen sind, wollen sie nicht.

Die Hälfte der Schüler hat die Neugreuth-Schule in den vergangenen zehn Jahren verloren. Jetzt sind es noch 201. Es gibt von allen Lehrern des Kollegiums einen einzigen, der sein Kind auf die Hauptschule schickt. Die Realschulen in der Region sind überfüllt, leiden unter Klassenstärken von bis zu 36 Köpfen. Zu Beginn des übernächsten Schuljahres wandelt Baden-Württemberg die Hauptschule in die zehnjährige Werksrealschule um. Neben ihr aber bleibt die Realschule bestehen, und so werden sie die Eltern vermutlich auch weiterhin wählen. Es braucht ganz neue Schulen, sagen Kritiker, die immer zahlreicher werden. Neue Unterrichtsformen, die Schüler nicht nur über Bücher fordern. Die Langsame nicht nur mit Langsamen mischen. Die Starken werden mit den Schwachen nicht schwächer, zeigen viele Studien. Sie bleiben gleich stark oder werden sogar stärker. Denn wer anderen etwas erklärt, versteht es auch selber besser.

Es kommt mit dem Juni der Monat der Abschlussprüfungen. Frau Kimmerle bemüht ein Lächeln, als sie vor ihrer Klasse steht. Die Mathe-Prüfung ist die am meisten gefürchtete. „Nutzt das Geo-Dreieck!“, rät sie. „Konzentriert euch. Die Aufgaben sind machbar.“ Zuvor hat sie im Büro des Rektors die Testfragen zum ersten Mal gesehen. „Oje“, stöhnte sie erschrocken. „Sehr anspruchsvoll.“ Frau Kimmerle hegt ernste Zweifel, ob ihre Klasse die Prüfung schafft. Gestern musste sie nach nur einer Stunde den Unterricht abbrechen. „Jetzt geht`s looos!“, posaunen die Jungs, immer wieder, und in abwechselnder Folge. Ein letztes Luftholen vor dem großen Sprung. „Nutzt das Dreieck!“, mahnt Kimmerle nochmals eindringlich. Die Funkuhr an der Wand schaltet auf 8.30 Uhr, „jetzt!“, ruft die Lehrerin, und gleichzeitig drehen alle die Prüfungsbögen um.

Von den 22 Schülern der Klasse 9b hat bis zum Schuljahres-Ende einer eine Lehrstelle bekommen.

* Name geändert

 

 

 
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Heinz Heiss, Stuttgart
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